1.3. Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
Jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) unterliegt dem in Art. 123 (2) EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot und darf daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 3/89, ABl. 1993,117; G 11/91, ABl. 1993, 125; G 2/10, ABl. 2012, 376, worin dieser Test als "Goldstandard" bezeichnet wird; für offenbarte Disclaimer bestätigt in G 1/16, ABl. 2018, A70; zu nicht offenbarten Disclaimern s. aber Kapitel II.E.1.7.2 c)). Zu prüfen ist, ob die Änderung dazu führt, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält (G 2/10).
Nach Ansicht der Kammer in T 1937/17 hat ein "technischer Beitrag" außer für die in G 1/93 (ABl. 1994, 541) erläuterten Zwecke keine Relevanz, wenn über die Zulässigkeit von Änderungen nach Art. 123 (2) EPÜ entschieden wird. Stattdessen ist der in G 2/10 formulierte Goldstandard das einzige anzuwendende Kriterium. Ebenso befand die Kammer in T 768/20, dass G 1/93 eine (auf Disclaimer) begrenzte Ausnahme von der allgemeinen – als "Goldstandard" bezeichneten – Regel für die Zulässigkeit von Änderungen darstellt. Auf Grundlage einer eingehenden Analyse der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer wies die Kammer das vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) vorgebrachte Argument zurück, dass der Goldstandard auf solche Änderungen beschränkt sei, die einen technischen Beitrag zur beanspruchten Erfindung leisten.
Wie der Goldstandard zeigt, ist aus der Sicht des Fachmanns zu prüfen, ob die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt sind (s. unten Kapitel II.E.1.3.2 "Sicht des Fachmanns").
Der Gegenstand muss zumindest implizit offenbart sein (T 860/00; s. auch G 2/10, ABl. 2012, 376), s. unten Kapitel II.E.1.3.3 "Implizite Offenbarung".
Die Kammern haben im Hinblick auf diverse, für verschiedene Änderungsfälle entwickelte Tests betont, dass diese nur ein Indiz dafür liefern sollten, ob eine Änderung mit Art. 123 (2) EPÜ in der Auslegung gemäß dem Goldstandard vereinbar sei. Sie könnten bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Änderung helfen, ersetzten aber nicht den Goldstandard und sollten zu keinem anderen Ergebnis führen als dieser. S. z. B. T 648/10, T 2561/11, T 46/15, T 1420/15, T 1472/15, T 553/15, T 85/16, T 1189/16 und T 437/17 im Hinblick auf den "Wesentlichkeitstest", T 1471/10 und T 1791/12 zur "Zwischenverallgemeinerung", T 1255/18 im Hinblick auf das "Zwei-Listen-Prinzip" und T 873/94, ABl. 1997, 456, T 60/03 sowie T 150/07 im Hinblick auf den "Neuheitstest"; zu beachten ist allerdings, dass für nicht offenbarte Disclaimer besondere Kriterien gelten. Näheres zu den Tests enthalten die Kapitel II.E.1.4.4 "Wesentlichkeits- oder Dreipunkte-Test", II.E.1.9. "Zwischenverallgemeinerungen", II.E.1.3.7 "Der 'Neuheitstest'" und II.E.1.7. "Disclaimer".
In T 1121/17 stellte die Kammer fest, dass es für die Zwecke des Art. 123 (2) EPÜ entscheidend ist, ob die Änderungen im Rahmen dessen bleiben, was der Fachmann der Gesamtheit der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann ("Goldstandard" gemäß G 2/10, ABl. 2012, 376). Eine den Schutzbereich des ursprünglich eingereichten Anspruchs erweiternde Änderung, z. B. durch Verallgemeinerung, sodass bestimmte Materialien in Mengen vorliegen, die ursprünglich aus dem Anspruch ausgeschlossen waren, verstößt dann nicht gegen Art. 123 (2) EPÜ, wenn der geänderte Gegenstand aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig hervorgeht.
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache