G 0001/21 (Mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz) 16-07-2021
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Zulässigkeit der Vorlage (bejaht)
Mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz im Falle eines allgemeinen Notfalls
Bedeutung des Einverständnisses der Beteiligten
Sachverhalt und Anträge
I. In der Sache T 1807/15 teilte der Vorsitzende der Beschwerdekammer 3.5.02 den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2021 mit, dass die Kammer gemäß Artikel 112 EPÜ die Große Beschwerdekammer befassen werde.
II. Mit Zwischenentscheidung vom 12. März 2021 hat sie die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem in Artikel 116 (1) EPÜ verankerten Recht auf mündliche Verhandlung vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben?
III. Bezüglich des Beschwerdeverfahrens T 1807/15 sind die folgenden Punkte festzuhalten.
IV. Die Beschwerde war von der Einsprechenden gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung eingelegt worden, das europäische Patent Nr. 1609239 in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten. Die vorlegende Kammer hatte die Beteiligten zu einer mündlichen Verhandlung am 3. Juni 2020 geladen. Die Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin hatte aufgrund der COVID-19-Pandemie eine Verlegung der Verhandlung beantragt. Daraufhin war die Verhandlung für den 8. Februar 2021 anberaumt worden. Die Beschwerdegegnerin hatte sodann eine erneute Verlegung beantragt und erklärt, dass eine Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht zuletzt deswegen ungeeignet sei, weil sie simultan verdolmetscht werden müsse. Darin hatte die Beschwerdeführerin ihr zugestimmt. Obwohl die Beteiligten also nicht ihr Einverständnis erklärt hatten, hielt die Kammer an der Ladung zur mündlichen Verhandlung für den 8. Februar 2021 und an ihrer Durchführung in Form einer Videokonferenz fest.
V. Die Beschwerdeführerin hatte schriftlich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents beantragt. Außerdem beantragte sie in der mündlichen Verhandlung hilfsweise die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der Frage, ob eine mündliche Verhandlung nach Artikel 116 EPÜ ohne das Einverständnis der Beteiligten durch eine Videokonferenz ersetzt werden könne. Laut der Niederschrift der mündlichen Verhandlung war nur dieser Hilfsantrag erörtert worden.
VI. Zur Vermeidung eines etwaigen Verfahrensmangels hielt es die Kammer für angemessen, die Rechtslage durch eine Befassung der Großen Beschwerdekammer klären zu lassen. Die Große Beschwerdekammer geht davon aus, dass die Kammer die Beteiligten nach Beantwortung der Vorlagefrage erneut zu einer mündlichen Verhandlung laden wird, um den Hauptantrag zu erörtern, und dass es von der Antwort abhängt, in welcher Form diese mündliche Verhandlung stattfinden wird. Dies geht aus Nummer 2.3 der Begründung der Vorlageentscheidung hervor, wonach die Kammer "keinen Grund sieht, nicht von dem Format der Videokonferenz Gebrauch zu machen, sofern die Große Beschwerdekammer es als mit Artikel 116 EPÜ vereinbar erachtet."
VII. Nach der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, in der eine Befassung der Großen Beschwerdekammer angekündigt wurde, nahm die Beschwerdeführerin ihren Hilfsantrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer zurück. Dennoch erließ die Kammer eine schriftliche Entscheidung mit der oben angegebenen Frage an die Große Beschwerdekammer.
VIII. Am 17. März 2021 entschied der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer, in welcher Besetzung diese unter dem Aktenzeichen G 1/21 über die Vorlage entscheiden würde. Am selben Tag forderte die Große Beschwerdekammer die Beteiligten in der Beschwerdesache T 1807/15 und den Präsidenten des Europäischen Patentamts auf, sich zu der Vorlagefrage zu äußern; mit Mitteilung vom 24. März 2021 lud sie die Öffentlichkeit ein, schriftlich zu der Vorlagefrage Stellung zu nehmen.
IX. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass eine Videokonferenz zwar unter bestimmten Voraussetzungen ein akzeptables Format für die mündliche Verhandlung sein könne, davon aber nur mit dem Einverständnis der Beteiligten Gebrauch gemacht werden sollte. Der Präsident des EPA erklärte in seiner Stellungnahme, Videokonferenzen seien eine den mündlichen Präsenzverhandlungen gleichwertige Form, die sich in der jüngeren Vergangenheit als erfolgreicher Weg zur Bewältigung der mit der COVID-19-Pandemie verbundenen Herausforderungen erwiesen habe. Er sprach sich nachdrücklich dafür aus, die Entscheidung über das Format der mündlichen Verhandlung dem EPA bzw. den Beschwerdekammern und nicht den Beteiligten zu überlassen. Die Beschwerdegegnerin reichte weder ein schriftliches Vorbringen zur Vorlagefrage ein noch nahm sie an einer der mündlichen Verhandlungen vor der Großen Beschwerdekammer teil.
