T 2627/19 19-07-2022
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SPIEGELERSATZVORRICHTUNG UND FAHRZEUG
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
I. Die Einsprechende legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch gegen das Streitpatent zurückzuweisen.
II. Die Einspruchsabteilung hatte entscheiden, dass der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung neu ist gegenüber den Dokumenten
KBS5 DE 20 2011 005 102 U1,
KBS6 Regelung Nr. 46 der Wirtschaftskommission
der Vereinten Nationen für Europa -
Einheitliche Bedingungen für die Genehmigung
von Einrichtungen für indirekte Sicht und von
Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Anbringung
solcher Einrichtungen,
KBS7 DE 10 2011 010 624 A1 und
KBS8 WO 2012/107238 A1.
Zudem hatte die Einspruchsabteilung entschieden, dass der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung erfinderisch ist gegenüber einer Kombination des Dokuments
KBS9 DE 10 2010 026 226 A1
mit einem der Dokumente
KBS10 US 2012/0062743 A1,
KBS11 US 2012/0327238 A1, oder
KBS12 EP 1 158 473 A2,
sowie gegenüber einer Kombination von KBS7 mit dem Fachwissen, und KBS5 mit KBS7.
III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
a) Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.
b) Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (d. h. die Aufrechterhaltung des Streitpatents in erteilter Fassung) als Hauptantrag. Hilfsweise beantragte sie, das Patent in geänderter Fassung auf Basis eines der mit Schreiben vom 4. Februar 2020 eingereichten Hilfsanträge 1 bis 6 aufrechtzuerhalten.
IV. Der unabhängige Anspruch gemäß Hauptantrag (Patent wie erteilt) hat den folgenden Wortlaut:
"Spiegelersatzvorrichtung (1) für ein Fahrzeug (2),
mit mindestens einer Kamera (3-0 - 3-3), welche dazu ausgebildet ist, zumindest einen Teil einer Umgebung des Fahrzeugs (2) zu erfassen und ein entsprechendes Bildsignal (4) bereitzustellen;
mit einer Bildverarbeitungseinrichtung (5), welche mit der Kamera (3-0 - 3-3) gekoppelt ist und dazu ausgebildet ist, das Bildsignal der mindestens einen Kamera (3-0 - 3-3) zu verarbeiten und ein verarbeitetes Bildsignal (6) auszugeben; und
mit mindestens einer Anzeigeeinrichtung (7-0 - 7-3), welche dazu ausgebildet ist, das verarbeitete Bildsignal (6) darzustellen;
wobei die Bildverarbeitungseinrichtung (5) eine Auswahleinrichtung (14) aufweist, welche dazu ausgebildet ist, aus dem Bildsignal (4) einen Bildausschnitt (15-1 - 15-2) auszuwählen und den ausgewählten Bildausschnitt (15-1 - 15-2) als das verarbeitete Bildsignal (6) auszugeben;
wobei die Auswahleinrichtung (14) dazu ausgebildet ist, bei einer Vorwärtsfahrt des Fahrzeugs (2) einen Bildausschnitt (15-1 - 15-2) auszuwählen, welcher in etwa dem theoretisch durch einen Rückspiegel und/oder Seitenspiegel in dem Fahrzeug (2) dargestellten Bildausschnitt (15-1 - 15-2) entspricht;
wobei die Auswahleinrichtung (14) dazu ausgebildet ist, bei einer Rückwärtsfahrt des Fahrzeugs (2) mit einer Geschwindigkeit, die unter einem ersten Geschwindigkeitsschwellwert liegt, einen Bildausschnitt (15-1 - 15-2) auszuwählen und/oder zu markieren, der den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs (2) zeigt."
V. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sei nicht neu gegenüber jedem der Dokumente KBS5 - KBS8.
Dabei sei der Begriff "Geschwindigkeitsschwellwert" als relativer, nur theoretischer Begriff anzusehen und müsse so wenig restriktiv wie möglich ausgelegt werden. Letztlich beschränke er im vorliegenden Fall den beanspruchten Gegenstand gar nicht, da der Geschwindigkeitsschwellwert auch der minimal möglichen Rückwärtsgeschwindigkeit entsprechen könne (so dass die Bedingung "Geschwindigkeit unter dem Geschwindigkeitsschwellwert" nie eintreten könne), oder alternativ der Geschwindigkeits-schwellwert der maximal möglichen Rückwärts-geschwindigkeit entsprechen könne (so dass die Bedingung immer zuträfe).
