T 2154/19 02-02-2021
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Bodenbelagselement, Bodenbelagsgitter und Anordnung von Bodenbelagsgittern, sowie Herstellungsverfahren eines Bodenbelagsgitters
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Neuheit - Hilfsantrag (nein)
Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein)
I. Das europäische Patent Nr. 2 019 169 (im Folgenden: Patent) betrifft ein Bodenbelagselement zur Bildung eines Bodenbelagsgitters, insbesondere zur Bildung eines Fallschutzbelages. Gegen das Patent im gesamten Umfang wurde Einspruch eingelegt und Widerruf beantragt. Als Einspruchsgründe wurden unzulässige Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung (Artikel 100 c) EPÜ), unzureichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) sowie mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) geltend gemacht.
II. Am Ende der mündlichen Verhandlung entschied die Einspruchsabteilung,
- dass der Gegenstand von Anspruch 8 in der erteilten Fassung sowie in der geänderten Fassung gemäß den damals geltenden Hilfsanträgen 1 und 2 nicht neu ist,
- dass der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß dem damals geltenden Hilfsantrag 3 nicht neu ist, und
- dass das Patent in geändertem Umfang gemäß dem geltenden Hilfsantrag 4 den Erfordernissen des EPÜ genüge.
III. Die Patentinhaberin und die Einsprechende haben jeweils gegen diese Zwischenentscheidung Beschwerde eingelegt.
IV. Mit Schriftsatz vom 20. September 2019 hat die Einsprechende ihre Beschwerde zurückgenommen.
V. Beschleunigung des Beschwerdeverfahrens
Auf Antrag der Einsprechenden (Schriftsatz vom 1. April 2020) wurde das Beschwerdeverfahren gemäß Artikel 10 (4) bis (6) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) beschleunigt.
VI. In der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2007) vom 19. Mai 2020 hat die Kammer den Verfahrensbeteiligten ihre vorläufige Einschätzung der Beschwerde mitgeteilt. Insbesondere hat die Kammer ihre vorläufige Meinung kundgetan,
- dass der Gegenstand von Anspruch 1 durch E2, E3 und E7 neuheitsschädlich vorweggenommen ist,
- dass der Gegenstand von Anspruch 8 durch E10 und E12 neuheitsschädlich vorweggenommen ist,
- dass die Beschwerde zurückzuweisen wird, mit der Konsequenz, dass die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent in geänderter Form auf der Grundlage von Hilfsantrag 4 aufrechtzuerhalten, rechtskräftig werden würde.
Außerdem hat die Kammer darauf hingewiesen, dass soweit die Beschwerdeführerin auf Seite 15 der Beschwerdebegründung beantragt, das Patent auf der Basis einer von der Kammer als gewährbar angesehenen Kombination der erteilungsfähigen Ansprüche aufrechtzuerhalten, dies einen bedingten und mithin unzulässigen Antrag darstellt, und dass ein Antrag ohne tatsächlich ausformulierten Anspruchssatz schon aus diesem Grund keinen Erfolg haben kann.
VII. Eine mündliche Verhandlung fand am 2. Februar 2021 in Anwesenheit beider Beteiligten statt.
VIII. Zum Ablauf der mündlichen Verhandlung, insbesondere zur Stellung von Anträgen bzw. deren Rücknahme durch die Beschwerdeführerin wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
IX. Schlußanträge
a) Die nunmehr alleinige Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), hilfsweise in geänderter Fassung gemäß Hilfsantrag 2 wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht, gemäß Hilfsantrag 3 wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht oder gemäß Hilfsantrag 4 neu (= Hilfsantrag 6 wie in der Beschwerdebegründung eingereicht).
b) Die Einsprechende (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
X. Anspruchssatz gemäß Hauptantrag
a) Der unabhängige Sachanspruch 1 in der erteilten Fassung lautet folgendermaßen (die Nummerierung der Merkmale wurde in der angefochtenen Entscheidung und von beiden Beteiligten verwendet):
1.1) Bodenbelagsgitter (10)
1.2) mit einer Vielzahl von Bodenbelagselementen (1),
insbesondere aus einem trittfesten, elastischen,
vorzugsweise witterungsbeständigem Material,
1.3) wobei das Bodenbelagselement (1) einen eine erste
Seite (2) bildenden ersten Teilbereich (2'),
einen eine zweite Seite (3) bildenden zweiten
Teilbereich (3') und eine zur ersten und zur
zweiten Seite (2, 3) parallele Haupterstreckungs-
richtung (6) aufweist,
1.4) wobei der erste Teilbereich (2') wenigstens eine
den Verlauf der ersten Seite (2) unterbrechende
Aussparung (4) aufweist und der zweite
Teilbereich (3') einen in einer zur
Haupterstreckungsrichtung (6) senkrechten
Richtung (7) die Aussparung (4) überlappenden
dritten Teilbereich (5) aufweist,
1.5) wobei eine Mehrzahl von ersten Bodenbelags-
elementen (1') in einer ersten Richtung (11)
nebeneinander und parallel zueinander angeordnet
sind und eine Mehrzahl von zweiten Bodenbelags-
elementen (1") in einer zur ersten Richtung (11)
senkrechten zweiten Richtung (12) derart
nebeneinander und parallel zueinander angeordnet
sind,
1.6) dass die dritten Teilbereiche (5) der ersten
Bodenbelagselemente (1') in die Aussparungen (4)
der zweiten Bodenbelagselemente (1") eingreifen,
dadurch gekennzeichnet,
1.7) dass in Randbereichen des Bodenbelagsgitters (10)
zumindest eine freie Aussparung (4) der ersten
und/oder der zweiten Bodenbelagselemente (1) aus
dem Bodenbelagsgitter (10) überstehen.
b) Der unabhängige Sachanspruch 8 in der erteilten Fassung lautet folgendermaßen:
8.1) Bodenbelagsgitterelement (100) mit einer
Haupterstreckungsebene (101),
8.2) einer Mehrzahl von ersten Streben (102) und einer
Mehrzahl von senkrecht zu den ersten Streben
(102) angeordneten zweiten Streben (103),
dadurch gekennzeichnet,
8.3a) dass im Bereich einer ersten Randseite (104) des
Bodenbelagsgitterelements (100) die ersten
Streben (102) erste Einhängeaussparungen (105)
aufweisen und
8.3b) wobei im Bereich einer der ersten Randseite (104)
in der Haupterstreckungsebene (101)
gegenüberliegenden zweiten Randseite (106) des
Bodenbelagsgitterelements (100) die zweiten
Streben (103) zweite Einhängeaussparungen
aufweisen,
8.4) wobei das Bodenbelagsgitterelement (100) mit der
Mehrzahl von ersten Streben (102)
und der Mehrzahl von zweiten Streben (103)
einstückig hergestellt ist.
XI. Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 2
a) Die Ansprüche 1 bis 7 entsprechen den Ansprüchen 1 bis 7 des von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Hilfsantrags 4, wobei Anspruch 1 sich von Anspruch 1 in der erteilten Fassung durch die zusätzlichen Merkmale unterscheidet,
- dass in Randbereichen des Bodenbelagsgitters (10) zumindest eine freie Aussparung (4) der ersten und/oder der zweiten Bodenbelagselemente (1) aus dem Bodenbelagsgitter (10) überstehen;
- dass der Bereich einer Aussparung (4) und einem in diese eingehängten dritten Teilbereich (5) eine stoffschlüssige Verbindung zwischen der Aussparung (4) und dem dritten Teilbereich (5) umfasst.
b) Die Ansprüche 8 bis 10 entsprechen im Wesentlichen den Ansprüchen 8 bis 10 des in der angefochtenen Entscheidung behandelten Hilfsantrags 2, wobei Anspruch 8 sich von Anspruch 8 in der erteilten Fassung durch die zusätzlichen Merkmale unterscheidet,
- dass die ersten Einhängeaussparungen (105) in Richtung einer ersten Richtung parallel zu einer Flächennormalen der Haupterstreckung geöffnet sind, wobei die zweiten Einhängeaussparungen in Richtung einer antiparallel zur ersten Richtung verlaufenden zweiten Richtung geöffnet sind, so dass die entsprechenden Einhängeaussparungen zur Herstellung eines Bodenbelags aus einer Mehrzahl von Bodenbelagsgitterelementen ineinander gehängt werden können.
XII. Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 3
Die Ansprüche 1 bis 7 bleiben im Vergleich zum Hilfsantrag 2 unverändert.
Der unabhängige Sachanspruch 8 entspricht Anspruch 8 gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 6 und unterscheidet sich von Anspruch 11 in der erteilten Fassung durch die zusätzlichen Merkmale,
- dass wenigstens ein erstes Bodenbelagsgitterelement mit den ersten Einhängeaussparungen in die zweiten Einhängeaussparungen eines zweiten Bodenbelagsgitterelements eingreifen,
- wobei die Bodenbelagsgitterelemente sich gegenseitig fixieren und somit ein Verrutschen der Bodenbelagsgitterelemente (100) relativ zueinander unterbunden wird.
XIII. Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 4
Die Ansprüche 1 bis 7 entsprechen den erteilten Ansprüchen 1 bis 7.
Der unabhängige Sachanspruch 8 entspricht Anspruch 8 gemäß Hilfsantrag 3.
XIV. Zum Stand der Technik nehmen die Beteiligten in der Beschwerdebegründung und in der Beschwerdeerwiderung Bezug unter anderem auf folgende bereits in der angefochtenen Entscheidung genannte Druckschriften:
E2: DE 37 37 017 A1;
E10: US 4,111,585;
E12: US 5,509,244.
XV. Das für diese Entscheidung relevante schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag - Neuheit von Anspruch 1
Anspruch 1 definiere ein Bodenbelagsgitterelement, das in der Lage sei, einen durchgehend gleichmäßig ausgeformten Bodenbelag auszubilden. Das seitens der Einspruchsabteilung als neuheitsschädlich für den erteilten Anspruch 1 benannte Dokument E2 zeige kein zusammengebautes Bodenbelagsgitter mit Merkmal 1.7. Die von E2 gezeigten Bodenbelagsgitter werden aus einzelnen Stegen nach einem vorgegebenen gedanklichen Schema zusammengesetzt, ein spezieller Zusammenbauschritt, welcher zwingend zu dem Merkmal 1.7 führen würde, ist aber in diesem Dokument nicht offenbart. Die Figuren 5 und 14 von E2 zeigen kein fertiggestelltes Bodenbelagsgitter, sondern lediglich ein Bodenbelagsgitter als Zwischenprodukt.
b) Hilfsanträge 2 und 3 - Zulassung in das Verfahren
Die in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge 2 und 3 stellten keine Änderung des Beschwerdevorbringens dar, weil sie bereits auf Seite 15, Absatz 4 der Beschwerdebegründung gestellt worden seien. Dort heißt es:
"Soweit die Beschwerdekammer der Auflassung [sic] ist, dass die Ansprüche nach Hilfsantrag 3 oder die laut Einspruchsabteilung erteilungsfähigen Ansprüche nach Hilfsantrag 4 zusammen mit den gemäß einem der Hilfsanträge 1, 2, 5 oder 6 erteilungsfähigen Ansprüchen gewährbar sind, wird beantragt, die demgemäße Anspruchskombination aufrecht zu erhalten".
XVI. Das entsprechende schriftsätzliche und mündliche Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) Hauptantrag - Neuheit von Anspruch 1
E2 offenbare in den Figuren 5 und 14 ein Gitter aus Bauelementen (20). Wie aus der Textpassage beginnend in der Zeile 42 in der Spalte 4 der E2 hervorgeht, seien von der bedeckten Fläche her beliebig zu gestaltende, abschnittsweise miteinander verzahnende Gebilde herzustellen, insbesondere zur Begrünung von Parkflächen oder Parkplätzen. Demnach gehe daraus hervor, dass das Gitter aus Figur 14 auf einem Boden positioniert werde. Damit handle es sich bei dem Gitter um ein Bodenbelagsgitter im Sinne des Merkmals 1.1. Das Merkmal 1.1 sei somit aus der E2 vorbekannt.
Die Figur 14 zeige eine Vielzahl an Bauelementen (20), so dass auch das Merkmal 1.2 aus der E2 bekannt sei. Gemäß Anspruch 1 der E2 bestünden die Bauelemente (20) zudem aus unverrottbaren Material. Damit sei das Merkmal 1.2 aus der E2 vorbekannt.
Figur 10 von E2 zeige ein Bauelement im Detail. Es weise einen der Oberseite (2) zugewandten ersten Teilbereich (oberhalb einer gedachten Linie, die durch alle Löcher (11) verläuft) und einen zweiten Teilbereich (unterhalb einer gedachten Linie, die durch alle Löcher (11) verläuft) auf. Dabei lege die Längserstreckung des Bauelements die Haupterstreckungsrichtung fest, die parallel zur durch den ersten Teilbereich gebildeten ersten Seite (bzw. Oberseite) und parallel zur den zweiten Teilbereich gebildeten zweiten Seite verlaufe. Damit sei das Merkmal 1.3 aus der E2 vorbekannt.
Ferner sei eine Verzahnungsausnehmung 7 vorgesehen, die der anspruchsgemäßen Aussparung entspreche. Zudem sei aus der Figur 10 ein in einer senkrecht zur Längserstreckung bzw. Haupterstreckungsrichtung verlaufenden Richtung unterhalb der Verzahnungsausnehmung angeordneter Teilbereich zu erkennen. Wie aus der Figur 1 des Patents zu entnehmen sei, stelle ein solcher Teilbereich einen dritten Teilbereich im Sinne des Anspruchs 1 dar. Damit sei auch das Merkmal 1.4 aus E2 vorbekannt.
In der Spalte 4, beginnend in Zeile 57 stelle die Beschreibung von E2 klar, dass das Gitter in Figur 14 durch ein gegensinniges Ausrichten der Verzahnungsausnehmungen (6 und 7) und ein anschließendes miteinander in Eingriff bringen realisiert werde. Wie der Figur 14 zu entnehmen sei, gebe es dabei einen Satz erster Bauelemente, die parallel zueinander ausgerichtet seien, und einen Satz zweiter Bauelemente, die parallel zueinander ausgerichtet seien, wobei die ersten und die zweiten Bauelemente senkrecht zueinander verliefen. Damit seien die Merkmale 1.5 und 1.6 aus E2 vorbekannt.
Wie die Kurzbeschreibung der Figuren in der E2 feststelle, zeige Figur 14 eine Montage des Bodenbelagsgitters. Dabei sei in der unteren Hälfte ein Gitterbereich zu erkennen, von dem vier Bodenbelagselement nach oben überstünden. Von diesen vier Bodenbelagselementen seien drei in die obere linke Ecke der Figur 14 gerichtet und eine in die obere rechte Ecke der Figur 14. In diesen überstehenden Bereichen der Bodenbelagselemente sei jeweils eine Aussparung zu erkennen. Damit sei auch Merkmal 1.7 aus E2 vorbekannt, insbesondere in jeder der alternativen Ausführungsformen des Merkmals 1.7.
Folglich seien alle Merkmale des Anspruchs 1 aus E2 vorbekannt, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag nicht neu gegenüber E2 sei.
b) Hilfsanträge 2 und 3 - Zulassung in das Verfahren
Die neuen Hilfsanträge 2 und 3 seien unter Berücksichtigung von Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Verfahren zuzulassen. Sie hätten früher im Einspruchsverfahren oder im Beschwerdeverfahren eingereicht werden können. Die Beschwerdeführerin habe keine außergewöhnlichen Umstände geltend gemacht, die eine Änderung des Beschwerdevorbringens zu einem sehr späten Verfahrensstand, nämlich erst während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, rechtfertigen könnten. Die neuen Hilfsanträge 2 und 3 seien dem letzten Absatz auf Seite 15 der Beschwerdebegründung nicht entnehmbar, da daraus unklar bleibe, welche Ansprüche in diesem Zusammenhang genau gemeint seien. Der Einwand zur Neuheit im Hinblick auf E2 sei bereits von der Beschwerdeführerin selbst in ihrer Beschwerdebegründung und auch in der Beschwerdeerwiderung im Detail diskutiert worden. Auch in der Mitteilung der Kammer, die den Verfahrensbeteiligten zugestellt wurde, sei die Neuheit dementsprechend bereits adressiert worden. Eine überraschende Wendung des Falls habe daher im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht stattgefunden. Anspruch 8 gemäß Hilfsantrag 2 bzw. 3 sei zudem auf eine Anordnung von Bodenbelagsgitterelementen ausgerichtet, die im Einspruchsverfahren nicht einmal thematisiert worden sei.
