T 0153/85 (Alternativansprüche) 11-12-1986
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1. Wünscht der Beschwerdeführer, dass die Gewährbarkeit eines alternativen Anspruchssatzes im Beschwerdeverfahren geprüft wird, so müssen die Alternativansprüche in der Regel zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht oder unverzüglich nachgereicht werden.
2. Bei der Entscheidung über eine Beschwerde in der mündlichen Verhandlung kann es die Beschwerdekammer ablehnen, Alternativansprüche zu berücksichtigen, wenn sie in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium, z.B. in der mündlichen Verhandlung, eingereicht worden und nicht eindeutig gewährbar sind.
3. Bei der Beurteilung der Neuheit muss die Offenbarung einer Vorveröffentlichung für sich betrachtet werden. Neuheitsschädlich ist nur der tatsächliche Offenbarungsgehalt einer Veröffentlichung (wie er vom Fachmann verstanden wird.).
4. Die Offenbarung einer Vorveröffentlichung kann bei richtiger Auslegung (d.h. bei der Ermittlung ihres Sinngehalts für den Fachmann) eine andere Vorveröffentlichung durch einen ausdrücklichen Hinweis darauf ganz oder teilweise umfassen.
Alternativansprüche - neu eingereicht als Hauptantrag bei mündlicher Verhandlung.
Verfahrensmissbrauch
Hauptantrag zurückgewiesen/verspätet eingereicht - nicht eindeutig gewährbar
Neuheit
Auslegung einer einzelnen Veröffentlichung anhand eines Bezugsdokumentes
Bestätigung des Grundsatzes der isolierten Betrachung einer Veröffentlichung
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 11. September 1981 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 81 107 193.5, die die Priorität einer US-Voranmeldung vom 12. September 1980 in Anspruch nimmt und unter der Nummer 47999 veröffentlicht worden ist, wurde mit Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 22. Januar 1985 zurückgewiesen.
II. Die Entscheidung wurde damit begründet, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber der Lehre der Entgegenhaltung EP-A1-8894 (1) nicht neu sei.
Die Anmeldung enthielt fünf Ansprüche, von denen der erste wie folgt lautete:
"Amorphes thermoplastisches Polymer, das Gruppen der
Formel
(FORMEL I)
und
(FORMEL II)
enthält,
wobei R entweder Wasserstoff, ein C1- bis C6-Alkyl oder ein C4- bis C8-Cycloalkyl, a eine ganze Zahl von 0 bis 4 und n eine ganze Zahl von 1 bis 3 ist, die Gruppen I und II durch eine 0-Bindung aneinander gebunden sind und das Verhältnis zwischen ihnen im Bereich von 55 : 44 bis 95 : 5 liegt."
III. In der Entscheidung heißt es, daß in der Entgegenhaltung 1 Polyarylethersulfone offenbart seien, die sich weiter sulfonieren ließen und abwechselnd aufeinanderfolgende Gruppen A und B mit folgender Formel enthielten:
(a) (FORMEL)
(b) (FORMEL) Eine einfache Umwandlung der Molverhältnisse A : B in die Verhältnisse I : II (wobei I und II die abwechselnd aufeinanderfolgenden Gruppen der anmeldungsgemäßen Polymere darstellten) zeige, daß die Entgegenhaltung 1 nicht nur ein Polymer beschreibe, das die einfachsten abwechselnd aufeinanderfolgenden Gruppen der beanspruchten Polymere aufweise, sondern auch fünf spezielle Molverhältnisse, die innerhalb des beanspruchten Bereichs lägen.
In der Entscheidung heißt es weiter, daß in der Entgegenhaltung 1 zwar nicht die amorphen thermoplastischen Eigenschaften der Polymere erwähnt seien, jedoch auf ein in der Entgegenhaltung CA-A-847963 (7) beschriebenes Herstellungsverfahren Bezug genommen werde, das mit dem anmeldungsgemäßen identisch sei. Dies lege den Schluß nahe, daß die in der Entgegenhaltung 1 offenbarten bekannten Erzeugnisse und die beanspruchten Polymere ihrer Art nach im wesentlichen identisch seien und die amorphen thermoplastischen Eigenschaften daher nicht als Unterscheidungsmerkmale angesehen werden könnten. Die Entscheidung schließt mit der Feststellung, daß nach Prüfung des gesamten technischen Gehalts der Anmeldung kein Grund zu der Annahme bestehe, eine wie auch immer geartete Änderung der Ansprüche könne die Anmeldung patentwürdig machen.