X. Bei Dritten stieß die Vorlage auf großes Interesse. Es gingen über 50 Amicus-curiae-Schriftsätze und Einwendungen Dritter mit Verweis auf Artikel 115 EPÜ von verschiedensten Organisationen, Unternehmen, Patentanwaltskanzleien und Einzelpersonen ein. Darin wurde mehrheitlich eine Verneinung der Vorlagefrage befürwortet, auch wenn viele zum Ausdruck brachten, dass es vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie gerechtfertigt sein könnte, mündliche Verhandlungen ohne das Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz durchzuführen. Ferner wurde vorgebracht, dass die pandemiebedingten Maßnahmen des EPA und der Beschwerdekammern nicht über das Ende der Pandemie hinaus verlängert werden und dementsprechend nicht zur "neuen Normalität" gehören sollten. Eine Minderheit erachtete als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen als nützliche Alternative zu mündlichen Präsenzverhandlungen. Einige vertraten die Ansicht, dass die Wahl dieses Formats nicht vom Einverständnis eines oder aller Beteiligten abhängig sein sollte.
XI. Mit Vorbringen vom 27. April 2021 erhob die Beschwerdeführerin einen Einwand nach Artikel 24 (3) EPÜ gegen den Vorsitzenden und zwei Mitglieder der Großen Beschwerdekammer wegen Besorgnis der Befangenheit. Er wurde auf die Beteiligung des Vorsitzenden und der beiden betreffenden Mitglieder an der Ausarbeitung des Artikels 15a der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) gestützt. Dieser mit "Als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung" überschriebene Artikel war vom Präsidenten der Beschwerdekammern vorgeschlagen, vom Beschwerdekammerausschuss angenommen und am 23. März 2021 vom Verwaltungsrat beschlossen worden. Am 1. April 2021 trat er in Kraft. Ein weiteres Mitglied wies die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 24 (2) EPÜ auf seine Beteiligung an der Ausarbeitung des Artikels 15a VOBK hin, und ersuchte sie, über seine weitere Mitwirkung an der Vorlagesache zu entscheiden. Der Einwand wurde für zulässig befunden und als Reaktion darauf die Besetzung der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 1/21 geändert, indem die betreffenden Mitglieder durch ihre Vertreter ersetzt wurden.
XII. Mit Zwischenentscheidung vom 17. Mai 2021 entschied die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 24 (4) EPÜ, das ihr Vorsitzender und das Mitglied, das die Große Kammer gemäß Artikel 24 (2) EPÜ unterrichtet hatte, nicht an der Behandlung der Vorlagesache mitwirken sollten. Ihre Besetzung in der Sache G 1/21 wurde daraufhin mit Verfügung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer vom 20. Mai 2021 geändert.
XIII. Mit Verfügung vom 17. März 2021 waren die Beteiligten und der Präsident des EPA zur mündlichen Verhandlung am 28. Mai 2021 geladen worden. Mit Schreiben vom 24. Mai 2021 erhob die Beschwerdeführerin vier weitere Einwände gegen die internen Mitglieder der Großen Beschwerdekammer in ihrer neuen Besetzung wegen der Besorgnis der Befangenheit bzw. wegen eines persönlichen Interesses und reichte zehn, mit 1 bis 11 bezeichnete Verfahrensanträge ein (es gab keinen Antrag Nr. 10).
XIV. Mit einer vom 27. Mai 2021 datierten (aber am 26. Mai 2021 versandten) Mitteilung unterrichtete die Große Beschwerdekammer die Beschwerdeführerin, dass sie den ersten Verfahrensantrag auf Verlegung der für den 28. Mai 2021 anberaumten mündlichen Verhandlung zurückweise und dem zweiten Verfahrensantrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu den vier neuen Einwänden stattgebe, zumindest insoweit, als deren Zulässigkeit in der mündlichen Verhandlung am 28. Mai 2021 erörtert werde.
XV. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden mit der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung am 28. Mai 2021 die Zulässigkeit der vier neuen Einwände und ihre Verfahrensanträge 3 bis 11 erörtert. Die Entscheidungen über die Zulässigkeit der Einwände und über die Verfahrensanträge wurden sodann im öffentlichen Teil der mündlichen Verhandlung verkündet. Die Große Beschwerdekammer entschied, die vier neuen Einwände als unzulässig zurückzuweisen. Ebenso wies sie die Verfahrensanträge 3 bis 11 zurück. Begründet hat die Große Beschwerdekammer diese Entscheidungen in ihrer zweiten Zwischenentscheidung, die am 28. Juni 2021 erging.