Zudem aber nenne der Anspruch auch nicht, was bei einer Überschreitung des Geschwindigkeitsschwell-wertes passiere, so dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass über und unterhalb des Geschwindigkeitsschwellwertes die Spiegelersatz-vorrichtung genau das gleiche täte.
In KBS5 würde bei einer Rückwärtsfahrt der Bildausschnitt immer auf das hintere Rad gerichtet und somit auch auf den das Fahrzeug umgebenden Boden. Man könne nun einen Geschwindigkeitsschwellwert beliebig wählen, so dass unterhalb dieses Schwellwertes der Bildausschnitt wie gewünscht von der Auswahleinrichtung gewählt werde.
Analog zeige auch jedes der Dokumente KBS6 - KBS8 eine entsprechende Wahl des Bildausschnitts durch die Auswahleinrichtung. Auch hier könne ein Schwellwert beliebig gewählt werden, so dass unterhalb des Schwellwert ein auf den Boden im Bereich des Fahrzeugs gerichteter Bildausschnitt angezeigt werde.
Richtig sei allerdings, dass die Auswahlein-richtungen gemäß KBS5 bis KBS8 keinen Geschwindigkeitsschwellwert aufwiesen, der in irgendeiner Form technisch implementiert - etwa als Zahlenwert in einer Speicherzelle abgespeichert - sei.
b) Zumindest aber sei der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht erfinderisch gegenüber einer Kombination von KBS7 mit dem Fachwissen, alternativ gegenüber einer Kombination von KBS5 mit KBS7 oder einer Kombination von KBS9 mit einem der Dokumente KBS10, KBS11 oder KBS12.
i) Würde man der Auffassung der Einspruchsabteilung zu KBS7 folgen, würde KBS7 lediglich nicht zeigen, dass bei einer Rückwärtsfahrt in Abhängigkeit der Geschwindigkeit verschiedene Bildausschnitte in der Anzeigevorrichtung angezeigt würden. Nachdem KBS7 dies bereits für eine Vorwärtsfahrt in Absatz [0048] offenbare, würde der Fachmann dies auch in Rückwärtsfahrt implementieren.
ii) Entsprechend unterscheide sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von KBS5 auch allenfalls dadurch, dass bei verschiedenen Rückwärtsfahrgeschwindigkeiten unterschiedliche Bildausschnitte angezeigt würden. Dies wäre analog zur vorstehenden Argumentationslinie erneut aber nicht erfinderisch, da durch Absatz [0048] der KBS7 nahegelegt.
iii) KBS9 würde erneut lediglich nicht offenbaren, dass unterschiedliche Bildausschnitte bei unterschiedlichen Rückwärtsfahrgeschwindigkeiten angezeigt würden.
Die Anzeige des Bereichs hinter dem Fahrzeug sei jedoch durch Absatz [0028] der KBS10 nahegelegt, die Wahl unterschiedlicher Ausschnitte bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten durch Absatz [0077], sowie das Markieren gefährlicher Bereiche durch Absatz [0040].
Analog lege auch KBS11 das Markieren bestimmter Bereiche in Absatz [0026] und [0030] nahe, wobei nach Absatz [0057] bzw. [0107] hierzu der Bildausschnitt auf den Bereich hinter dem Fahrzeug beschränkt werde. Dies erfolge in Abhängigkeit der Geschwindigkeit gemäß Absatz [0110].
Auch KBS12 würde in Absatz [0097] nahelegen, dass ein Bildausschnitt hinter dem Fahrzeug ausgewählt und angezeigt würde.
c) Zudem sei der Gegenstand des Anspruchs 1 auch nicht erfinderisch gegenüber einer Kombination von KBS5 mit KBS11. Auch wenn diese Argumentationslinie erst in der mündlichen Verhandlung vorgebracht wurde, so seien die Dokumente bereits im Verfahren genannt und ausführlich diskutiert worden, so dass es der Beschwerdegegnerin und der Kammer zuzumuten sei, sich kurzfristig darauf einzustellen.
VI. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei neu gegenüber den Dokumenten KBS5 - KBS8.
Der Geschwindigkeitsschwellwert sei ein konkreter Wert, der in der Spiegelersatzvorrichtung hinterlegt sei und bei deren Unterschreiten in Rückwärtsfahrt der Bildausschnitt so gewählt werde, dass das Bild den Boden zeige. Damit handele es sich um einen technisch real vorhandenen Wert in der Auswahleinrichtung und nicht nur um eine abstrakte Größe. Oberhalb dieses Geschwindigkeits-schwellwertes würde ein anderer Bildausschnitt gewählt, da sonst keine Auswahl des Ausschnitts erfolgen würde.
Keines der Dokumente KBS5 - KBS8 zeige aber eine Auswahleinrichtung, die die aktuelle Geschwindigkeit in Rückwärtsfahrt mit einen Geschwindigkeitsschwellwert vergleichen würde und dann in Abhängigkeit des Ergebnisses des Vergleichs unterschiedliche Bildausschnitte wählen würde.
Zudem könne man nicht den Blick auf das hintere Rad gleichsetzen mit der Wahl eines Bildausschnitts, der den Boden um das Fahrzeug herum zeige. Man könne einen Bildausschnitt auf ein Rad so wählen, dass der Boden darum herum nicht im Bild zu sehen sei.
b) Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei auch erfinderisch.
Weder KBS5, noch KBS7 oder KBS9 zeige einen Schwellwert für die Geschwindigkeit in Rückwärtsfahrt. Ein solcher Schwellwert in Verbindung mit der Wahl eines bestimmten Bildschirmausschnitts bei Unterschreitung des Schwellwertes werde auch nicht durch eines der Dokument KBS7, KBS10, KBS11 oder KBS12 nahegelegt.
c) Die auf einer Kombination von KBS5 mit KBS11 beruhende Argumentationslinie zur erfinderischen Tätigkeit sei erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer aufgeworfen worden und sei daher - nachdem keine stichhaltigen Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände von der Beschwerdeführerin gelten gemacht worden seien - grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.
Neuheit (Artikel 54 EPÜ)
1. Der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ.
1.1 Es ist unstrittig zwischen den Parteien, dass KBS5 eine Spiegelersatzvorrichtung mit wenigstens einer Kamera, einer Bildverarbeitungseinrichtung und einer Anzeigeeinrichtung offenbart, wobei in Vorwärtsfahrt des Fahrzeugs ein Bildausschnitt angezeigt wird, der dem theoretisch durch einen Rück- bzw. Seitenspiegel im Fahrzeug erhaltenen Bild entspricht.
1.2 Strittig zwischen den Parteien ist allerdings einerseits, ob die in Absatz [0041] der KBS5 beschriebenen zusätzlichen Fahrerassistenzaufgaben dahingehend zu verstehen sind, dass die Auswahleinrichtung bei einer Rückwärtsfahrt des Fahrzeugs einen Bildausschnitt auswählt und/oder markiert, der den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt.
In Absatz [0041] wird als Aufgabe des Assistenzsystems eine Rückfahrassistenz genannt. Im vorletzten Satz des Absatzes heißt es zudem, dass der Bildausschnitt auf das hintere Rad gerichtet sein kann. Ein entsprechend gewählter Bildausschnitt wird aber zwangsläufig auch einen Ausschnitt des Bodens im Bereich des hinteren Rades mit erfassen, so dass der Bildausschnitt auch den Boden in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt.
1.3 Andererseits ist strittig zwischen den Parteien, ob die Auswahleinrichtung der KBS5 bei einer Rückwärtsfahrt, die unter einem ersten Geschwindigkeitsschwellwert liegt, den Bildausschnitt wie vorstehend definiert auswählt bzw. markiert.
1.3.1 Anspruch 1 des Streitpatents verlangt, dass die Auswahleinrichtung bestimmte Bildausschnitte in Abhängigkeit der Fahrtrichtung auswählt bzw. markiert. Zudem definiert Absatz [0025] des Streitpatents, dass die Fahrtrichtung des Fahrzeugs und die Fahrzeuggeschwindigkeit die "Trigger bzw. Auslöser" sind, die einen Wechsel zwischen zwei Arten von Bildverarbeitungen auslösen. Hieraus ergibt sich, dass die Auswahleinrichtung bei der Wahl des Bildausschnitts neben der Fahrtrichtung in Rückwärtsfahrt auch die aktuelle Geschwindigkeit berücksichtigt und unterscheidet, ob die aktuelle Geschwindigkeit unter oder über einem vorbestimmten Geschwindigkeitsschwellwert liegt.
1.3.2 Dies setzt implizit voraus, dass dieser Geschwindigkeitsschwellwert in der Spiegelersatzvorrichtung als Vergleichswert in irgendeiner Form (beispielsweise hinterlegt in einem Speicher) vorliegt. Nur dann ist die Auswahleinrichtung "ausgebildet", bei einer Rückwärtsfahrt mit einer Geschwindigkeit unter einem Geschwindigkeitsschwellwert eine bestimmte Bildverarbeitung vorzunehmen, wie es der Anspruch fordert.
Der Geschwindigkeitsschwellwert kann somit kein rein theoretischer Wert sein, der beliebig gegriffen werden darf, sondern dabei muss es sich um eine Eingangsgröße der Auswahleinrichtung handeln, die festgelegt, abgerufen und verarbeitet werden kann.
1.3.3 In KBS5 ist kein derartiger Geschwindigkeitsschwellwert genannt und auch nicht implizit offenbart durch die Beschreibung eines Speichers oder einer anderen vergleichbaren Einrichtung für einen solchen Schwellenwert. Dies wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht behauptet.
1.4 Auch keines der weiteren vermeintlich neuheitsschädlichen Dokumente KBS6 - KBS8 offenbart einen Geschwindigkeitsschwellwert als Eingangsgröße der jeweiligen Steuerungen in Rückwärtsfahrt. Zudem ist auch bei diesen Dokumenten mittelbar kein derartiger Geschwindigkeitsschwellwert erkennbar, beispielsweise durch die Nennung eines hierfür gedachten Speichers oder ähnlichen Einrichtung, oder der Verarbeitung eines Geschwindigkeitssignals
Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ)
2. Der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
2.1 Die Beschwerdeführerin argumentiert in einer ersten Argumentationslinie ausgehend von KBS9 als nächstkommenden Stand der Technik.
2.1.1 Dabei ist es lediglich zwischen den Parteien strittig, ob KBS9 eine Spiegelersatzvorrichtung oder nur einen Totwinkelassistenten betrifft.
Absatz [0024] von KBS9 führt explizit aus, dass das Bild der Kamera B1 auf der Anzeigevorrichtung A1 ausgegeben wird, so dass auch die aus KBS9 bekannte Vorrichtung als Spiegelersatzvorrichtung verstanden werden kann.
2.1.2 Es besteht Einvernehmen zwischen den Parteien, dass KBS9 keine Auswahleinrichtung offenbart, die den Bildausschnitt bei einer Rückwärtsfahrt mit einer Geschwindigkeit unter dem Geschwindigkeitsschwellwert so auswählt und/oder markiert, dass der Bildausschnitt den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt. Die Vorrichtung der KBS9 zeigt permanent und unabhängig von der Fahrtrichtung und/oder Geschwindigkeit einen Bildausschnitt, welcher in etwa dem theoretisch durch einen Seitenspiegel im Fahrzeug dargestellten Bildausschnitt entspricht.
2.1.3 Der Vorrichtung des Anspruchs 1 unterscheidet sich daher von KBS9 dahingehend, dass
- die Bildverarbeitungseinrichtung eine Auswahleinrichtung umfasst;
- wobei die Auswahleinrichtung dazu ausgebildet ist, bei einer Vorwärtsfahrt des Fahrzeugs einen Bildausschnitt auszuwählen, welcher in etwas dem theoretisch durch einen Rückspiegel und/oder Seitenspiegel in dem Fahrzeug dargestellten Bildausschnitt entspricht;
- wobei die Auswahleinrichtung dazu ausgebildet ist, bei einer Rückwärtsfahrt des Fahrzeugs mit einer Geschwindigkeit, die unter einem ersten Geschwindigkeitsschwellwert liegt, einen Bildausschnitt auszuwählen und/oder zu markieren, der den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt.
2.1.4 Die mit diesen Merkmalen zu lösende objektive technische Aufgabe besteht darin, die Rückwärtsfahrt sicherer zu gestalten und dem Fahrer einen besseren Überblick über die Fahrzeugumgebung zu verschaffen.
Die Auswahleinrichtung ermöglicht mit dieser Funktionalität, dass die Spiegelersatzvorrichtung in normaler Vorwärtsfahrt die ursprüngliche Funktion eines Rück- bzw. Seitenspiegel übernimmt. Fährt das Fahrzeug jedoch langsam rückwärts, geht die Spiegelersatzvorrichtung davon aus, dass der Fahrer einparken will. Die Auswahleinrichtung wählt dann den Bildausschnitt so, dass der Fahrer den Boden im Bereich des Fahrzeugs sieht und so Hindernisse beim Einparken leichter erkennen kann.
2.1.5 Die Beschwerdeführerin behauptet, dass eine Auswahleinrichtung mit dieser Funktionalität insbesondere durch KBS11 nahegelegt werde. In den Absätzen [0057] und [0107] würde jeweils beschrieben, dass bei einer Rückwärtsfahrt ein Bildausschnitt gewählt wird, der den Bereich hinter dem Fahrzeug abbildet. In Absatz [0110] würde dann ausgeführt, dass die aktuelle Geschwindigkeit des Fahrzeugs mit einem Geschwindigkeitsschwellwert verglichen werde und der Ausschnitt angepasst würde.
Absatz [0110] betrifft aber gerade nicht den Geschwindigkeitsbereich unter dem Geschwindigkeits-schwellwert, sondern den Bereich darüber ("the vehicle speed exceeds the predetermined value").
Zudem wählt die Auswahleinrichtung dann gerade nicht einen Bildausschnitt, der den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt, sondern schaltet zurück auf den Zustand vor der Aktivierung der Sicht auf den Fahrzeugnahbereich.
Die Aktivierung der Sicht auf den Fahrzeugnahbereich wird in Absatz [0057] beschrieben und erfolgt durch ein Betätigen eines Aktivierungsschalters durch den Fahrer. Sie ist also nicht Geschwindigkeits- und/oder Fahrtrichtungsabhängig.
Entsprechend kann KBS11 nicht nahelegen, dass die Auswahleinrichtung dazu ausgebildet ist, bei einer Rückwärtsfahrt des Fahrzeugs mit einer Geschwindigkeit, die unter einem ersten Geschwindigkeitsschwellwert liegt, einen Bildausschnitt auszuwählen und/oder zu markieren, der den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt.
2.1.6 Die Beschwerdeführerin behauptet ferner, dass auch die Dokumente KBS10 und KBS12 die in 3.1.3 genannten unterscheidenden Merkmale nahelegen würden.
KBS10 und KBS12 weisen jedoch analog zu KBS11 keine Auswahleinrichtungen auf, die auf einen Geschwindigkeitsschwellwert zugreifen.
In KBS10 wird zwar in Absatz [0077] darauf hingewiesen, dass das Fahrzeugkontrollmodul eine Vielzahl an gemessenen Parametern berücksichtigt, unter denen auch die Fahrzeuggeschwindigkeit ist. Wie diese aber berücksichtigt wird, bleibt offen. Zudem weist Absatz [0056] darauf hin, dass die mit den Kameras der Vorrichtung aufgenommenen Bilder dazu verwendet werden können, die Fahrzeuggeschwindigkeit zu bestimmen - aber auch hier bleibt offen, ob diese Information bei der Wahl des Bildausschnitts berücksichtigt wird.
KBS12 wiederum führt in Absatz [0099] lediglich aus, dass die relative Geschwindigkeit zu benachbarten Objekten bestimmt werden kann und bei Bedarf ein Alarm ausgelöst wird. Ein Vergleich der aktuellen Geschwindigkeit mit einem Geschwindigkeitsschwellwert wird jedoch in diesem Zusammenhang nicht offenbart. Zudem wird in Absatz [0097] explizit beschrieben, dass ein Wechsel der Anzeige vom Fahrer initiiert werden muss und nicht auf der aktuellen Geschwindigkeit und Fahrtrichtung beruht.
2.1.7 Daher kann eine Kombination von KBS9 mit einem der Dokumente KBS10 - KBS12 nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen.
2.2 In einer weiteren Argumentationslinie geht die Beschwerdeführerin von KBS7 als nächstkommenden Stand der Technik aus.
2.2.1 Wie vorstehend zur Neuheit gegenüber KBS7 ausgeführt, unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 dahingehend, dass die Auswahlvorrichtung neben der Fahrtrichtung auch die Fahrtgeschwindigkeit berücksichtigt und so ausgebildet ist, dass bei einer Rückwärtsfahrt des Fahrzeugs mit einer Geschwindigkeit, die unter einem ersten Geschwindigkeitsschwellwert liegt der Bildausschnitt verändert oder ein bestimmter Bildausschnitt ausgewählt wird. Weiterhin ist der KBS7 nicht entnehmbar, dass im dargestellten Bild ein Bereich markiert wird.
2.2.2 Auch hier besteht die objektive technische Aufgabe darin, die Rückwärtsfahrt sicherer zu gestalten und dem Fahrer einen besseren Überblick über die Fahrzeug-umgebung zu verschaffen.
2.2.3 Rückwärtsfahrten erfolgen im Regelfall unabhängig vom angedachten Fahrmanöver (Einparken in eine Parkbucht, normale Rückwärtsfahrt auf der Fahrbahn) aufgrund der eingeschränkten Sicht immer mit nur geringen Geschwindigkeiten. Eine Rückwärtsfahrt ist daher nicht mit einer Vorwärtsfahrt mit teilweise sehr geringen Geschwindigkeiten (beispielsweise beim Einparken), aber teilweise auch sehr hohen Geschwindigkeiten (beispielsweise auf der Autobahn) zu vergleichen.
Durch die Unterscheidung in einen Bereich mit Geschwindigkeit unter einem Schwellwert und einen Bereich mit Geschwindigkeit über dem Schwellwert ist die technische Voraussetzung realisiert, in der Rückwärtsfahrtsituation in Abhängigkeit der Geschwindigkeit den passenden Bildausschnitt auszuwählen oder in demselben Markierungen zu verändern.
Diese Rückwärtsfahrgeschwindigkeit in einen Bereich oberhalb eines Geschwindigkeitsschwellwerts und einen Bereich unterhalb des Schwellwerts zu unterteilen, wird dabei in keinem der im vorliegenden Verfahren genannten Dokumente erwähnt - weder für die Auswahl eines Bildausschnittes oder Markierung eines Bildbereichs, noch für eine andere Funktionalität eines Fahrer-assistenzsystems eines Fahrzeugs.
Dies wird auch nicht durch das allgemeine Fachwissen eines einschlägigen Fachmanns nahegelegt.
2.3 In einer dritten Argumentationslinie geht die Beschwerdeführerin von KBS5 als nächstkommenden Stand der Technik aus und argumentiert, dass KBS7 es nahelegen würde, auch in Rückwärtsfahrt einen Schwellwert zu verwenden.
2.3.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags unterscheidet sich von der aus KBS5 bekannten Vorrichtung wie vorstehend zur Neuheit bereits ausgeführt zumindest dahingehend, dass die Auswahleinrichtung so ausgebildet ist, dass in Rückwärtsfahrt, die unter einem ersten Geschwindigkeitsschwellwert liegt, der Bildausschnitt so ausgewählt und/oder markiert wird, dass er den Boden und/oder den Bordstein in der Umgebung des Fahrzeugs zeigt.
2.3.2 Das Dokument KBS7 offenbart - wie oben ausgeführt - keine derartige Auswahleinrichtung, die einen Geschwindigkeitsschwellwert in Rückwärtsfahrt berücksichtigt. Daher kann auch eine Kombination von KBS5 mit KBS7 nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 führen.
3. Die von der Beschwerdeführerin erstmalig in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Argumentationslinie ausgehend von KBS5 als nächstkommenden Stand in Kombination mit KBS11 wurde von der Kammer nicht zum Verfahren zugelassen.
3.1 Artikel 13(2) VOBK 2020 verlangt, dass Änderungen des Beschwerdevorbringens, die erst nach der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vorgebracht werden, grundsätzlich unberücksichtigt bleiben, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
3.2 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass die bei dieser Argumentationslinie verwendeten Dokumente KBS5 und KBS11 sich bereits im Verfahren befanden und es daher der Beschwerdegegnerin zuzumuten sei, zu dieser neuen Argumentationslinie zu argumentieren.
3.3 Dies stellt jedoch weder einen außergewöhnlichen Umstand dar, noch sind stichhaltige Gründe vorgebracht, die die Zulassung der erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumentationslinie erlauben würden - dies hat die Beschwerdeführerin auch nicht geltend gemacht.
3.4 Weitere Argumentationslinien wurden nicht vorgebracht, so dass die Kammer keinen Grund sieht, von der Entscheidung der Einspruchsabteilung abzuweichen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.