1. Nachdem die Patentinhaberin die einzige Beschwerdeführerin ist, darf die Kammer die von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachtete Anspruchsfassung gemäß Hilfsantrag 4 nicht in Frage stellen (Verbot der reformatio in peius, siehe G 9/92, insbesondere Leitsatz I).
2. Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) ist am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen (Artikel 25 VOBK 2020) ist die revidierte Fassung auch auf am Tag des Inkrafttretens bereits anhängige Beschwerden anwendbar. Nach Artikel 25 (3) VOBK 2020 ist im vorliegenden Fall der Artikel 13 (2) VOBK 2020 anwendbar, da die Ladung zur mündlichen Verhandlung erst nach Inkrafttreten der revidierten Fassung zugestellt wurde.
3. Hauptantrag - Auslegung von Anspruch 1
3.1 Zwischen den Beteiligten ist die Auslegung von Anspruch 1 streitig.
3.2 Die Kammer teilt die Ansicht der Beschwerdegegnerin und der Einspruchsabteilung (Einspruchsgründe Nr. 22.5), dass der Anspruchswortlaut nicht zwingend vorschreibt, dass das beanspruchte Bodenbelagsgitter kein Zwischenprodukt, sondern ein fertiggestelltes Endprodukt ist. Der Begriff "Bodenbelagsgitter" kann nach dem allgemeinen Sprachverständnis ein Gitter als Teil eines Bodenbelags bezeichnen. Der Fachmann kann beim Lesen dieses Begriffs im Gesamtzusammenhang des Anspruchs 1 mithin verstehen, dass das Bodenbelagsgitter ein Teilbereich eines Bodenbelags ist. Beispielsweise umfasst der Anspruch 1 alternative Ausführungsformen, bei denen das Gitter ein Teilbereich eines Bodenbelags ist, der als Zwischenprodukt beim sukzessiven Zusammensetzen einzelner Bodenbelagselemente gebildet wird, wie die Beschwerdegegnerin dargelegt hat.
4. Hauptantrag - Neuheit
4.1 Die Einspruchsabteilung hat entschieden,
- dass der Gegenstand von Anspruch 1 in der Fassung gemäß Hilfsantrag 3, d. h. in der erteilten Fassung, durch E2 neuheitsschädlich vorweggenommen ist (Entscheidungsgründe Nr. 22).
4.2 Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen diese Feststellung.
4.3 Die Beschwerdegegnerin führt dagegen aus, dass der Gegenstand von Anspruch 1 im Hinblick auf E2 sehr wohl nicht neu sei.
4.4 E2 betrifft ein Bauelement (Figur 10) aus unverrottbarem Material wie beispielsweise Beton, um zu gestaltende, abschnittsweise miteinander verzahnte Gebilde herzustellen, beispielsweise großflächige Ornamente zur Begrünung von Parkflächen, Parkplätzen und dgl. Figur 14 zeigt die Montage von Bauelementen nach Figur 10. Es zeigt ein Bodenbelagsgitter als Teil eines Bodenbelags, mit einer Vielzahl von Bodenbelagselementen 20 (Figur 10), wobei das Bodenbelagselement einen eine erste Seite bildenden ersten Teilbereich (siehe Teilbereich oberhalb der Löcher 11), einen eine zweite Seite bildenden zweiten Teilbereich (siehe Teilbereich unterhalb der Löcher 11) und eine zur ersten und zur zweiten Seite parallele Haupterstreckungsrichtung aufweist, wobei der erste Teilbereich wenigstens eine den Verlauf der ersten Seite unterbrechende Aussparung (7) aufweist und der zweite Teilbereich einen in einer zur Haupterstreckungsrichtung senkrechten Richtung die Aussparung (7) überlappenden dritten Teilbereich aufweist, wobei eine Mehrzahl von ersten Bodenbelagselementen (1') in einer ersten Richtung nebeneinander und parallel zueinander angeordnet sind und eine Mehrzahl von zweiten Bodenbelagselementen in einer zur ersten Richtung senkrechten zweiten Richtung derart nebeneinander und parallel zueinander angeordnet sind, dass die dritten Teilbereiche der ersten Bodenbelagselemente in die Aussparungen der zweiten Bodenbelagselemente eingreifen, wobei in Randbereichen des Bodenbelagsgitters zumindest eine freie Aussparung der ersten und/oder der zweiten Bodenbelagselemente (1) aus dem Bodenbelagsgitter überstehen.
