D 0002/86 (Grenzfall-Entscheidung/Eignungsprüfung) 07-05-1987
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1. In Prüfungsangelegenheiten beschränkt sich die Befugnis der Beschwerdekammern in Disziplinarangelegenheiten darauf, Entscheidungen der Prüfungsausschüsse und der Prüfungskommission dahin zu überprüfen, ob die Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung (hier: VEP) oder die bei ihrer Durchführung anzuwendenden Bestimmungen oder höherrangiges Recht (vgl. D 05/82 in Amtsbl. EPA 1983, 175) verletzt sind. Hält die Beschwerdekammer die Beschwerde für zulässig und begründet, so ist sie nach Artikel 23(4) Satz 2 VEP grundsätzlich nur befugt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Soweit die Prüfungskommission im Rahmen ihres Ermessens entscheidet, kann nicht die Beschwerdekammer ein eigenes Ermessen ausüben. (Gründe Nr. 2)
2. Obwohl die sog. "Grenzfall"-Entscheidung der Prüfungskommission nach Artikel 5(3) Satz 2 in Verbindung mit Artikel 12(3) VEP eine Ermessensentscheidung ist, unterliegt sie nach Artikel 23(1) VEP einer Überprüfung auf Regel-Verstoss. Als Regeln kommen vor allem Artikel 12 und die "Anweisungen" (Amtsblatt EPA 1983,296) in Betracht. Die Ausübung des Ermessens darf nicht willkürlich, sondern muss im Hinblick auf diese Regeln verständlich sein (siehe auch D 01/85 in Amtsblatt EPA 1986,341, Leitsatz II.). Daher bedarf die "Grenzfall"-Entscheidung einer Begründung, die konkret auf den Einzelfall eingeht. Der sich aus der Prüfungsakte ergebende Sachverhalt braucht dabei nicht dargestellt zu werden und die Begründung selbst kann sich auf knappe Ausführungen beschränken, durch die die Anwendung der sich aus Artikel 12 VEP und den "Anweisungen" ergebenden Grundsätze auf den konkreten Fall nachvollziehbar und damit überprüfbar wird (Gründe Nr. 3 und 4).
3. Bei beschwerdefähigen Entscheidungen, die von der Prüfungskommission im Einzelfall getroffen werden, ist Stimmenthaltung unzulässig. Im Fall der Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag. Das Verhältnis der Stimmen bleibt geheim. (Gründe Nr. 5)
Überprüfungsbefugnis/beschränkte
Grenzfall-Entscheidungen/Begründung von
Abstimmungen in der Prüfungskommission
I. Die Beschwerdeführer haben sich der 6. Europäischen Eignungsprüfung vom 17. - 19. April 1985 unterzogen. Durch eingeschriebenen Brief vom 14. November 1985, zur Post gegeben am 15. November 1985, jeweils zugestellt am 18. November 1985, gab ihnen der Vorsitzende der Prüfungskommission für die europäische Eignungsprüfung für die vier Prüfungsarbeiten A, B, C und D (vgl. Amtsbl. EPA 1984, 133) die nach der veröffentlichten Bewertungsskala (Amtsbl. EPA 1983, 296) erzielten Noten bekannt und teilte ihnen mit, daß eine (jeweils bezeichnete) Prüfungsarbeit unzureichend sei und die Leistungen in den anderen Prüfungsarbeiten nicht ausreichten, um insgesamt die zum Bestehen erforderliche Bewertung zu erzielen. Gegen diese Entscheidungen richten sich die am 7. Januar, 4. Januar und 22. Januar 1986 unter Zahlung der Gebühr eingereichten und gleichzeitig bzw. am 3. Februar und 19. Februar 1986 begründeten Beschwerden.
