6. Auslegung der Ansprüche
6.1. Allgemeine Grundsätze
Nach der ständigen Rechtsprechung sollte der Fachmann versuchen, durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird. Das Patent ist mit der Bereitschaft auszulegen, es zu verstehen, und nicht mit dem Willen, es misszuverstehen (s. unter anderem T 190/99, T 920/00, T 500/01, T 749/03, T 405/06, T 2480/11, T 2456/12, T 383/14, T 1477/15, T 448/16).
Laut T 2764/19 richten sich die Ansprüche einer europäischen Patentanmeldung üblicherweise an einen Leser mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Anmeldung (sowie Kenntnis der einschlägigen Terminologie). Da ein derart fachkundiger Leser in der Regel also keine weiteren Hinweise aus der Beschreibung benötigt, sind die Ansprüche im Wesentlichen nicht unter Zuhilfenahme der Beschreibung und der Zeichnungen, sondern für sich genommen zu lesen und auszulegen (s. z. B. T 223/05, T 1404/05, T 1127/16). Der fachkundige Leser sollte den Ansprüchen normalerweise die breiteste technisch sinnvolle Bedeutung beimessen. Siehe auch die weiteren Entscheidungen in diesem Kapitel unter II.A.6.3 "Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche".
In einer beträchtlichen Zahl von Entscheidungen wurde festgestellt, dass der Fachmann bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen sollte (s. unter anderem T 190/99, T 552/00, T 920/00, T 1023/02, T 749/03, T 859/03, T 1537/05, T 1204/06, T 681/15). In einigen Entscheidungen (T 1408/04, T 1582/08, T 493/09, T 5/14, T 2110/16) wurde betont, dies solle lediglich heißen, dass technisch unsinnige Auslegungen ausgeschlossen werden sollten. Für einen zum Verständnis bereiten Leser müsse ein breiter Ausdruck nicht enger ausgelegt werden (auch wenn sich die engere Auslegung wie im T 1408/04 zugrunde liegenden Fall auf eine auf dem betreffenden technischen Gebiet zwar sehr gebräuchliche, aber nicht ausschließlich verwendete Struktur beziehe).
In T 1771/06 befand die Kammer, dass ein Anspruch, der sich speziell und eindeutig auf den charakterisierenden Teil (GBSS-Genfragment in Antisense-Orientierung) des Genkonstrukts bezieht und in dem Versuch einer Verallgemeinerung die anderen für die Ausführung notwendigen Strukturelemente offenlässt ("mit einem Fragment ..., welches für ... kodiert, wobei das Fragment aus einer aus … SEQ ID Nr: ... ausgewählten Nukleotidsequenz besteht"), nicht ungewöhnlich formuliert sei. Das Argument des Beschwerdeführers, der Umfang des Anspruchs erstrecke sich auf Genkonstrukte, die zusätzlich zu den GBSS-Genfragmenten jegliche DNA umfassten, konnte die Kammer nicht akzeptieren. Der Fachmann werde sicherlich berücksichtigen, dass das Genkonstrukt zur Aufnahme des GBSS-DNA-Fragments in Kartoffelzellen und zu seiner Integration in das Genom diene. Entsprechend werde davon ausgegangen, dass das Genkonstrukt alle für diese Schritte notwendigen DNA-Elemente enthält.
In T 409/97 entschied die Kammer, dass eine fehlerhafte Angabe in der Beschreibungseinleitung kein geeignetes Hilfsmittel zur Auslegung des Anspruchs und zur Festlegung des Gegenstands, für den Schutz begehrt wird, darstelle, wenn diese Angabe dem tatsächlichen Inhalt dieser Druckschrift widerspreche.
Zwei Verfahren, die keine technischen Auswirkungen aufeinander haben, können kein mehrstufiges Gesamtverfahren bilden (d. h. kein "technisches Ganzes"), auch wenn sie in einem Anspruch sprachlich miteinander verknüpft werden (T 380/01).
Eine Voraussetzung für eine technisch sinnvolle Anspruchsauslegung ist, dass der Anspruch technisch konsistent ist: Sind zwei Merkmale jeweils für sich genommen klar, aber in Verbindung miteinander aus technischer Sicht inkonsistent, so kann ihre Kombination nicht klar sein und ebenso wenig der Anspruchsgegenstand (T 935/14).
In T 1513/12 hielt die Kammer fest, dass eine zwischen den Verfahrensbeteiligten einvernehmliche Auslegung eines Patentanspruchs für die Beschwerdekammer nicht als verbindlich anzusehen ist. Die Dispositionsmaxime ist nämlich nicht so zu verstehen, dass sich die Verfahrensbeteiligten eine Auslegung des Patents aussuchen könnten, die zwar für sie selbst zufriedenstellend, jedoch für an dem Verfahren Nichtbeteiligte von Bedeutung sein könnte.
In T 1603/13 erklärte die Kammer, dass Ansprüche nicht in einer Weise ausgelegt werden können, die im Widerspruch zu der erfinderischen Idee stehen würde, so wie sie in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart ist. Die Rechtsprechung zur Berichtigung von Fehlern auf der Grundlage des allgemeinen Fachwissens kann nicht auf Fälle ausgeweitet werden, bei denen in der Beschreibung absichtlich vom allgemeinen Fachwissen und insbesondere von allgemein akzeptierten physikalischen Gesetzen abgewichen wurde, um die Erfindung zu beschreiben, und bei denen folglich kein Fehler vorliegt.
Siehe auch Kapitel I.C.8.1.3 c) "Auslegung von Verfahrensansprüchen".
- T 1924/20
Catchword:
As to claim construction, see point 2.7 of the Reasons.
- T 1553/19
Catchword:
The normal rule of claim construction of reading a feature specified in a claim in its broadest technically meaningful sense corresponds to determining the broadest scope encompassed by the subject-matter being claimed according to a technically sensible reading. In the case of a feature defined in a positive manner, which imposes the presence of a specific element, this is effectively achieved by giving to the element in question its broadest technically sensible meaning. However, for a feature defined in a negative manner, which excludes the presence of a specific element, the broadest scope of the claim corresponds to the narrowest (i.e. most limited) technically sensible definition of the element to be excluded. (Reasons, point 5.7)
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache