T 0063/86 (Zustimmung zu Änderung) 10-08-1987
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1. Die Zulassung von Anspruchsänderungen im Beschwerdeverfahren gegen die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung ist nach Regel 86(3) Satz 2 EPÜ Ermessenssache.
2. Werden im Beschwerdeverfahren wesentliche Änderungen zu den Ansprüchen vorgeschlagen, die eine weitere Sachprüfung erforderlich machen, so ist die Sache an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, damit diese nach Ausübung ihres Ermessens nach Regel 86(3) Satz 2 EPÜ gegebenenfalls die Prüfung vornehmen kann.
3. Dass die Prüfungsabteilung der Beschwerde nicht nach Artikel 109 EPÜ abgeholfen hat, ist für die Ausübung des Ermessens nach Regel 86(3) Satz 2 EPÜ unerheblich.
Geänderte Ansprüche/zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht
Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 82 111 966.6 wurde am 23. Dezember 1982 eingereicht. Am 1. Oktober 1984 erließ die Prüfungsabteilung einen Bescheid, aus dem hervorging, daß alle 20 mit der Anmeldung eingereichten Ansprüche wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber zwei entgegengehaltenen älteren Patentschriften nicht gewährbar erschienen. Die Anmelderin wurde aufgefordert, einen neuen Anspruchssatz mit einem Hauptanspruch einzureichen, dessen kennzeichnender Teil sich vom Stand der Technik unterscheide und eine erfinderische Tätigkeit aufweise. Sie habe gemäß Regel 86 (3) Satz 1 EPÜ in jedem Falle das Recht, die Anmeldung bei ihrer Erwiderung auf den Bescheid zu ändern. Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin am 15. Januar 1985 einen neuen Satz mit 10 Ansprüchen ein und begründete, weshalb Anspruch 1 gegenüber den beiden Entgegenhaltungen eine erfinderische Tätigkeit aufweise.
Am 19. April 1985 stellte die Prüfungsabteilung in einem zweiten Bescheid fest, daß der neue Anspruch 1 gegenüber einer der beiden Entgegenhaltungen nicht neu sei und gegenüber der anderen keine erfinderische Tätigkeit aufweise. Sie stellte ferner fest, daß von den übrigen 9 neuen Ansprüchen 4 aus den bereits im ersten Bescheid genannten Gründen und die restlichen vor allem wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit nicht gewährbar seien. Der Bescheid schloß mit einer erneuten Aufforderung zur Einreichung eines neuen Satzes mit Ansprüchen, die die angegebenen Mängel nicht aufwiesen; diese Aufforderung stelle eine begrenzte Zustimmung im Sinne der Regel 86 (3) Satz 2 EPÜ dar. Daraufhin reichte die Beschwerdeführerin einen neuen Anspruch 1 ein, der die Ansprüche 2 und 3 des am 14. Januar 1985 eingereichten Anspruchssatzes enthielt, und erbot sich hilfsweise, den Anspruch 5 ebenfalls in den Anspruch 1 aufzunehmen.
Mit Entscheidung vom 5. November 1985 wies die Prüfungsabteilung die Anmeldung hauptsächlich aus den bereits im zweiten Bescheid genannten Gründen zurück.
II. Am 2. Januar 1986 legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein und entrichtete die entsprechende Gebühr. Am 10. Januar 1986 reichte sie eine Begründung zusammen mit einem neuen Anspruchssatz mit den Ansprüchen 1 bis 16 ein, die - wie sie ausführte - "alle bisherigen Ansprüche ersetzen" sollten. Der neue Anspruch 1 ist offensichtlich keine Kombination aus den zuvor eingereichten Ansprüchen. Die Beschwerdeführerin führt in ihrer Beschwerdebegründung mehrere Gegenargumente gegen die in der angefochtenen Entscheidung vorgebrachten Gründe an.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Die Beschwerdeführerin hat in der Beschwerdebegründung klar zu verstehen gegeben, daß sie an einem europäischen Patent mit den von der Prüfungsabteilung bereits geprüften und zurückgewiesenen Ansprüchen nicht mehr interessiert sei; sie wünsche vielmehr ein Patent mit einem geänderten Anspruchssatz. Die Zulassung solcher Änderungen ist jedoch im derzeitigen Prüfungsstadium nach Regel 86 (3) Satz 2 EPÜ Ermessenssache; dort heißt es nämlich: "Weitere Änderungen können nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden."