II. Mit den drei Beschwerden wird nach Artikel 23 (1) der "Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für die beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter" (Amtsbl. EPA 1983, 282; nachfolgend VEP genannt) geltend gemacht, daß die sog. "Entscheidung in Grenzfällen" i.S.v. Artikel 5 (3) Satz 2 und Artikel 12 (3) VEP unter Verletzung der Vorschriften der VEP und der bei ihrer Durchführung anzuwenden den Bestimmungen erfolgt sei. Die Beschwerden betreffen ein und dieselbe, d.h. die sechste europäische Eignungsprüfung.
Es werden von den Beschwerdeführern weitgehend gleiche Gesichtspunkte vorgebracht. Daher wurde die Beschwerdekammer nach Artikel 4 des Geschäftsverteilungsplans der Beschwerdekammer in Disziplinarsachen aus den selben Mitgliedern zusammengesetzt. Die Beschwerdeführer haben nach Artikel 11 (2) der "Ergänzenden Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten" (Amtsbl. EPA 1980, 188, 192) ihre Zustimmung zu einer Verbindung der Verfahren gegeben.
III. Die Prüfungsarbeiten der Beschwerdeführer waren entsprechend den "Anweisungen an die Prüfungsausschüsse für die Bewertung der Prüfungsarbeiten" (Amtsbl. EPA 1983, 296; nachfolgend: "Anweisungen") wie folgt bewertet worden:
Beschwerdeführer I
Die Prüfungsarbeiten A, B und C erhielten Punktwertungen im mittleren Bereich der Note 4 "Befriedigend" und wurden jeweils mit dieser Note bewertet. Die "Grenzfall"-Situation entsteht durch die mit der Note 5 "Leicht mangelhaft" bewertete Prüfungsarbeit D: Von den (zwei) Prüfern (dargestellt: "x/y Punkte") wurden vergeben für Teil I 37/37,5 Punkte, für Teil II 17/20 Punkte; in der Summe I + II 54/57,5 Punkte. Die Spanne für die Note 5 reichte von 46 bis 55 Punkte, für die Note 4 von 56 bis 65 Punkte. Es erfolgte eine "Notenabgleichung" (zu diesem Begriff siehe die Entscheidung D 05/82, Amtsbl. EPA 1983, 175, 180). Die Punktzahl für Teil II änderte sich in 17/17, die Summe I + II in 54/54,5; es wurde die Note 5 -hier eine "fast noch" 4 - vergeben.
Beschwerdeführer II
Die Prüfungsarbeiten A, C und D wurden mit 4 bewertet. Nach der Punktwertung liegt dabei A im schlechteren bis mittleren, hingegen C und D im besseren Bereich nahe der Note 3. Die "Grenzfall"-Situation entsteht durch die mit Note 5 "Leicht mangelhaft" bewertete Prüfungsarbeit B: Von den Prüfern wurden 19/21 Punkte vergeben. Die Spanne für Note 5 reichte von 14 bis 20 Punkten und für die Note 4 von 21 bis 27 Punkten. Es wurde die Note 5 - ebenfalls eine "fast noch" 4 - vergeben.
Beschwerdeführer III
Die Prüfungsarbeiten A und B wurden mit der Note 4 "Befriedigend" bewertet. Nach den Punktwertungen liegt dabei A im mittleren und B im schlechteren Bereich dieser Werte. Die Prüfungsarbeit D wurde mit der Note 3 "Gut" bewertet, liegt nach der Punktwertung allerdings im schlechteren Bereich dieser Note. Die "Grenzfall"-Situation entsteht durch die mit der Note 5 "Leicht mangelhaft" bewertete Prüfungsarbeit C: Von den Prüfern wurden 37/38 Punkte vergeben. Die Spanne für die Note 5 reichte von 35 bis 49 Punkten. Die vergebene Note liegt daher im schlechteren Bereich dieser Note.
IV. Die angefochtenen Entscheidungen wurden auf der Sitzung der Prüfungskommission am 13. und 14. November 1985 getroffen. Es ging dabei immer um die Frage, ob die angesichts der "Grenzfall"-Situation vorzunehmende Gesamtprüfung nach Artikel 12 (3) VEP und den "Anweisungen" zu der Entscheidung führen kann, daß der Bewerber die Prüfung bestanden hat. Im Fall des Beschwerdeführers I traf die Prüfungskommission ihre ablehnende Entscheidung einstimmig, im Fall des Beschwerdeführers II mit drei gegen zwei Stimmen bei einer Enthaltung, im Fall des Beschwerdeführers III mit vier gegen zwei Stimmen.
Die Entscheidungen der Prüfungskommission wurden den Beschwerdeführern mit Schreiben jeweils vom 14. November 1985 mitgeteilt. Als Begründung für die "Grenzfall-Entscheidung" wurde in allen Fällen einheitlich ausgeführt: "Unzureichend war die Prüfungsarbeit ... und Ihre Leistungen in den an deren Prüfungsarbeiten reichten nicht aus, um insgesamt die zum Bestehen erforderliche Bewertung zu erzielen." In den Niederschriften über die Sitzung der Prüfungskommission ist jeweils gleichlautend vermerkt: "The candidate being a borderline case, the Board has carefully considered his papers as a whole. On the evidence of his overall performance the Board felt that the weaknesses revealed cast serious doubts on the candidate's fitness to practise. It has therefore regretfully decided that the candidate has failed the examination."
V. In den Beschwerdebegründungen machen alle Beschwerdeführer eine Verletzung der VEP, insbes. ihres Artikels 12 (3) in Verbindung mit den "Anweisungen" geltend. Der oben wieder gegebene Text sei formelhaft und könne nicht als eine ausreichende Begründung der Entscheidung angesehen werden. Der Beschwerdeführer I hebt hervor, daß er bei der Prüfungsarbeit D die für die Note 4 "Befriedigend" erforderliche Punktzahl nur knapp verfehlt habe, seine übrigen Arbeiten aber "deutlich befriedigend" seien. Sein relativ schlechtes Abschneiden in der Arbeit D gehe auf deren Teil II und dort zentral auf die Frage 2 "prior disclosure" zurück, wo ihm von den möglichen elf Punkten kein einziger zuerkannt wurde. Sein Versagen bei dieser Frage sei aber auf einen erkennbaren. Irrtum hinsichtlich einer Ausgangsfrage zurückzuführen. Über die einschlägigen Vorschriften des Übereinkommens und die sog. "Internationalen Ausstellungen" habe er aber so viele Kenntnisse geboten, daß es nicht gerecht fertigt sei, ihm von den hier erzielbaren elf Punkten alle zu versagen. Im übrigen rügt er weitere Einzelbewertungen.
Der Beschwerdeführer II sieht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Einheitlichkeit der Bewertung zunächst darin, daß bei seiner Arbeit C nur die Summen der von beiden Prüfern vergebenen Punkte nahe beieinander liegen. Die einzelnen Punktzahlen hingegen würden stark voneinander abweichen. Eine Notenabgleichung sei unterblieben; sie hätte leicht zur Note 3 "Gut" führen können. Anhand von Zahlenbeispielen legt er dar, daß jedenfalls in "Grenzfällen" bei stark differierenden Punktwerten eine Notenabgleichung nicht deswegen unterbleiben dürfe, weil die Differenzen in den Punktsummen überdeckt seien.
Ein Verstoß gegen den genannten Grundsatz der Einheitlichkeit der Bewertung nach Artikel 12 (1) VEP würde auch darin liegen, daß vergleichbare Gesamtleistungen beiderseits der Grenzlinie zwischen den Noten 4 und 5 unterschiedlich behandelt würden. Ein Kandidat, der in allen vier Arbeiten mit der Minimalpunktzahl gerade noch die Note 4 erhalte, habe damit die Prüfung bestanden, ohne daß sein Fall noch über prüft würde.
Demgegenüber könnte ein Bewerber mit einer Note 5 eine eindeutig bessere Leistung bei den übrigen Arbeiten erbracht haben. Ein solcher Gegensatz entstehe durch die Zufälligkeiten, nach denen sich innerhalb der einzelnen Arbeit unterschiedliche Punktbewertungen durch die Prüfer ausgleichen oder auch nicht ausgleichen.
Der Beschwerdeführer III bringt vor, daß die Prüfungskommission in ihrer Begründung nicht erkennen lasse, warum die Mängel in seiner Prüfungsarbeit C als derart gravierend angesehen wurden, daß sie bei drei bestandenen Prüfungsteilen zur negativen Entscheidung der Prüfungskommission führten. Aus den "Anweisungen" (I., Satz 3) lasse sich ableiten, daß es ein "Prinzip der Gleichwertigkeit der Aufgabenteile" gäbe. Wie sich aus den "Anweisungen" (VI., Ausgleichbarkeit selbst der Note 6) ergäbe, sei eine Note 5 jedenfalls mit einer Note 3 auszugleichen.
VI. Die Prüfungskommission hat die Beschwerden nach Artikel 23(3) VEP überprüft, aber keine Änderung ihrer Entscheidungen im Wege der Abhilfe vorgenommen. Die Beschwerden wurden der Beschwerdekammer mit Schreiben vom 7. Februar, 3. März und 7. März 1986 vorgelegt.
VII. Durch Zwischenbescheid vom 7. November 1986 übermittelte der Berichterstatter den Beschwerdeführern die jeweilige Stellungnahme der Prüfungskommission. Er machte die Beschwerdeführer darauf aufmerksam, welche Tatsachen und rechtlichen Gesichtspunkte für die Entscheidung von Bedeutung sein könnten.
VIII. In ihren Antwortschreiben verzichteten die Beschwerdeführer auf Verhandlung. Beschwerdeführer II hob hervor, daß es im Rahmen einer "Grenzfall"-Entscheidung nach Artikel 12 VEP auf eine Gesamtwertung der Prüfungsergebnisse ankomme. Unter diesem Gesichtspunkt sei die Entscheidung der Prüfungskommission unverständlich. Der Beschwerdeführer III vertritt die Auffassung, daß eine Note 5 zwangsläufig durch eine Note 3 auszugleichen sei.
IX. Der Präsident des Europäischen Patentamts übermittelte eine Stellungnahme des zuständigen Referenten. Dieser Stellungnahme schloß sich der Präsident des Instituts der beim EPA zugelassenen Vertreter an. Es wird dargelegt, daß Entscheidungen der Prüfungskommission keiner Begründung bedürften und eine solche für die Betroffenen auch nicht hilfreich sei. Im Gegensatz zu einer Entscheidung der Prüfungskommission über die Nichtzulassung eines Bewerbers zur Prüfung (Art. 18(1) Satz 3 VEP) unterliege die Entscheidung über das Bestehen der Prüfung keiner Begründungspflicht. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der VEP und werde durch die "Vorbereitenden Arbeiten" dazu bestätigt. Auch im nationalen Recht seien Prüfungsentscheidungen nicht begründungspflichtig.
X. Nach Mitteilung des Präsidenten des Europäischen Patentamts vom 23. Dezember 1986 hat der Beschwerdeführer III inzwischen die europäische Eignungsprüfung 1986 bestanden.
XI. Alle Beschwerdeführer beantragen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen. Nach dem Hauptantrag des Beschwerdeführers I soll von der Beschwerdekammer festgestellt werden, daß der Beschwerdeführer die europäische Eignungsprüfung 1985 bestanden hat. Im übrigen beantragen alle Beschwerdeführer (Beschwerdeführer I hilfsweise) eine neue Gesamtbewertung ihrer Prüfungsergebisse, wobei sie offenbar von einer Rückverweisung ausgehen. Alle Beschwerdeführer begehren die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
1. Die Beschwerden entsprechen Artikel 23 (2) VEP und sind daher zulässig. Auch die Beschwerde des Beschwerdeführers III wurde rechtzeitig eingelegt und begründet, da die sog. "Zehn-Tage-Regel" nach Regel 78 (3) EPÜ auch für dieZustellung beschwerdefähiger Entscheidungen in Disziplinarangelegenheiten gilt. Dies ergibt sich aus Artikel 23 (4) VEP in Verbindung mit Artikel 21 (2) der "Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern" (Amtsbl. EPA 1978, 91, 97; siehe auch die Entscheidung D 06/82 in Amtsbl. EPA 1983, 337, 338, Gründe Nr. 2).
