4.3. Erste Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen in der Beschwerdebegründung und Erwiderung – Artikel 12 (3) bis (6) VOBK 2020
4.3.7 Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen wäre – Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK 2020
In J 12/18 wandte die Juristische Beschwerdekammer die Kriterien von Art. 12 (6) VOBK 2020 auf der zweiten Stufe des Konvergenzansatzes an. Der Beschwerdeführer (Anmelder) machte erstmals in der mündlichen Verhandlung Ausführungen zum Vertrauensschutz. Die Juristische Beschwerdekammer übte ihr Ermessen nach Art. 12 (4) VOBK 2020 und Art. 12 (6) VOBK 2020 und Art. 13 (1) VOBK 2020 dahingehend aus, das neue Vorbringen nicht zuzulassen; der Beschwerdeführer hätte die Tatsachen, die die Grundlage für den geltend gemachten Vertrauensschutz bildeten, früher im Verfahren vorlegen können und müssen. Der Beschwerdeführer argumentierte, er habe sich auf eine im Parallelfall J 14/18 ergangene Mitteilung des EPA vom 10. August 2016 verlassen. Die Juristische Beschwerdekammer stellte jedoch fest, dass dem Beschwerdeführer, wenn er dem Inhalt dieser Mitteilung wirklich vertraut hätte, diese Tatsache vom Moment der Kenntnisnahme an bekannt gewesen wäre. Die Juristische Beschwerdekammer war ferner der Auffassung, dass der neue Einwand die Beurteilung mehrerer Fragen erfordern würde (kausaler Zusammenhang zwischen den fehlerhaften Informationen in einem anderen Fall und der Reaktion des Beschwerdeführers, Erfordernis des entsprechenden Nachweises, Angemessenheit der Reaktion des Beschwerdeführers) und dass dies die Verfahrensökonomie beeinträchtigen würde. Darüber hinaus würde der Einwand einen völlig neuen Aspekt einführen, auf den die Beurteilung und die Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht gerichtet waren. Die Juristische Beschwerdekammer unterstrich ferner, dass ein Beteiligter sein gesamtes Vorbringen bereits in der Beschwerdebegründung vorlegen muss (Art. 12 (3) VOBK 2020), wofür eine vollständige Vorbereitung unter Berücksichtigung aller verfügbaren maßgeblichen Dokumente erforderlich ist. Siehe auch den Parallelfall J 3/20.
In T 1188/16 gelangte die Kammer in Anwendung von Art. 13 (1) VOBK 2020 und Art. 12 (6) VOBK 2020 zu dem Schluss, dass der Antrag des Beschwerdeführers (Patentinhabers) im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorgelegt werden müssen. Spätestens während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hatte der Beschwerdeführer, der bereits Kenntnis von einem allgemeinen Einwand bezüglich einer Zwischenverallgemeinerung hatte, einen eindeutigen Hinweis darauf erhalten, welche Merkmale in dem Anspruch fehlten. Somit war er in der Lage, Anträge mit den weggelassenen Merkmalen einzureichen.
In T 81/20 wurden in der Beschwerdebegründung neue Einwände nach Art. 100 (c) EPÜ erhoben. Die Kammer war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer (Einsprechende) diese Einwände bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorlegen können und müssen. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer keine Umstände dargelegt hatte, die die Zulassung der neuen Einwände rechtfertigen würden (und die Kammer konnte keine erkennen). Angesichts dieser Erwägungen, der gebotenen Verfahrensökonomie und der Tatsache, dass diese Einwände prima facie die Aufrechterhaltung des Patents nicht gefährdeten, ließ die Kammer sie in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (2) VOBK 2020, Art. 12 (4) VOBK 2020 und Art. 12 (6) VOBK 2020 nicht zum Verfahren zu.
Auch in T 1456/20 kam die Kammer zu dem Schluss, dass Hilfsantrag 7 (der einem mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag entsprach) bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung vorzubringen gewesen wäre. Der Neuheitseinwand, auf dessen Überwindung die Änderung in Hilfsantrag 7 abzielte, war bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung behandelt worden. Der Patentinhaber hatte sich aber damals entschieden, den beanspruchten Gegenstand in eine bestimmte Richtung zu beschränken und damit bewusst auf die Prüfung eines Gegenstandes, der in Hilfsantrag 7 wieder eingeführt wurde, verzichtet. Die Kammer befand, dass die Wiedereinführung dieses Gegenstands dem in Art. 12 (2) VOBK 2020 normierten Zweck des Beschwerdeverfahrens widersprach. Umstände, die eine andere Beurteilung rechtfertigen würden, lagen nach Ansicht der Kammer nicht vor.
In T 847/20 befand die Kammer, dass die strittigen Hilfsanträge, die erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, im Verfahren vor der Einspruchsabteilung hätten vorgelegt werden müssen. Die Kammer konnte keine Umstände erkennen, die ihre Zulassung rechtfertigen würden. Die Kammer stellte fest, dass der Einwand, den der Beschwerdeführer (Patentinhaber) ausräumen wollte, bereits in der Einspruchsschrift enthalten war. Zwar änderte sich die Einschätzung der Einspruchsabteilung im Verlaufe des Verfahrens, doch hatte der Beschwerdeführer mehrfach Gelegenheit, auf diesen Einwand mit der Einreichung neuer Anträge einzugehen, und reichte während der mündlichen Verhandlung auch mehrere Anträge zu diesem Zweck ein. Die Kammer konnte keinen triftigen Grund erkennen, der die Einreichung weiterer Anträge zur Behandlung eben dieser Fragestellung in der Beschwerdephase rechtfertigen würde. Die allgemeine Erklärung, der Beschwerdeführer habe auf die Begründung der Einspruchsabteilung in deren schriftlicher Entscheidung eingehen wollen, wurde nicht als konkret genug angesehen, um die Zulassung der Anträge in der Beschwerdephase zu rechtfertigen.
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