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T 1411/19 28-07-2022
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Verarbeitungsmaschine mit wenigstens einer Druckeinheit
Neuheit - Hauptantrag (nein), Hilfsantrag 1 (ja)
Zurückverweisung (ja)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (ja)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das Europäische Patent Nr. 2 388 141 (im Folgenden das "Patent" genannt) zurückzuweisen.
II. Von den bereits im Einspruchsverfahren vorgelegten Druckschriften sind die Folgenden für das Beschwerdeverfahren von Relevanz:
D1: DE 10 2007 017 097 A1
D2: DE 600 08 196 T2
III. Am 13. Mai 2022 erließ die Kammer eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020; ABl. EPA 2021, A35), in der sie unter anderem ihre vorläufige Einschätzung mitteilte, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 und des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 nicht neu gegenüber der Druckschrift D1 sei.
IV. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 28. Juli 2022 wie von den Beteiligten übereinstimmend beantragt als Videokonferenz statt.
V. Schlussanträge
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag), hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geänderter Fassung basierend auf einem der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5 aufrechtzuerhalten. Zudem beantragte sie, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.
VI. Anspruchsfassungen
Anspruch 1 des erteilten Patents (entsprechend dem Hauptantrag) lautet wie folgt (die von der Kammer verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern eingefügt):
[A] Verarbeitungsmaschine mit wenigstens einer Druckeinheit,
[B] umfassend zumindest drei antreibbare Zylinder (1, 2 3),
[C1] wobei ein erster Zylinder (1) eine ortsfeste Achsposition (1.1) aufweist
[C2] und in dieser Achsposition (1.1) auswechselbar oder austauschbar in je einer ersten Lagerung (10),
[C3] welche an je einem Seitengestell der Druckeinheit angeordnet ist, gelagert ist,
[D] wobei je eine Schwinge (4) in einem Drehgelenk (5) endseitig gelagert ist und
[E] am anderen Ende jeder Schwinge (4) eine jeweils zweite Lagerung (11) zur Aufnahme eines zweiten Zylinders der Druckeinheit angeordnet ist und
[F] die jeweilige Schwinge (4) mit Mitteln zum Betätigen und Positionieren der Schwinge (4) um den Drehpunkt des Drehgelenks (5) gekoppelt ist,
[G1] wobei jede, [G2] im Drehgelenk (5) an je einem Seitengestell der Druckeinheit gelagerte Schwinge (4) [G1 - Fortsetzung] synchron oder separat betätigt oder positioniert werden kann,
[H] wobei jeweils eine dritte Lagerung (12) für die Aufnahme eines dritten Zylinders (3) exzentrisch bewegbar, gestellseitig in jeweils einer Exzenterlagerung (17) angeordnet ist,
[I] und wobei jede dritte Lagerung (12) jeweils mit Mitteln zum Betätigen und Positionieren gekoppelt ist,
[J] wobei der dritte Zylinder (3) als Gegendruckzylinder (3) ausgebildet ist.
Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von dem erteilten Anspruch 1 dadurch, dass Merkmal G1 ausgetauscht wurde durch das folgende Merkmal:
[G1'] wobei jede ... Schwinge (4) separat betätigt oder positioniert werden kann.
VII. Der für die Entscheidung relevante Vortrag der Parteien lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag
i) Beschwerdeführerin
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei nicht neu gegenüber der Druckschrift D1. Der Begriff "Seitengestell" bzw. "gestellseitig" (siehe Merkmale C3, G2 und H) müsse so interpretiert werden, dass er sich auf eine beliebige Struktur der Druckeinheit beziehe, die an einer Seite der Druckeinheit angeordnet sei und als Rahmen wirke, an dem die erste Lagerung für den ersten Zylinder, das Drehgelenk für die jeweilige Schwinge, die den zweiten Zylinder trage, und die dritte Lagerung für den dritten Zylinder angeordnet seien. Das Seitengestell müsse weder einteilig noch als ein "festes" Gestell ausgebildet sein. Die Druckschrift D1 offenbare Seitengestelle mit einem festen Teil 8 und einem austauschbaren Teil 42. Gemäß den Absätzen [0052] und [0053] der Druckschrift D1 seien die Lagerplatten 42 antriebsseitig bzw. bedienseitig und somit seitlich angeordnet. Die Merkmale C3, G2 bzw. H seien beispielsweise im Hinblick auf Absatz [0053] und die Figuren 9 bis 16 der Druckschrift D1 offenbart. Absatz [0062] der Druckschrift D1 offenbare darüber hinaus eine Ausgestaltung, bei der das Zylinder-Wechselsystem in den einzelnen Druckwerken fest, das heißt, nicht als Kassette, auswechselbar angeordnet sei.