IV. Am 22. März 1985 legte die Beschwerdeführerin unter Entrichtung der Beschwerdegebühr gegen die Zurückweisungsentscheidung Beschwerde ein. In der Beschwerdeschrift wurde beantragt, die erstinstanzliche Entscheidung in vollem Umfang aufzuheben, ein Patent auf der Grundlage der damals gültigen Ansprüche zu erteilen und, falls dies nicht möglich sei, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
Am 28. Mai 1985 reichte die Beschwerdeführerin eine Beschwerdebegründung zusammen mit einem Antrag auf Berücksichtigung zweier neuer Anspruchssätze ein. Der erste Anspruchssatz war auf ein "amorphes thermoplastisches Polymer" gerichtet und entsprach den Ansprüchen, die der erstinstanzlichen Entscheidung zugrunde gelegen hatten; die einzige Abweichung bestand darin, daß in Anspruch 1 die fünf in der Entgegenhaltung 1 offenbarten spezifischen Molverhältnisse ausdrücklich ausgeschlossen, also durch Disclaimer ausgenommen worden waren. Der zweite Anspruchssatz wurde hilfsweise eingereicht und entsprach ebenfalls den der Entscheidung zugrunde liegenden Ansprüchen, mit dem Unterschied, daß alle Ansprüche auf die "Verwendung" des definierten Polymers "zur Herstellung von Formteilen" gerichtet waren.
Beschwerdebegründung enthielt Argumente, die für die Neuheit und erfinderische Tätigkeit der beiden Anspruchssätze sprechen sollten.
mündliche Verhandlung wurde mit Ladung vom 14. Oktober 1986 auf den 11. Dezember 1986 anberaumt.
Schreiben vom 24. November 1986, das am 26. November 1986 beim EPA einging, wurde ein weiterer (dritter) Satz mit fünf Ansprüchen eingereicht. Dieser dritte Anspruchssatz war ebenfalls auf die Verwendung der definierten Polymere "zur Herstellung von Formteilen" gerichtet und enthielt weitere Einschränkungen. Seine Gewährbarkeit im Hinblick auf Artikel 123 EPÜ wurde auf Antrag der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung geprüft. In dieser Verhandlung schlug die Beschwerdeführerin auch einen weiteren (vierten) Alternativsatz mit zwei Ansprüchen vor. Sie erklärte diesen vierten Anspruchssatz zu ihrem Hauptantrag und den dritten zum Hilfsantrag. Der dritte Satz wurde auf die Bemerkungen der Kammer im Zusammenhang mit Artikel 123 EPÜ hingeändert und auf drei Ansprüche verkürzt.
i) Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt: "Schmelz- und oxidationsbeständiges amorphes thermoplastisches Polymer mit verringerter Viskosität von ca. 0,4 bis ca. 2,5, das Gruppen mit der Formel
(FORMEL)
enthält, wobei die Gruppen I und II durch eine O-Bindung aneinander gebunden sind und das Verhältnis zwischen ihnen im Bereich von 55 : 45 bis 95 : 5 liegt, und das durch Reaktion mit einem aktivierten aromatischen oder einem aliphatischen Halogenid stabilisiert wird."
Anspruch 2 hängt von Anspruch 1 ab und setzt ein Molverhältnis I : II im Bereich von 70 : 30 bis 85 : 15 voraus.
ii) Anspruch 1 des Hilfsantrags lautet wie folgt: "Verwendung eines amorphen thermoplastischen Polymers zur Herstellung von Preßteilen, das Gruppen der Formel
(FORMEL)
enthält, wobei die Gruppen I und II durch eine 0-Bindung aneinander gebunden sind und das Verhältnis zwischen ihnen im Bereich von 55 : 45 bis 95 : 5 liegt." Anspruch 2 ist auf denselben bevorzugten Bereich des Molverhältnisses I : II wie Anspruch 2 des Hauptantrags und Anspruch 3 auf die Verwendung eines spezifischen Polymers gerichtet.