Damit sind alle im Anspruch 1 aufgeführten Merkmale ihrem Wortlaut nach verwirklicht, wie die Beschwerdegegnerin ausführt.
4.5 Insbesondere teilt die Kammer auch die Ansicht der Beschwerdegegnerin, dass sich die von der Beschwerdeführerin behaupteten Unterschiede zwischen dem beanspruchten Gegenstand und E2 nicht im Wortlaut von Anspruch 1 widerspiegeln (siehe Punkt 3 vorstehend).
4.6 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ist daher nicht neu in Hinblick auf E2.
5. Hilfsanträge 2 und 3 - Zulassung in das Beschwerdeverfahren
5.1 Gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
5.2 Hilfsanträge 2 und 3 wurden erstmals am Ende der mündlichen Verhandlung am 2. Februar 2021 eingereicht, nachdem alle übrigen Anträge entweder von der Kammer als nicht gewährbar erachtet oder von der Beschwerdeführerin zurückgezogen worden waren.
5.3 Der Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 2 unterscheidet sich vom dem von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Hilfsantrag 4 im Wesentlichen darin, dass ein geänderter Anspruch 8 für ein Bodenbelagsgitterelement vorhanden ist, der Anspruch 8 gemäß dem in der angefochtenen Entscheidung behandelten Hilfsantrag 2 entspricht.
5.4 Der Anspruchssatz gemäß Hilfsantrag 3 unterscheidet sich vom dem von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Hilfsantrag 4 im Wesentlichen darin, dass ein geänderter Anspruch 8 für eine Anordnung von Bodenbelagsgittern vorhanden ist, der Anspruch 8 gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 6 entspricht.
5.5 Die Beschwerdeführerin argumentierte, die neuen Hilfsanträge 2 und 3 stellten keine Änderung ihres Beschwerdevorbringens dar, weil sie bereits im Absatz 4 auf Seite 15 der Beschwerdebegründung gestellt worden seien.
5.6 Dort ist folgendes zu lesen:
"Soweit die Beschwerdekammer der Auflassung [sic] ist, dass die Ansprüche nach Hilfsantrag 3 oder die laut Einspruchsabteilung erteilungsfähigen Ansprüche nach Hilfsantrag 4 zusammen mit den gemäß einem der Hilfsanträge 1, 2, 5 oder 6 erteilungsfähigen Ansprüchen gewährbar sind, wird beantragt, die demgemäße Anspruchskombination aufrecht zu erhalten".
5.7 Die Anspruchssätze gemäß den neuen Hilfsanträgen 2 und 3 werden in dem vorstehenden Absatz der Beschwerdebegründung jedoch nicht formuliert. Insbesondere kann diesem Absatz keine hinreichend genau bestimmte Kombination einer Auswahl von Ansprüchen gemäß dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrag 4 mit einer Auswahl von Ansprüchen gemäß dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrag 2 oder von Ansprüchen gemäß dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag 6 entnommen werden. Die während der mündlichen Verhandlung neu eingereichten Hilfsanträge 2 und 3 stellen daher eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar.
Wie die Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 ausgeführt hat, wurden die - ohnehin nicht ausreichend bestimmten - möglichen Anspruchskombinationen auf Seite 15 der Beschwerdebegründung zudem nur für den Fall beantragt, dass die Beschwerdekammer zukünftig zu einer bestimmten Auffassung im Hinblick auf die Gewährbarkeit gewisser Ansprüche gelangen sollte. Der bloße Wunsch, alle diejenigen Ansprüche aus verschiedenen Anspruchssätzen kombinieren zu wollen, die gegebenenfalls von der Kammer als gewährbar erachtet werden, stellt jedoch keinen zulässigen Antrag dar.
