6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Maßgebend für die Ansprüche sind Art. 84 EPÜ, der ihren Gegenstand regelt, und Art. 69 EPÜ, in dem es um ihre Funktion geht. Nach Art. 84 EPÜ geben die Ansprüche die Erfindung an, für die Schutz begehrt wird. Nach Art. 69 EPÜ bestimmen die Ansprüche durch eben diese Definition der Erfindung den Schutzbereich des Patents. Art. 69 EPÜ sieht ferner vor, dass die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind. Hier stellt sich nun die Frage, ob die Ansprüche, wie in Art. 69 EPÜ vorgesehen, nur dann anhand der Beschreibung und der Zeichnungen ausgelegt werden können, wenn es um die Ermittlung des Schutzbereichs geht, oder aber auch bei der Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen und des Klarheitsgebots.
In vielen Entscheidungen, wie z. B. T 23/86 (ABl. 1987, 316), T 16/87 (ABl. 1992, 212), T 327/87, T 89/89, T 121/89, T 430/89, T 476/89, T 544/89, T 565/89, T 952/90, T 439/92, T 458/96, T 717/98, T 1321/04, T 1433/05 und T 2145/13, haben die Kammern den Grundsatz aufgestellt und angewandt, dass die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind, wenn es darum geht, den Gegenstand eines Anspruchs zu ermitteln, insbesondere um dessen Neuheit und erfinderische Tätigkeit beurteilen zu können. Ebenso haben die Kammern in einer ganzen Reihe von Entscheidungen (s. unter anderem T 238/88, ABl. 1992, 709; T 416/88; T 194/89; T 264/89; T 472/89; T 456/91; T 606/91; T 860/93; T 287/97; T 250/00; T 505/04) zur Auslegung der Ansprüche die Beschreibung und die Zeichnungen herangezogen, um festzustellen, ob die Ansprüche im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 klar und knapp gefasst waren.
Jedoch wurden auch immer wieder die Grenzen der Auslegung im Lichte von Beschreibung und Zeichnungen betont (s. dieses Kapitel II.A.6.3.4). Eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung ist kein hinreichender Grund, die eindeutige linguistische Struktur eines Anspruchs zu ignorieren und ihn anders auszulegen (T 431/03) oder einem Anspruchsmerkmal, das als solches dem fachmännischen Leser eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelt, eine andere Bedeutung zu geben (T 1018/02, T 1395/07, T 711/14, T 1456/14, T 2769/17, T 169/20, T 821/20, T 42/22). In T 1023/02 wurde jedoch ein "unglücklich gewählter" Anspruchswortlaut ("Transkription" statt "Translation"), der aber im Widerspruch zur Beschreibung der Erfindung gestanden hätte, anders ausgelegt.
In T 197/10 erklärte die Kammer: Sind die Patentansprüche so deutlich und eindeutig abgefasst, dass der Fachmann sie problemlos verstehen kann, so besteht keine Veranlassung, die Beschreibung zur Interpretation der Patentansprüche heranzuziehen. Bei einer Diskrepanz zwischen den Patentansprüchen und der Beschreibung ist der eindeutige Anspruchswortlaut so auszulegen, wie ihn der Fachmann ohne Zuhilfenahme der Beschreibung verstehen würde. Somit sind bei einer Diskrepanz zwischen deutlich definierten Patentansprüchen und der Beschreibung solche Teile der Beschreibung, die in den Patentansprüchen keinen Niederschlag haben, grundsätzlich in der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit nicht zu berücksichtigen. Siehe auch T 1514/14 zur Prüfung der ausreichenden Offenbarung.
In T 2221/10 verwies die Kammer auf die ständige Rechtsprechung, wonach sich die Beschreibung als "Wörterbuch" des Patents zur Beurteilung der richtigen Bedeutung mehrdeutiger Begriffe in den Ansprüchen verwenden lässt (s. dieses Kapitel II.A.6.3.3). Unter Verweis auf T 197/10 erinnerte die Kammer allerdings auch an die Grenzen der Auslegung im Lichte von Beschreibung und Zeichnungen. Siehe auch T 2328/15 und T 1642/17.
In T 1924/20 stellte die Kammer fest, dass ein fachkundiger Leser eines Patentanspruchs die Ansprüche aus vielen Gründen im Wesentlichen für sich genommen auslegen würde (s. z. B. T 2764/19 und T 1127/16). Dem liegt zugrunde, dass der "Gegenstand des europäischen Patents" durch die Patentansprüche – und nur durch diese – definiert wird. Die Kammer erläuterte, dass die Beschreibung und die Zeichnungen jedoch typischerweise vom Spruchkörper zur Bestimmung des oben genannten "fachkundigen Lesers" und damit der Perspektive, aus der die Ansprüche ausgelegt werden, herangezogen werden. Dies bedeute, dass bei der Auslegung der Ansprüche die Beschreibung und die Zeichnungen nicht als eine Art Ersatz- oder Ergänzungsinstrument herangezogen werden können, um in einem Anspruch zum Vorteil des Patentinhabers Lücken zu schließen oder Unstimmigkeiten zu beheben. Ein solcher Verweis auf die Beschreibung und die Zeichnungen des Patentinhabers würde normalerweise nicht überzeugen.
In T 409/97 entschied die Kammer, dass eine fehlerhafte Angabe in der Beschreibungseinleitung, wonach ein Verfahren nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1 aus der Druckschrift D1 bekannt sei, kein geeignetes Hilfsmittel zur Auslegung des Anspruchs und zur Festlegung des Schutzgegenstands war, weil diese Angabe dem tatsächlichen Inhalt der Druckschrift D1 widersprach.
- T 447/22
Catchword:
1. On the limits of claim interpretation in the light of the description (see point 13 of the reasons). 2. In application of decision G 3/14, an objection under Article 84 EPC that a claim is not supported by the description is open to examination in opposition or opposition appeal proceedings only when, and then only to the extent that, the lack of support has been introduced by an amendment to the patent. It must thus be accepted that the removal of an inconsistency between the description and a claim amended in opposition or opposition appeal proceedings is not possible when the inconsistency previously existed in the patent as granted (see point 83 of the reasons).
- T 1628/21
Catchword:
With regard to the question of compatibility of certain principles of claim interpretation for the purposes of considering novelty or inventive step with Article 69 EPC, reference is made to Reasons 1.1.11 to 1.1.16. The principle of primacy of the claims seems to exclude the use of the description and drawings for limiting the claims if an interpretation of the claim in the light of common general knowledge already leads to a technically meaningful result. Similarly, the principle, established by case law, according to which "limiting features which are only present in the description and not in the claim cannot be read into a patent claim" is also fully compatible with Article 69 EPC and Article 1 of the Protocol.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”