2. Der Beschwerdeführer I begehrt nach Hauptantrag von der Beschwerdekammer die Feststellung, daß er die europäische Eignungsprüfung 1985 bestanden habe. In Prüfungsan gelegenheiten beschränkt sich jedoch die Befugnis der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten darauf, Entscheidungen der Prüfungsausschüsse und der Prüfungskommission dahin zu überprüfen, ob nicht die "Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung" (Amtsbl. EPA 1983, 282, 289; hier: VEP) oder die bei ihrer Durchführung anzuwendenden Bestimmungen oder höherrangiges Recht (vgl. D 05/82 in Amtsbl. EPA 1983, 175) verletzt sind. Die Beschwerdekammer ist nach Artikel 23 (4) Satz 2 VEP grundsätzlich nur befugt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. In Ermessensangelegenheiten kann die Kammer die angefochtene Entscheidung nicht durch ihre eigene ersetzen. Dies wäre nur unter besonderen Voraussetzungen denkbar, etwa wenn kein Ermessen bliebe (beispielsweise bei nachgewiesen falscher Punkteberechnung) oder wenn die Bindungswirkung einer vorausgegangenen Entscheidung nicht beachtet wäre (vgl. Art. 111(2) EPÜ i.V.m. Art. 22(3) der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten und Art. 23(4) VEP).
3. Entsprechend dem Hilfsantrag des Beschwerdeführers I und den Anträgen der Beschwerdeführer II und III hat die Beschwerdekammer jedoch die angefochtenen Entscheidungen nach Artikel 23 (4) VEP auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Die sog. "Grenzfall"-Entscheidung der Prüfungskommission nach Artikel 5 (3) Satz 2 i.V.m. 12 (3) VEP ist zwar eine Ermessensentscheidung. Sie ist aber an jene Grundsätze und Regeln gebunden, die sich unmittelbar aus Artikel 12 VEP und mittelbar aus den an die Prüfungsausschüsse gerichteten "Anweisungen" (Amtsbl. EPA 1983, 296) ableiten lassen.
3.1. Was Artikel 12 VEP selbst anbelangt, so ergibt sich daraus zunächst der Grundsatz der Einheitlichkeit der Bewertung, der wohl auch als Grundsatz der Einheitlichkeit des Maßstabes bei der "Grenzfall"-Entscheidung verstanden werden muß. Ferner ergibt sich aus Artikel 12 (3), 1. Halbsatz VEP der Grundsatz der bedingten Ausgleichbarkeit von Prüfungsarbeiten untereinander und schließlich aus Art. 12(3), 2. Halbsatz VEP der Grundsatz der Gesamtprüfung im "Grenzfall".
3.2. Was die "Anweisungen" anbelangt, so hat die Prüfungskommission für die Prüfungsausschüsse und indirekt für sich selbst durchaus zweckgerechte und den Grundsätzen der VEP entsprechende Richtlinien geschaffen und der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Der Ermessensgebrauch bei der "Grenzfall"- Entscheidung ist damit aber nicht nur an die Grundsätze in Art. 12 VEP, sondern auch an deren Konkretisierung in den "Anweisungen" gebunden. So wird der Grundsatz der bedingten Ausgleichbarkeit beispielsweise dahin konkretisiert, daß eine Note 7 nicht und eine Note 6 nur durch besonders gute Ergebnisse in den übrigen Arbeiten aufgewogen werden kann (Nr. VI. u. VII. der "Anweisungen"). Für den Ausgleich einer Note 5 lassen die "Anweisungen" einen besonders großen Ermessensraum. Nach Nr. V. der "Anweisungen" kommt hier der Grundsatz der Gesamtprüfung voll zur Anwendung. Die in Nr. I. der "Anweisungen" gestellte Frage, ob der Bewerber geeignet erscheint, die Tätigkeit eines zugelassenen Vertreters vor dem EPA auszuüben, ist nun erneut und zwar im Hinblick auf seine Gesamtleistung zu stellen.
3.3. Außerdem gibt es noch logische Folgerungen, die man bei der Anwendung der Grundsätze nach Artikel 12 VEP und der "Anweisungen" erwarten darf. Dementsprechend ist davon auszugehen, daß bei der "Grenzfall"-Entscheidung die Frage der beruflichen Eignung, wie sie in Nr. I. der "Anweisungen" gestellt wird, unter einer Wertung der Ergebnisse insgesamt (vgl. dort Nr. V.) zu beantworten ist. Die entscheidende Frage geht dann somit dahin, ob dem Bewerber im Hinblick auf seine Gesamtleistung die berufliche Eignung abgesprochen werden muß. Die Antwort kann im Grenzbereich nicht rein arithmetisch aus den Punktzahlen und den sich daraus ergebenden Noten gefunden werden. Vielmehr muß das Versagen nach Art und Umfang festgestellt und dahin beurteilt werden, ob es den Bewerber für die Ausübung der Tätigkeit in der beruflichen Praxis disqualifiziert. Im Grenzfall wird beispielsweise auch die Praxis-Relevanz des spezifischen Versagens in Betracht zu ziehen sein. Dies ergibt sich aus dem Zweck der Prüfung und aus dem Umstand, daß jedwede Prüfung zwangsläufig mehr aber auch weniger praxisrelevante Aspekte haben kann und dieser Unterschied in der ebenfalls unvermeidbaren Punkte-Arithmetik verlorengeht.
3.4. Die vorstehenden Überlegungen bedeuten nicht, daß die irgendwo notwendige Grenzlinie lediglich verschoben und die unvermeidbaren Härtefälle dorthin verlagert werden. Die Grenzlinie ist durch Artikel 12 VEP i.V.m. den "Anweisungen" zwischen den Noten 4 "Befriedigend" und 5 "Leicht mangelhaft" gezogen. Im Bereich der hier festgelegten Grenze vollzieht sich infolge des Punktsystems der Ausgleich zwischen Versagen und guter Leistung innerhalb der einzelnen Prüfungsarbeit arithmetisch und - sofern keine Notenabgleichung stattfindet - sogar automatisch. Ein Bewerber, der in allen Prüfungsarbeiten gerade noch die Note 4 erhalten hat, weil sich seine guten und schlechten Leistungen jeweils noch innerhalb derselben Arbeit arithmetisch ausgleichen, hat die Prüfung bestanden. Es dürfte aber zweifelhaft sein, ob ein solcher Bewerber für die Ausübung des Berufs besser geeignet ist als ein Bewerber, der in einer Arbeit die Grenze zur Note 5 gerade überschritten hat, obwohl er sonst voll ausreichende Leistungen bot.
3.5. Eine mündliche Prüfung, die hier das gerechte Ergebnis herbeiführen könnte, fehlt. Sie wäre im System der europäischen Eignungsprüfung kaum zu verwirklichen. Im Hinblick auf Art. 12(2) VEP muß außerdem hingenommen werden, daß ein Bewerber, der in allen Prüfungsarbeiten gerade noch die Note 4 erreicht, die Prüfung bestanden hat, selbst wenn er besonders bei solchen Aufgaben versagt hat, die für die Praxis von größerer Bedeutung sind als jene Aufgaben, bei denen er seine besseren Leistungen zeigte. Durch diese Umstände wird aber der Typus des Bewerbers, der es gerade noch schafft, die Prüfung ohne "Grenzfall"-Entscheidung zu bestehen, praktisch zum Maßstab für den Ermessensgebrauch bei einer solchen Entscheidung, die die Gleichheit der Bewerber und die Gleichmäßigkeit des über sie gesprochenen Urteils wieder herstellt. Dem wird eine negative "Grenzfall" -Entscheidung nur gerecht, wenn plausibel wird, daß der disqualifizierte Bewerber für die Berufsausübung weniger geeignet erscheint als der genannte Grenztypus. Hat daher ein Bewerber in drei Arbeiten mindestens mit eindeutiger Note 4 (Befriedigend) oder besser abgeschlossen und ist die vierte Arbeit nur um ein Geringes schlechter als "befriedigend", so muß plausibel sein, daß er weniger geeignet erscheint als der genannte Grenztypus.
4. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Ausübung des Ermessens bei der "Grenzfall"-Entscheidung in einer gewissen Weise gebunden wird durch die Grundsätze in Artikel 12 VEP, durch die in den "Anweisungen" erkennbaren Maßstäbe und durch die Logik, die bei der Anwendung dieser Grundsätze und Maßstäbe erwartet werden kann. Bereits in den Entscheidungen D 12/82 in Amtsbl. EPA 1983, 233 (Gründe-Nr. 4) und D 01/85 in Amtsbl. EPA 1985, 341 (Gründe-Nr. 3) wurde "Schlüssigkeit" und "Durchsichtigkeit" der zu überprüfenden Ermessensentscheidung verlangt. Dies bedeutet, daß eine "Grenzfall"- Entscheidung insoweit einer auf den Einzelfall abgestellten Begründung bedarf, als dies notwendig ist, damit der Beschwerdeführer wie die Beschwerdekammer in der Lage sind, einen Regel-Verstoß i.S.v. Artikel 23 (1) VEP zu erkennen und zu beurteilen. Was hier von der Beschwerdekammer als Notwendigkeit festgestellt wird, ist nur die Konsequenz aus dem, was durch Artikel 12 VEP und die "Anweisungen" vorgegeben ist. Daher bedarf es weder einer ausdrücklichen Vorschrift (vgl. Stellungnahme des EPA; Sachverhalt IX.), noch kann ein Vergleich mit nationalem Recht etwas erbringen.
4.1. Dem Inhalt nach kann sich die geforderte Begründung auf einen Hinweis oder eine knappe Erläuterung beschränken, durch die der Gebrauch des Ermessens im konkreten Fall in einer für die Zwecke von Artikel 23 (1) VEP ausreichenden Weise verständlich und damit überprüfbar gemacht wird. Es könnte beispielsweise genügen, wenn auf ein besonders disqualifizierendes Versagen hingewiesen wird.
4.2. Der Form nach sind dementsprechend an die Begründung nicht solche Anforderungen zu stellen wie etwa bei einer Entscheidung über die Nichtzulassung eines Bewerbers nach Artikel 18 (1) Satz 3 VEP. Die zum besseren Verständnis der Ermessensentscheidung notwendigen Ausführungen können etwa auch in die Niederschrift über die Sitzung der Prüfungskommission aufgenommen werden.
4.3. Da entsprechende Erläuterungen in den vorliegenden Fällen fehlen, können weder die Beschwerdeführer noch die Beschwerdekammer den gedanklichen Weg, den die Prüfungskommission bei der Ausübung ihres Ermessens im jeweils konkreten Fall gegangen ist, nachvollziehen. Daher sind diese Entscheidungen nach Artikel 23 (1) und (4) Satz 2 VEP mangels Begründung aufzuheben. Die Beschwerdesachen I und II sind zur erneuten Entscheidung an die Prüfungskommission zurückzuverweisen. Im Falle des Beschwerdeführers III erübrigt sich eine neue Entscheidung allerdings, da er inzwischen die europäische Eignungsprüfung bestanden hat. Ein weiter bestehendes Rechtschutzinteresse an einer erneuten Prüfung ist nicht erkennbar.