Ohne diese Zustimmung sind also weitere Änderungen nicht möglich, wenn der Anmelder die Gelegenheit versäumt hat, sie bei der Erwiderung auf den ersten Prüfungsbescheid vorzunehmen. Die Tatsache, daß Beschwerde eingelegt worden ist, gibt dem Anmelder daher nicht das Recht, die Anmeldung im Zuge des Beschwerdeverfahrens zu ändern. Regel 86 (3) Satz 2 EPÜ behält auch hier ihre Gültigkeit.
Sobald eine zulässige Beschwerde eingelegt worden ist, geht die Zuständigkeit für die Sache von der Prüfungsabteilung auf die Beschwerdekammer über, die "im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig [wird], das die angefochtene Entscheidung erlassen hat" (Art. 111 (1) EPÜ). Wenn jedoch, wie im vorliegenden Fall, zusammen mit der Beschwerdebegründung wesentliche Änderungen der Ansprüche eingereicht werden, so hat die Kammer ihrer Ansicht nach gute Gründe, in diesem Stadium das Ermessen nach Regel 86 (3) EPÜ in bezug auf die vorgeschlagenen Änderungen nicht auszuüben. Der Wortlaut der gesamten Regel 86 (3) EPÜ ist speziell auf die Prüfungsabteilung abgestellt. Bei kleineren Änderungen, die im Beschwerdeverfahren eingereicht werden, kann es angezeigt sein, daß die Beschwerdekammer das Ermessen der Prüfungsabteilung nach Regel 86 (3) EPÜ ausübt. Wenn jedoch wie hier wesentliche Änderungen vorgeschlagen werden, die eine weitere ausführliche Prüfung sowohl auf die formalen als auch auf die sachlichen Erfordernisse des EPÜ hin erforderlich machen, sollte diese Prüfung allenfalls von der Prüfungsabteilung in erster Instanz durchgeführt werden, und zwar nachdem diese von ihrem Ermessen nach Regel 86 (3) EPÜ selbst Gebrauch gemacht hat. Auf diese Weise bleibt dem Anmelder das Recht auf eine Beschwerde vor der zweiten Instanz erhalten, die sich sowohl auf die Ausübung des Ermessens nach Regel 86 (3) EPÜ als auch (bei einer Ermessensausübung zu seinen Gunsten) auf die formale Zulässigkeit und sachliche Gewährbarkeit der geänderten Ansprüche beziehen kann.
3. Im vorliegenden Fall hat die Prüfungsabteilung der Beschwerde nicht gemäß Artikel 109 EPÜ abgeholfen. Dieser Umstand ist jedoch für die Ausübung des Ermessens nach Regel 86 (3) EPÜ unerheblich.
4. Die Kammer hat unter diesen Umständen beschlossen, von ihrer Befugnis nach Artikel 111 (1) EPÜ Gebrauch zu machen und die Sache an die Prüfungsabteilung mit der Auflage zurückzuverweisen, zu prüfen und zu entscheiden,
i) ob die am 10. Januar zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten weiteren Änderungen der Ansprüche gemäß Regel 86 (3) EPÜ vorgenommen werden dürfen;
ii) wenn ja, ob die Ansprüche mit diesen Änderungen gewährbar sind.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Sache wird zur weiteren Entscheidung in bezug auf die am 10. Januar 1986 eingereichten Änderungen an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.