V. Die in der Beschwerdebegründung und in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
i) Der Gegenstand der Ansprüche im Hauptantrag sei neu, weil in der Entgegenhaltung 1 weder die Schmelz- und Oxidationsbeständigkeit noch die amorphen Eigenschaften, noch die verringerte Viskosität der bekannten Polymere erwähnt seien; auch gehe aus der Entgegenhaltung 1 nicht hervor, daß die Polymere durch Reaktion mit einem aktivierten aromatischen oder aliphatischen Halogenid stabilisiert würden. Erfinderische Tätigkeit liege ebenfalls vor, da die überraschenden, nützlichen Eigenschaften nicht aus dieser Entgegenhaltung abgeleitet werden könnten.
ii) Die Verwendung der Polymere zur Herstellung von Preßteilen gemäß den Ansprüchen im Hilfsantrag sei neu, da die in der Entgegenhaltung 1 beschriebenen Polymere nur als Ausgangsstoffe zur Herstellung sulfonierter Polymere dienten. Erfinderische Tätigkeit liege auch vor, weil die beanspruchten Polymere ähnlich strukturierten in mehrerer Hinsicht überlegen seien.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Entscheidung der Prüfungsabteilung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Anspruchssatzes des Hauptantrags oder hilfsweise des Anspruchssatzes des Hilfsantrags.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. In bezug auf die Anspruchssätze des Hauptantrags und des Hilfsantrags ist zunächst zu klären, ob diese Ansprüche im Beschwerdeverfahren zugelassen werden sollen.
2.1. Zulässigkeit des Hauptantrags Wie unter Nummer IV dargelegt, wurde der Anspruch 1 des Hauptantrags erstmals in der mündlichen Verhandlung am 11. Dezember 1986, also mehr als 18 Monate nach Einreichung der Beschwerdebegründung, eingereicht. Sein Gegenstand weicht in mehrerer Hinsicht von dem des Anspruchs 1 des zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten ersten Anspruchssatzes ab. Ob der Hauptantrag zulässig ist, ist eine Grundsatzfrage.
Im Beschwerdeverfahren gilt normalerweise folgende Regel: Wünscht ein Beschwerdeführer, daß die Gewährbarkeit eines alternativen Anspruchssatzes, der sich vom Gegenstand her von dem in erster Instanz vorgelegten unterscheidet, von der Beschwerdekammer bei der Entscheidung über die Beschwerde (nicht nur im Hinblick auf Art. 123 EPÜ) geprüft wird, so müssen diese alternativen Anspruchssätze zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht oder unverzüglich nachgereicht werden.
Bei der Entscheidung über eine Beschwerde in der mündlichen Verhandlung kann es die Kammer zu Recht ablehnen, Alternativansprüche zu berücksichtigen, wenn sie in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium, z. B. in der mündlichen Verhandlung, eingereicht worden und nicht eindeutig gewährbar sind.
Der Grund für diese Standardregel ist folgender:
a) Das Verfahren für die Prüfung von Beschwerden durch die Beschwerdekammern ist in den Artikeln 108, 110 und 111 EPÜ dargelegt. Insbesondere ist nach Artikel 108 EPÜ (innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Entscheidung) "die Beschwerde schriftlich zu begründen." Der wesentliche Inhalt der Beschwerdebegründung ist kürzlich in mehreren Entscheidungen der Beschwerdekammern (siehe insbesondere die noch nicht veröffentlichte Entscheidung J 22/86, "Nichteinverständnis/MEDICAL BIOLOGICAL" vom 7. Februar 1987 und die Entscheidung T 220/83, "Beschwerdebegründung/HÜLS, ABl. EPA 1986, 249) erörtert worden.
Aus diesen Entscheidungen geht hervor, daß der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdebegründung angeben muß, aus welchen Gründen der Beschwerde stattgegeben werden soll.
Der nächste Schritt ist die Prüfung der Beschwerde nach Artikel 110 EPÜ. Dabei kann, wie Artikel 110 (1) und (2) EPÜ klar besagt, der Beschwerdeführer aufgrund der Beschwerdebegründung von der Kammer aufgefordert werden, innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zu nehmen. Im Rahmen der fristgerechten Stellungnahme kann es unter Umständen angezeigt sein, auf einen Bescheid der Kammer hin Alternativansprüche zur Prüfung vorzulegen. Ist eine mündliche Verhandlung vorgesehen, so wird diese auf einen Zeitpunkt anberaumt, zu dem die Prüfung nach Artikel 110 (2) EPÜ im wesentlichen abgeschlossen ist. Das Beschwerdeverfahren nach den Artikeln 108, 110 und 111 EPÜ soll sicherstellen, daß die mündliche Verhandlung zügig durchgeführt wird, sich auf die wesentlichen Punkte konzentriert und die Sache zur Entscheidungsreife bringt. Alternativansprüche sollten während der Prüfung der Beschwerde eingereicht werden, die hauptsächlich vom Berichterstatter durchgeführt wird. Die Einreichung zu einem späteren Zeitpunkt, beispielsweise während der mündlichen Verhandlung, wenn die Prüfung bereits im wesentlichen abgeschlossen ist, verstößt gegen das vorgeschriebene Verfahren. Die Berücksichtigung von Alternativansprüchen gehört unbedingt in die Prüfungsphase, weil sie in der Regel eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Wenn Alternativansprüche in der mündlichen Verhandlung eingereicht werden, besteht die Gefahr, daß sie unterbrochen wird.
b) Die obengenannten Grundsätze sind in den vom EPA herausgegebenen "Hinweisen für die Parteien im Beschwerdeverfahren und ihre Vertreter" klar und präzise dargelegt und zweimal im Amtsblatt (ABl. EPA 1981, 176 und ABl. EPA 1984, 376) veröffentlicht worden. Unter Nummer 2.2 "Einreichung von Änderungen" heißt es wie folgt: "Sollen im Beschwerdeverfahren Änderungen zur Beschreibung, zu den Ansprüchen oder zu den Zeichnungen einer Patentanmeldung eingereicht werden, so sollte dies so frühzeitig wie möglich geschehen." Weiter heißt es, daß "die ... Kammer Änderungen nicht zu berücksichtigen braucht, wenn ¦der Anmelder¦ sie ... nicht rechtzeitig vor dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin einreicht." Diese Bestimmungen beziehen sich zwar ausdrücklich auf die Einreichung von Änderungen, gelten jedoch eindeutig auch für die Einreichung alternativer Anspruchssätze im Wege eines Hilfsantrags. Ein Hilfsantrag ist ein Antrag auf Änderung, der erst dann zum Tragen kommt, wenn der Hauptantrag für nicht gewährbar erklärt wird.
c) In der Entscheidung T 95/83, "Nachreichung einer Änderung/AISIN", ABl. EPA 1985, 75, stellte die Beschwerdekammer fest: "Änderungen, die nicht rechtzeitig vor dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin eingereicht werden, werden von der Beschwerdekammer in der Regel nur unter ganz besonderen Umständen, d. h. wenn sowohl für die Änderung als auch für ihre verspätete Einreichung ein triftiger Grund vorliegt, in der Verhandlung sachlich berücksichtigt." Während sich diese Entscheidung auf eine konkrete Sachlage bezog, zielt die obengenannte Feststellung eindeutig darauf ab, einen Mißbrauch des Beschwerdeverfahrens in der angesprochenen Weise zu verhindern.
d) Die Befugnis der Beschwerdekammern, im Beschwerdeverfahren verspätet nachgereichte Änderungsanträge unberücksichtigt zu lassen, ergibt sich aus der Verpflichtung, über die Beschwerde zu entscheiden (s. Art. 111 (1) EPÜ).
Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ sieht ausdrücklich vor, daß die Beschwerdekammer bei der Entscheidung über eine Beschwerde "im Rahmen der Zuständigkeit des Organs tätig ¦wird¦, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat". Offensichtlich verfügen also sowohl die Prüfungs- als auch die Einspruchsabteilungen über eine gewisse Ermessensfreiheit bei der Entscheidung über Änderungsanträge in den vor ihnen stattfindenden Verfahren, von der sie nach Lage des Falles Gebrauch machen. Auch die Beschwerdekammern üben ihr Ermessen unter Berücksichtigung der besonderen Sachlage des Beschwerdeverfahrens in der bereits erwähnten Weise aus.
e) Unter normalen Umständen hat der Beschwerdeführer sowohl im erstinstanzlichen Verfahren als auch während des Beschwerdeverfahrens reichlich Zeit und Gelegenheit, den vollen Umfang des von ihm gewünschten Schutzbereichs der Ansprüche lange vor der mündlichen Verhandlung zu überdenken und zu formulieren. Je kurzfristiger vor der mündlichen Verhandlung die Alternativansprüche eingereicht werden, desto größer ist die Gefahr, daß sie unberücksichtigt bleiben. Grundsätzlich können die Kammern jedoch mit Rücksicht auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ausnahmsweise beschließen, verspätet eingereichte Ansprüche zu berücksichtigen, sofern sowohl die Kammer als auch alle am Beschwerdeverfahren Beteiligten ausreichend Gelegenheit erhalten haben, ihre Gewährbarkeit zu prüfen.
2.2. In Anbetracht dessen weist die Kammer im vorliegenden Fall den Hauptantrag der Beschwerdeführerin zurück, weil er in der mündlichen Verhandlung eingereicht worden ist, ohne daß ein triftiger Grund für die Verspätung vorlag; die Zurückweisung erfolgt (in diesem besonderen Fall) auch deshalb, weil die Kammer der Auffassung ist, daß den in dem Antrag enthaltenen Ansprüchen eindeutig Artikel 52 (1) EPÜ entgegensteht.
2.3. Zulässigkeit des Hilfsantrags
Wie unter Nummer IV dargelegt, wurde dieser Anspruchssatz rund zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung eingereicht; die Kammer hat unter den gegebenen Umständen in der mündlichen Verhandlung beschlossen, den Hilfsantrag zuzulassen.
3. Zulässigkeit der Änderungen im Haupt- und im Hilfsantrag (Keine Einwände nach Artikel 123 EPÜ gegen die beiden Anspruchssätze im Haupt- und im Hilfsantrag)
4. Hauptantrag - Patentierbarkeit
4.1. (...)
(Die Kammer legt dar, daß die Entgegenhaltung 1 den gesamten in der Anmeldung beanspruchten Bereich von 95 : 5 bis 55 : 45 vorwegnimmt.)
4.2. In der Entgegenhaltung 1 sind einige Merkmale des Anspruchs 1, d. h. i) die Schmelz- und Oxidationsbeständigkeit, ii) die amorphen Eigenschaften und iii) die verringerte Viskosität, nicht erwähnt; auch wird darin nicht angegeben, daß iv) die Polymere nach Polykondensation durch Reaktion mit einem aktivierten aromatischen oder aliphatischen Halogenid stabilisiert werden. Alle diese Merkmale sind erstmals in Anspruch 1 des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hauptantrags aufgenommen worden. Die entscheidende Frage lautet also, ob sie Unterschiede zwischen den bekannten und den beanspruchten Polymeren beinhalten und damit dem Anspruch Neuheit verleihen.