5. Im Falle des Beschwerdeführers II muß die Aufhebung der Entscheidung aber auch erfolgen, weil eine Entscheidung "mit drei gegen zwei Stimmen bei einer Enthaltung" dem Wesen einer "Grenzfall" - Entscheidung i.S.v. Artikel 12 (3) VEP widerspricht.
5.1. Die Prüfungskommission hat verschiedene Aufgaben und dem entsprechend verschiedene Entscheidungen zu treffen. Dabei mag es auch Entscheidungen geben, bei denen - wie beim Verwaltungsrat der EPO - Stimmenthaltungen möglich sind. Bei einer Entscheidung nach Artikel 12 (3) VEP handelt es sich aber um eine beschwerdefähige Rechtsanwendung im Einzelfall. In Analogie zu der bei den Disziplinarorganen und den Beschwerdekammern gegebenen Situation kann auch hier eine Stimmenthaltung nicht zugelassen werden. Dazu sei auf die "Ergänzenden Verfahrensordnungen" der Disziplinarorgane (ABl. EPA 1980, 176) und auf die "Verfahrensordnung der Beschwerdekammern" (ABl. EPA 1983, 7) aufmerksam gemacht. In den Artikeln mit der Überschrift "Reihenfolge bei der Abstimmung" ist jeweils in Absatz 2 gesagt, daß Stimmenthaltungen nicht zulässig sind. Die Unzulässigkeit der Stimmenthaltung ergibt sich außerdem aus der Überlegung, daß sie - wenn überhaupt erlaubt - von allen Mitgliedern zugleich geübt werden könnte.
5.2. Da die Prüfungskommission "Grenzfall"-Entscheidungen auch mit der geraden Zahl von 6 Mitgliedern trifft, bedarf es einer Regelung für den Fall der Stimmengleichheit. Hier kann nicht gelten, daß eine Entscheidung zugunsten des Bewerbers nur mit einer zahlenmäßigen Mehrheit (also 4 zu 2) getroffen werden kann. Ebensowenig gibt es eine rechtliche Stütze dafür, Stimmengleichheit als eine Entscheidung zu Gunsten des Bewerbers zu werten. Es muß daher - in Analogie zu Artikel 18 (2) Satz 5 und 19 (2) Satz 6 EPÜ - davon ausgegangen werden, daß die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag gibt.
5.3. Da die Kammer in Hinblick auf den Fall des Beschwerdeführers II sich zu Stimmenthaltung und Stichentscheid äußern mußte, erscheint es angebracht, auch zu überlegen, ob das Stimmverhältnis - wie bisher geübt - dem Bewerber offen zu legen ist. Nach Auffassung der Kammer ist aber nur das Ergebnis der Entscheidung in die Niederschrift aufzunehmen, das Stimmverhältnis hingegen geheimzuhalten. Dies ergibt sich vornehmlich aus der etwaigen Notwendigkeit eines Stichentscheids des Vorsitzenden. Anders wäre die Geheimhaltung der Beratung nach Art. 22 VEP nicht zu wahren. Im übrigen sei darauf aufmerksam gemacht, daß auch Artikel 13 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern und Artikel 15 (3) des Personalstatuts die Geheimhaltung des Stimmverhältnisses vorschreiben. Es sind aber auch die Vorschriften über Beratung und Abstimmung in den "Ergänzenden Verfahrens ordnungen" der Disziplinarorgane so zu verstehen.
6. Die Anordnung der Rückzahlung beruht auf Artikel 23 (4) Satz 3 VEP.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerdeverfahren D 01/86, D 02/86 und D 03/86 werden miteinander verbunden.
2. Die Entscheidungen der Prüfungskommission für die europäische Eignungsprüfung vom 14. November 1985 betreffend die drei Beschwerdeführer werden aufgehoben. In den Fällen der Beschwerdeführer I und II wird die Sache zur erneuten Prüfung an die Prüfungskommission zurückverwiesen.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird in den drei Fällen angeordnet.