Ferner entspricht eine derartig unklare und bedingte Antragsstellung nicht den Erfordernissen der Verfahrensordnung, wonach es einer Beschwerdeführerin obliegt, ihre Anträge deutlich auszuformulieren und diese als Anlagen der Beschwerdebegründung beizufügen (Artikel 12 (3) VOBK 2020).
5.8 Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass im vorliegenden Fall folgende außergewöhnliche Umstände eine Zulassung der Hilfsanträge 2 und 3 rechtfertigen:
- Der auf Seite 15 der Beschwerdebegründung formulierte Antrag sei verfahrensökonomisch, da andernfalls die Ansprüche in einer Vielzahl von Permutationen in einzelnen Anspruchssätzen hätten formuliert werden müssen.
- In der Beschwerdeerwiderung habe die Beschwerdegegnerin ihre erstinstanzlichen Ausführungen im Schriftsatz vom 14. November 2018 (Seiten 8 bis 12) wiederholt, dass die nach Ablauf der Einspruchsfrist von der Beschwerdegegnerin eingereichten Entgegenhaltungen E11 und E12 den Gegenstand von Anspruch 8 in der erteilten Fassung neuheitsschädlich vorwegnehmen;
5.9 Nach Ansicht der Kammer liegen keine außergewöhnlichen Umstände vor. Die Kammer teilt vielmehr die Auffassung der Beschwerdegegnerin, dass die mit Hilfsanträgen 2 und 3 beantragten Änderungen schon im Einspruchsverfahren eingereicht hätten werden können. So bestand nach der negativen Feststellung der Einspruchsabteilung betreffend den Hauptantrag im Ladungsbescheid vom 16. Juli 2018 und in der mündlichen Verhandlung am 21. März 2019 bereits Veranlassung, Anspruchsänderungen einzureichen. Dies hat die Beschwerdeführerin auch so verstanden, denn sie hat sowohl mit Schriftsatz von 21. Januar 2019 als auch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung mehrere Hilfsanträge für Anspruchsänderungen eingereicht, von denen Hilfsantrag 4 von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachtet wurde. Die erst während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgelegten Hilfsanträge 2 und 3 hätten ebenfalls schon in diesem Verfahrensstadium vorgelegt werden können. Der Umstand, dass zuvor mehrere unterschiedliche Anspruchssätze eingereicht hätten werden müssen, um den unterschiedlichen Neuheitsangriffen zu begegnen, stellt keinesfalls einen außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020. Die Beschwerdeführerin hätte vielmehr in der Tat schon zum damaligen Zeitpunkt auf die verschiedenen, im Einspruchsverfahren erörterten Neuheitsangriffe mit der Einreichung unterschiedlicher Anspruchssätze reagieren können und sollen.
5.10 Die Frage, ob E11 und E12 den Gegenstand von Anspruch 8 in der erteilten Fassung neuheitsschädlich vorwegnehmen, wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht erörtert. Die in Hilfsanträgen 2 und 3 enthaltenen Änderungen des Anspruchs 8 können also nicht als sachdienliche Reaktion auf die Entscheidung der Kammer zur Frage der Neuheit von Anspruch 1 angesehen werden.
Weder die vorläufige Stellungnahme der Kammer noch die Diskussion im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor der Kammer stellt daher eine überraschende Wendung des Verfahrens dar, die als außergewöhnlicher Umstand die Einreichung neuer Anträge rechtfertigen könnte.
6. Hilfsantrag 4 - Neuheit
Anspruch 1 entspricht dem erteilten Anspruch 1. Dementsprechend mangelt es dem Gegenstand des Anspruchs 1 aus den oben für den Hauptantrag dargelegten Gründen an Neuheit.
Der Hilfsantrag 4 ist daher nicht gewährbar.
7. Da nach alledem kein gewährbarer Anspruchssatz vorliegt, hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.