In der Entgegenhaltung 1 heißt es, daß "Copolymere, die die abwechselnd aufeinanderfolgenden Gruppen A und B aufweisen, zweckmäßig durch Kondensation des entsprechenden Dihydroxyphenols (d. h. Hydrochinon), 4,4'- Dihydroxydiphenylsulfons und 4,4'-Dichlordiphenylsulfons mit einem Alkalimetallcarbonat oder -bicarbonat in Gegenwart eines Sulfon- oder Sulfoxid-Lösungsmittels unter Verwendung des in der Druckschrift CA-A-847963 (7) beschriebenen Verfahrens zur Herstellung von Polyarylenpolyethern hergestellt werden können" (s. Entgegenhaltung 1, S. 3, Zeilen 15 bis 22). Bei der Beurteilung der Neuheit muß die Offenbarung einer Vorveröffentlichung immer für sich betrachtet werden; mit anderen Worten, neuheitsschädlich ist nur der tatsächliche Offenbarungsgehalt einer Veröffentlichung (wie er vom Fachmann verstanden wird). Es ist nicht zulässig, verschiedene Vorveröffentlichungen zu "kombinieren". Enthält jedoch, wie im vorliegenden Fall, eine Vorveröffentlichung (das "Hauptdokument") einen ausdrücklichen Hinweis auf eine andere Vorveröffentlichung, so kann dies zur Folge haben, daß bei der Auslegung des Hauptdokuments (d. h. bei der Ermittlung seines Sinngehalts für den Fachmann) die Offenbarung der zweiten Vorveröffentlichung ganz oder teilweise als Bestandteil der Offenbarung des Hauptdokuments angesehen werden muß. Im vorliegenden Fall ist bei richtiger Auslegung der Entgegenhaltung 1 (des Hauptdokuments) das in der Entgegenhaltung 7 beschriebene Herstellungsverfahren durch einen Hinweis darauf in die Offenbarung der Entgegenhaltung 1 einbezogen worden. Außerdem ist dieses Verfahren für die Herstellung der Copolymere nach Anspruch 1 der Anmeldung (Beschreibung, S. 5, Zeile 5 bis S. 9, Zeile 9) genau das richtige. Daß das anmeldungsgemäße Verfahren mit denen der Entgegenhaltungen 1 und 7 identisch ist, ist für den tatsächlichen Offenbarungsgehalt der Entgegenhaltung 1 in bezug auf die obengenannten, in der Entgegenhaltung 1 nicht ausdrücklich erwähnten Merkmale des Anspruchs 1 zweifelsohne höchst relevant.
4.3. In der Entgegenhaltung 1 wird über die Merkmale i und ii, d. h. die Schmelz- und Oxidationsbeständigkeit und die amorphen Eigenschaften der Polyarylethersulfone, nichts ausgesagt. Die Entgegenhaltung 7 erwähnt jedoch sowohl die Oxidations- als auch die chemische Beständigkeit speziell bei den Polymeren nach Beispiel 13. Obwohl dies objektiv gesehen nicht als allgemeine Feststellung gelten kann, läßt sich bis zum Beweis des Gegenteils nicht bestreiten, daß identische Verfahrensmerkmale, angewandt auf identische Ausgangsstoffe, zwangsläufig zu identischen Endprodukten führen müssen; somit müssen die nach der Entgegenhaltung 1 hergestellten Polymere zwangsläufig die obengenannten, in Anspruch 1 der vorliegenden Anmeldung beanspruchten Eigenschaften aufweisen. Die Angabe dieser Eigenschaften ist somit als eine Aufzählung rein deskriptiver Merkmale zu betrachten, die dem Gegenstand des Anspruchs 1 keine Neuheit verleihen können.
4.4. Was das Merkmal iii, die verringerte Viskosität, anbelangt, so liegt es selbst dann, wenn die Wahl des zum Messen der verringerten Viskosität benutzten Lösungsmittels keinen nennenswerten Einfluß auf den beanspruchten Bereich hat, auf der Hand, daß dieses Lösungsmittel nicht nur in der Beschreibung (S. 5, Zeilen 1 bis 4) sondern auch im Anspruch 1 hätte genannt werden müssen. (Erörterung der Neuheit des Merkmals iii gegenüber der Entgegenhaltung 7, die durch einen entsprechenden Hinweis in die Entgegenhaltung 1 aufgenommen worden ist) Der Bereich verringerter Viskosität, der in Anspruch 1 genannt wird, entspricht durchaus üblichen Werten, die auch in der Entgegenhaltung 1 im einzelnen offenbart sind; es liegt somit keine enge Auswahl aus der Entgegenhaltung 1 vor, so daß der beanspruchte Bereich ihr gegenüber nicht als Unterscheidungsmerkmal gelten und damit dem Anspruch 1 auch keine Neuheit verleihen kann.