Alternativ könne aber auch das Offset-Druckzylinder-Wechselsystem 9 allein als Druckeinheit angesehen werden, wobei die Lagerplatten 42 Seitengestelle dieser Druckeinheit darstellten. Weder aus Anspruch 1 noch aus dem Patent insgesamt gehe hervor, dass die Druckeinheit fest und nicht etwa austauschbar ausgebildet sein müsse. Das Argument der Beschwerdegegnerin, eine Druckeinheit müsse als zwingendes Merkmal ein Farbauftragsmittel umfassen, sei erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebracht worden. Es sei somit verspätet und nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Dass die Druckeinheit zwingend ein Farbauftragsmittel umfassen müsse, sei auch weder durch das Merkmal A des Anspruchs 1 noch durch den Begriff "Druckeinheit" impliziert.
Merkmal G1 beziehe sich nicht auf die in Merkmal F definierten Mittel zum Betätigen und Positionieren der Schwinge. Das in Merkmal G1 definierte Betätigen oder Positionieren werde daher nicht zwangsläufig durch die in Merkmal F genannten Mittel bewirkt. Merkmal G1 verlange auch nicht, dass die Schwingen sowohl synchron als auch separat betätigt und positioniert werden können. Es genüge beispielweise eine synchrone Betätigung oder Positionierung. Eine solche Auslegung stehe im Einklang mit der in Absatz [0019] des Streitpatents beschriebenen Ausgestaltung. In der Druckschrift D1 sei ein synchrones Betätigen offenbart, da die Schwenkhebel 47, 57 drehsteif miteinander gekuppelt seien (siehe Absatz [0054]).
ii) Beschwerdegegnerin
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 sei neu gegenüber der Druckschrift D1, da diese nicht die Merkmale C3, G1, G2 und H des erteilten Anspruchs 1 offenbare.
Für den Fachmann ergebe sich hinsichtlich des Merkmals A des Anspruchs 1 implizit, dass die Druckeinheit Farbauftragsmittel aufweisen müsse. Derartige Farbauftragsmittel seien in dem Wechselsystem 9 der Druckschrift D1 nicht vorhanden, so dass dieses auch keine Druckeinheit im Sinne des Anspruchs 1 sei. Vielmehr sei das Druckwerk 1 der Druckschrift D1 mit einer Druckeinheit vergleichbar. Die Lagerplatten 42 des Offset-Druckzylinder-Kassetteneinschubsystems 9 der Druckschrift D1 stellten aber kein Seitengestell des Druckwerks 1 dar, da das Kassetteneinschubsystem 9 mit den Lagerplatten 42 in das Gestell 8 eingesetzt werde. Es sei nicht unmittelbar und eindeutig offenbart, dass eine feste Lagerung, eine Schwinge und eine Exzenterlagerung direkt in dem Gestell 8 angeordnet seien. In Absatz [0062] der Druckschrift D1 sei nicht klar, wo genau die Lagerungen seien und wo die Schwenkhebel angebracht seien. Die Merkmale C3, G2 und H seien daher nicht in der Druckschrift D1 offenbart.
Auch sei in der Druckschrift D1 keine separate Betätigung der Schwenkhebel 47, 57 offenbart, wie es Merkmal G1 verlange. Die Druckschrift D1 offenbare nur, dass die Schwenkhebel 47, 57 fest auf einer einzigen Welle montiert seien. Mit Hinblick auf Merkmal F verstehe der Fachmann das Merkmal G1 aber so, dass die Mittel zum Betätigen und Positionieren der Schwinge die jeweilige Schwinge sowohl synchron als auch separat betätigen und positionieren können. Wenn der Schwenkhebel 47 in Absatz [0060] der Druckschrift D1 ausgekoppelt sei, sei er nicht mit der Welle und damit den Mitteln zum Betätigen und Positionieren gekoppelt, wie in Merkmal F verlangt. Wenn die beiden Schwenkhebel 47, 57 hingegen mit der Welle gekoppelt seien, seien sie nicht separat positionierbar. Zwar sei in der Druckschrift D1 eine synchrone Betätigung der Schwenkhebel offenbart, aber keine separate Betätigung.
b) Hilfsantrag 1: Neuheit
i) Beschwerdeführerin
Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 sei nicht neu gegenüber der Druckschrift D1. Gemäß Absatz [0019] des Streitpatents reiche es hinsichtlich Merkmal G1'aus, wenn nur eine der Schwingen bewegt würde. In Absatz [0060] der Druckschrift D1 sei eine derartige Ausgestaltung offenbart, bei welcher der Schwenkhebel 47 separat bewegt würde. In Merkmal G1' gehe es auch nicht um eine separate Bewegung, sondern um ein ein separates Positionieren. Es genüge somit, dass die Schwingen separate Positionen haben. Die Schwenkhebel 47, 57 der Druckschrift D1 bewegten sich zunächst gemeinsam. Dann werde der Schwenkhebel 47 ausgekoppelt und separat bewegt. Die Positionen der Schwenkhebel 47, 57 seien am Ende unterschiedlich.
Der Fachmann verstehe Absatz [0054] der Druckschrift D1 darüber hinaus so, dass Aktuatoren auf beiden Seiten des Gummituchzylinders vorhanden seien, damit ein gleichmäßiger Anpressdruck erreicht würde.
ii) Beschwerdegegnerin
Der Druckschrift D1 sei nicht zu entnehmen, dass die Schwenkhebel 47, 57 separat betätigt oder positioniert würden, wie es Merkmal G1' verlange. Es sei nur ein Aktuator 59 für die Bewegung eines der Schwenkhebel vorgesehen, während der andere Schwenkhebel über eine Welle bewegt würde. Ein Ankoppeln der Schwenkhebel 47, 57 an unterschiedliche Aktuatoren sei weder in der Druckschrift D1 offenbart noch technisch sinnvoll. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 sei daher neu gegenüber der Druckschrift D1.
c) Hilfsantrag 1: Erfinderische Tätigkeit - Zulassung eines neuen Einwands; Zurückverweisung
i) Beschwerdeführerin
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 beruhe angesichts einer Kombination der Druckschriften D1 und D2 nicht auf eine erfinderischen Tätigkeit. Ausgehend von der Druckschrift D1 sei dem Fachmann das Merkmal G1' durch die Druckschrift D2 nahegelegt worden. Dieser Einwand werde zwar erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben. Er sei aber in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Es lägen außergewöhnliche Umstände vor, da die Kammer in der mündlichen Vorhandlung von ihrer, in der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 dargelegten vorläufigen Einschätzung bezüglich des Hilfsantrags 1 abgewichen sei. Weitere Einwände gegen den Hilfsantrag 1, einschließlich Einwänden gemäß Artikel 83 EPÜ, bestünden nicht.
Es bestünden auch keine Einwände gegen eine Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung.
ii) Beschwerdegegnerin
Der von der Beschwerdeführerin erstmals in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von der Druckschrift D1 in Kombination mit der Druckschrift D2 sei nicht in das Verfahren zuzulassen, weil er verspätet sei. Der mit diesem Einwand angegriffene Hilfsantrag 1 sei bereits mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht worden. Sollte der Einwand in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden, werde hilfsweise die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung beantragt.
1. Hauptantrag: Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht neu gegenüber der Druckschrift D1. Zwischen den Beteiligten ist jedoch strittig, ob die Druckschrift D1 die Merkmale C3, G1, G2 und H offenbart.
Uneinigkeit besteht insbesondere darüber, ob die Lagerplatten 42 des Offset-Druckzylinder-Einschubsystems 9 (siehe beispielsweise Absätze [0050], [0052], [0053] und Figuren 9 bis 11 der Druckschrift D1) als Seitengestell einer Druckeinheit im Sinne der Merkmale C3 und G2 aufgefasst werden kann.
Laut dem zweiten Eintrag im Duden ist ein "Gestell" ein "Unterbau, fester Rahmen (z. B. einer Maschine, eines Apparats)". Diese Definition trifft auf die Lagerplatten 42 zu, da diese einen festen Rahmen zur Lagerung des Plattenzylinders 16, des Gummituchzylinders 17 und des Gegendruckzylinders 18 bilden (siehe Absatz [0053] der Druckschrift D1). Es handelt sich bei den Lagerplatten 42 auch um Seitengestelle, da die Lagerplatten seitlich zu den Zylindern angeordnet sind (siehe die von der Beschwerdeführerin zitierten Absätze [0052] und [0053] der Druckschrift D1). Ferner sind die Lagerplatten 42 auch Bestandteile der Druckeinheit, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Druckeinheit in der Druckschrift D1 lediglich durch das Offset-Druckzylinder-Einschubsystems 9 oder durch das, das Offset-Druckzylinder-Einschubsystem 9 umfassende Druckwerk 1 gebildet ist. Auf die Frage, ob eine Druckeinheit zwingend Farbauftragsmittel aufweisen muss und das Einschubsystem 9 für sich genommen daher möglicherweise keine Druckeinheit ist, kommt es somit im Ergebnis nicht an. Dies gilt auch für die Frage, wie die von den Beteiligten diskutierte Stelle in Absatz [0062] der Druckschrift D1 zu interpretieren ist.
Dieser Ansicht steht auch nicht entgegen, dass das Offset-Druckzylinder-Einschubsystem 9 als Kassetteneinschubsystem (siehe Absätze [0036] und [0048] der Druckschrift D1) ausgebildet ist. Eine derartige Ausgestaltung, bei der die Seitengestelle (zusammen mit den Zylindern) auswechselbar bzw. abnehmbar vorgesehen sind, ist weder durch den Begriff "Seitengestell" selbst noch durch die übrigen Merkmale des Anspruchs 1 ausgeschlossen.
Die Einspruchsabteilung hat in der angefochtenen Entscheidung die Auffassung vertreten, unter dem Ausdruck "Seitengestell" sei stets eine feste Seitenwand der Druckmaschine zu verstehen, welche dabei jeweils an beiden axialen Enden der beanspruchten drei Zylinder angeordnet sei (siehe Punkt 2.2 der Entscheidungsgründe). Sie verweist dabei auf die Absätze [0003], [0012] und [0021] der Patentschrift.
Dieser Auffassung schließt sich die Kammer nicht an. Ungeachtet der Frage, was unter einer "festen" Seitenwand zu verstehen ist, bezieht sich Absatz [0003] der Patentschrift nicht auf ein allgemeines fachmännisches Verständnis des Begriffs "Seitengestell", sondern beschreibt einen konkreten (nämlich den vermeintlich aus der Druckschrift US 3,611,924 A bekannten) Stand der Technik. Auch die Absätze [0012] und [0021] geben keine, dem Fachmann aufgrund seines Fachwissens allgemein bekannte Definition des Begriffs "Seitengestell" an. Sie beschreiben vielmehr eine konkrete Ausführungsform.
Die Merkmale C3, G2 und H sind daher in der Druckschrift D1 offenbart.
Die Beschwerdegegnerin führt ferner aus, dass die Druckschrift D1 keine unabhängige Betätigung der Schwingen offenbare, wie sie aus ihrer Sicht in Merkmal G1 verlangt werde.
Merkmal G1 nennt allerdings zwei Alternativen, nämlich dass "jede ... Schwinge (4) synchron oder separat betätigt oder positioniert werden kann" (Unterstreichung durch die Kammer). Merkmal G1 verlangt somit nicht, dass jede Schwinge sowohl synchron als auch separat betätigt und positioniert werden kann. Dies folgt auch nicht aus Merkmal F. Hinsichtlich des Merkmals G1 genügt vielmehr, dass jede der Schwingen synchron positioniert oder betätigt werden kann. Eine solche Ausgestaltung ist unstrittig in der Druckschrift D1 offenbart (siehe beispielsweise Absatz [0054]: "Die parallelen Schwenkhebel 47, 57 lassen sich nur parallel bewegen, da sie mittels einer Welle 48 drehsteif miteinander gekuppelt sind.") Auf die Offenbarung der zweiten Alternative des Merkmals G1 ("separat") kommt es somit im Ergebnis nicht an.
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist daher nicht neu gegenüber der Druckschrift D1 (Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ).
2. Hilfsantrag 1
2.1 Neuheit
Die Beschwerdeführerin trägt vor, der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 sei nicht neu gegenüber der Druckschrift D1.
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich vom erteilten Anspruch 1 dadurch, dass er statt des Merkmals G1 das Merkmal G1' umfasst. Die Beschwerdeführerin sieht dieses Merkmal im Hinblick auf Absatz [0060] der Druckschrift D1 offenbart.
Durch die in Absatz [0060] beschriebene schwenkbare und axial verschiebbare Anordnung des Schwenkhebels 47 kann dieser im Sinne des Merkmals G1' separat (bezüglich des anderen Schwenkhebels 57) positioniert werden.
Allerdings verlangt Merkmal G1' nicht, dass nur eine der Schwingen, sondern dass jede Schwinge separat betätigt oder positioniert werden kann.
Der von der Beschwerdeführerin zitierte Absatz [0019] des Streitpatents steht nicht im Widerspruch zu dieser Anspruchsauslegung. So ist das dort beschriebene Vorgehen zum Austauschen bzw. Auswechseln eines Übertragungszylinders bzw. einer Hülse auch dann möglich, wenn jede der Schwingen separat betätigt oder positioniert werden kann, wie in Merkmal G1' definiert.
Im Hinblick auf Merkmal G1'genügt es auch nicht, dass die Schwingen unterschiedliche (End-)Positionen aufweisen können. Vielmehr bezieht sich der Begriff "separat" auf einen Vorgang ("... betätigt oder positioniert werden kann", Unterstreichung durch die Kammer) und nicht auf einen Zustand (im Sinne von "positioniert sein kann").
Hinsichtlich der Druckschrift D1 genügt es in Bezug auf das Merkmal G1' somit nicht, dass lediglich der Schwenkhebel 47 separat betätigt oder positioniert werden kann und damit eine relative Rotation der Schwenkhebel 47, 57 möglich ist. Vielmehr würde das Merkmal G1' im Hinblick auf die von der Beschwerdeführerin vorgetragene Interpretation der Druckschrift D1 erfordern, dass auch der von ihr als Schwinge identifizierte Schwenkhebel 57 separat betätigt oder positioniert werden kann. Dies ist jedoch in der Druckschrift D1 nicht offenbart.
Absatz [0054] der Druckschrift D1 ist nicht unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, dass Aktuatoren auf beiden Seiten des Gummituchzylinders vorhanden sind. Die Beschwerdeführerin hat auch nicht überzeugend aufgezeigt, dass zwingend Aktuatoren auf beiden Seiten des Gummituchzylinders vorhanden sein müssten, um einen gleichmäßigen Anpressdruck zu erreichen, zumal die Schwenkhebel laut Absatz [0054] drehsteif miteinander gekuppelt sind. Dass Aktuatoren auf beiden Seiten des Gummituchzylinders vorhanden sind, ist der Druckschrift D1 weder explizit noch implizit zu entnehmen.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 ist neu gegenüber der Druckschrift D1. Weitere Neuheitseinwände sind bezüglich des Hilfsantrags 1 nicht erhoben worden.
2.2 Erfinderische Tätigkeit - Zulassung eines neuen Einwands
Es ist zwischen den Beteiligten unstrittig, dass der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit angesichts einer Kombination der Druckschriften D1 und D2 bezüglich des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben wurde. Zuvor wurde zwar von der Beschwerdeführerin ein Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit angesichts dieser Druckschriftenkombination bezüglich des Gegenstands des erteilten Anspruchs 4 bzw. des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 4 und 5 erhoben (siehe beispielsweise 2.6, 3.4.2 und 3.5.2 des Schreibens der Beschwerdeführerin vom 31. August 2020). In der mündlichen Verhandlung trug die Beschwerdeführerin jedoch unter anderem erstmals vor, dass dem Fachmann durch die Druckschrift D2 nahegelegt worden sei, das Merkmal G1' bei der in der Druckschrift D1 offenbarten Druckmaschine vorzusehen. Der in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand geht somit über den Vortrag im schriftlichen Verfahren deutlich hinaus.
Maßgebend für die oben genannte Schlussfolgerung der Kammer hinsichtlich der Neuheit war die geänderte Auslegung des Anspruchs 1 auf der Grundlage der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Argumente der Beteiligten. Die oben in Punkt 2.1 dargelegte Anspruchsauslegung, wonach Merkmal G1' verlangt, dass jede der Schwingen separat betätigt oder positioniert werden kann, und dass sich der Begriff "separat" nicht auf die jeweilige Endposition der Schwingen, sondern auf den Vorgang des Positionierens bezieht, ist erstmals in der mündlichen Verhandlung genannt worden. Dabei ist auch erstmals diskutiert worden, dass eine relative Rotation der Schwenkhebel 47, 57 in der Druckschrift D1, wie sie laut Punkt 3.1.1 des Schreibens der Beschwerdeführerin vom 31. August 2020 in Absatz [0060] der Druckschrift D1 offenbart sei, für sich genommen nicht das Merkmal G1' des Anspruchs 1 vorwegnimmt. Diese Gesichtspunkte waren zuvor in den schriftlichen Eingaben der Beteiligten hinsichtlich der Neuheit des vorliegenden Anspruchs nicht vorgebracht worden. Insbesondere ist während der mündlichen Verhandlung erstmals die Funktionsweise des Schwenkhebels 57 in der Druckschrift D1 in den Vordergrund gerückt, die im bisherigen Verfahren nicht thematisiert worden war.
Die Kammer ist der Ansicht, dass angesichts dieser neuen rechtlichen und sachlichen Lage außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 vorliegen, die die Zulassung des neuen Einwands aus Gründen der Verfahrensfairness rechtfertigen.
Vor diesem Hintergrund übte die Kammer ihr Ermessen dahingehend aus, dass sie den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von der Druckschrift D1 in Kombination mit der Druckschrift D2 in das Beschwerdeverfahren zuließ (Artikel 13 (2) VOBK 2020).
3. Zurückverweisung
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen. Die Beschwerdeführerin erklärte, keine Einwände gegen die Zurückverweisung zu haben.
Im Einspruchsverfahren sind weder der Hilfsantrag 1 noch der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber einer Kombination der Druckschriften D1 und D2 diskutiert worden. Der Fokus der Neuheitsdiskussion bezüglich des erteilten Anspruchs 1 lag im erstinstanzlichen Verfahren ferner auf den das Seitengestell betreffenden Merkmalen C3, G2 und H (siehe Punkt 3.2.5 der Entscheidungsgründe). Bei dem oben genannten Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit steht nunmehr vor allem das Merkmal G1' im Vordergrund. Gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren sind daher deutlich andere Fragestellungen zu diskutieren. Es sprechen somit besondere Gründe für eine Zurückverweisung. Bei dieser Schlussfolgerung berücksichtigte die Kammer außerdem die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin keine weiteren Einwände der mangelnden erfinderischen Tätigkeit oder Einwände gemäß Artikel 83 EPÜ gegen den Hilfsantrag 1 erhoben hatte.
Bei dieser Sachlage entschied die Kammer, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen (Artikel 111 (1) 2. Satz 2. Alternative EPÜ, Artikel 11 VOBK 2020).
4. Ergebnis
Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) i.V.m 54 EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung entgegen, so dass die angefochtene Entscheidung aufzuheben war. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 ist ferner neu. Der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit angesichts einer Kombination der Druckschriften D1 und D2 bezüglich des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 wurde in das Beschwerdeverfahren zugelassen. Es sprechen besondere Gründe dafür, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.