4.5. Zu Merkmal iv: Wie unter Nummer 4.2 dargelegt, wird das in der Entgegenhaltung 7 beschriebene Verfahren zur Herstellung von Polyarylenpolyethern durch einen Hinweis darauf im Zusammenhang mit der Herstellung von Copolymeren mit den abwechselnd aufeinanderfolgenden Gruppen A und B in die Entgegenhaltung 1 einbezogen. Zu dem in der Entgegenhaltung 7 beschriebenen Herstellungsverfahren gehört auch die Regelung des Molekulargewichts des Polymers. Bei einem der beiden im einzelnen beschriebenen Verfahren zur Regelung des Molekulargewichts wird "die Polymerkettenbildung durch Zusatz eines monofunktionalen Kettenabbrechers wie z. B. eines Alkylhalogenids oder anderen geeigneten Coreaktanten abgebrochen" (S. 11, Zeilen 6 bis 11). Dieses Verfahren ist in den Beispielen 3, 11 und 14, bei denen Methylchlorid verwendet wird, im einzelnen dargestellt. Das zweite genau beschriebene Verfahren zur Regelung des Molekulargewichts wird laut der Druckschrift aus Gründen bevorzugt, die mit der leichteren Reinigung des Polymers zusammenhängen; die Verwendung eines Kettenabbrechers wird jedoch als "zur Erzielung eines stabileren Polymers zweckmäßig" empfohlen (S. 11, Zeilen 14 bis 20).
Es besteht kein Zweifel daran, daß die Verwendung eines Kettenabbrechers wie z. B. eines Alkylhalogenids als Teil des in der Entgegenhaltung 7 beschriebenen Herstellungsverfahrens ausdrücklich offenbart wird. Außerdem ist dieses Herstellungsverfahren, wie bereits dargelegt, durch einen entsprechenden Hinweis in die Offenbarung der Entgegenhaltung 1 einbezogen worden. Daraus folgt, daß die Entgegenhaltung 1 die Stabilisierung der Reaktion mit einem Alkylhalogenid oder anderen geeigneten Reaktanten offenbart.
Somit ist dieses Merkmal des Anspruchs 1 bei richtiger Auslegung in der Entgegenhaltung 1 enthalten.
4.6. Zusammenfassend stellt die Kammer fest, daß die Offenbarung der Entgegenhaltung 1 für den Gegenstand der Ansprüche 1 und 2 neuheitsschädlich ist, wenn sie unter Berücksichtigung des ausdrücklichen Hinweises auf die Entgegenhaltung 7 ausgelegt wird; diesen Ansprüchen stehen somit die Artikel 52 (1) und 54 (1) EPÜ entgegen.
4.7. Die Kammer hat zwar im vorliegenden Fall ausführlich dargelegt, weshalb sie den Hauptantrag als verfahrensrechtlich unzulässig (verspätete Einreichung) und sachlich nicht gewährbar (mangelnde Neuheit) zurückgewiesen hat; sie kann jedoch künftig Anträge auch nur unter Berufung auf die unter Nummer 2 genannten Grundsätze als unzulässig verwerfen.
5. Hilfsantrag - Patentierbarkeit
Was den Hilfsantrag anbelangt, so kann dem Gegenstand des Anspruchs 1 Neuheit zuerkannt werden.
Die in der Entgegenhaltung 1 hergestellten Polymere werden im weiteren Verlauf einer kontrollierten Sulfonierung unterzogen, um ihre Hydrophilie so weit zu erhöhen, daß sie einer Wasserabsorptionsfähigkeit von rund 2 Gew.-% Wasser bei Raumtemperatur entspricht (S. 2, Zeilen 22 bis 26). Da in der Entscheidung der Prüfungsabteilung die Anmeldung nur wegen mangelnder Neuheit zurückgewiesen, auf die Frage der erfinderischen Tätigkeit aber nicht eingegangen worden ist, ist die Sache zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben.
2. Der Hauptantrag wird zurückgewiesen.
3. Die Sache wird zur weiteren Sachprüfung auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 3 des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsantrags an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.