XVI. In der mündlichen Verhandlung beanstandete die Beschwerdeführerin, dass ihr die schriftlichen Äußerungen des Präsidenten des EPA nicht so rechtzeitig übermittelt worden seien, dass sie dazu hätte Stellung nehmen können. Dadurch sei ihr Recht gemäß Artikel 9 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer, zu diesen Äußerungen Stellung zu nehmen, verletzt worden.
XVII. Nach Erörterung dieser Frage entschied die Große Beschwerdekammer, der Beschwerdeführerin mehr Zeit für eine Stellungnahme zu den Äußerungen des EPA-Präsidenten einzuräumen, und vertagte die Erörterung der Vorlagefrage. Als Frist für diese Stellungnahme wurde der 25. Juni 2021 vereinbart; außerdem wurde eine Vertagung der mündlichen Verhandlung auf Anfang Juli 2021 vereinbart.
XVIII. Die Beteiligten wurden zu einer weiteren mündlichen Verhandlung am 2. Juli 2021 geladen; auch der Präsident des EPA wurde zur Teilnahme eingeladen. Am 25. Juni 2021 reichte die Beschwerdeführerin ihre Stellungnahme zu den Äußerungen des EPA-Präsidenten ein.
XIX. Mit einem weiteren Schreiben vom 30. Juni 2021 richtete sie einen Antrag an den Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer, die Besetzung der Großen Beschwerdekammer für die Behandlung der Vorlage G 1/21 zu korrigieren. Dieses Schreiben war als Erwiderung auf die Zurückweisung ihrer Verfahrensanträge 7 und 8 durch die Große Beschwerdekammer formuliert. Darin hatte die Beschwerdeführerin beantragt,
"7. die zu ersetzenden Kammermitglieder C. Josefsson und I. Beckedorf durch Vertreter gemäß Artikel 2 (1) b) des Geschäftsverteilungsplans der Großen Beschwerdekammer zu ersetzen,
8. den Vertreter des Vorsitzenden gemäß Artikel 2 (2) des Geschäftsverteilungsplans der Großen Beschwerdekammer zu bestellen."
XX. Die Große Beschwerdekammer hatte diese Anträge in ihrer zweiten Zwischenentscheidung zurückgewiesen (s. vorstehende Nr. XV), weil ihrer Ansicht nach die Korrektur der Besetzung, in der sich die Große Beschwerdekammer mit einer Vorlage befasst, in die Zuständigkeit ihres Vorsitzenden fällt (s. Nrn. 34 bis 36 der Entscheidungsgründe).
XXI. In der mündlichen Verhandlung am 2. Juli 2021 warf die Beschwerdeführerin erneut die Frage der Besetzung auf, in der sich die Große Beschwerdekammer mit G 1/21 befasse. Sie verstehe, dass die Große Beschwerdekammer selbst nicht zur Änderung ihrer Besetzung befugt sei, doch sollte das Verfahren nicht fortgesetzt werden, solange die falsche Besetzung nicht korrigiert sei. Insbesondere beantragte sie, dass sich die Große Beschwerdekammer aufgrund ihrer falschen Besetzung als für die Behandlung der Vorlage nicht zuständig erklären solle. Ferner beantragte sie, die mündliche Verhandlung solange zu vertagen, bis die Große Beschwerdekammer korrekt besetzt sei. Nachdem beide Anträge erörtert worden waren und die Große Beschwerdekammer darüber beraten hatte, verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer, sie zurückzuweisen. Die Gründe für die Zurückweisung der beiden Anträge sind nachstehend unter Nummer 1 bis 4 dargelegt.
XXII. Der verbleibende Teil der mündlichen Verhandlung am 2. Juli 2021 war der Erörterung der Vorlagefrage mit der Beschwerdeführerin und den Vertretern des EPA-Präsidenten gewidmet. Nach Beendigung der sachlichen Debatte und nach einer Beratung der Großen Beschwerdekammer verkündete der Vorsitzende, dass das Verfahren schriftlich fortgesetzt werde.
XXIII. Mit Mitteilung vom 13. Juli 2021 teilte der Vorsitzende der Beschwerdeführerin seine Entscheidung mit, ihren Antrag auf Änderung der Besetzung, in der sich die Große Beschwerdekammer mit G 1/21 befassen werde, zurückzuweisen.
XXIV. Am 16. Juli 2021 erließ die Große Beschwerdekammer die vorliegende Entscheidung.
Entscheidungsgründe
A. Verfahrensfragen
1. In der mündlichen Verhandlung am 2. Juli 2021 hat die Beschwerdeführerin beantragt, dass sich die Große Beschwerdekammer aufgrund ihrer falschen Besetzung als für die Behandlung der Vorlage nicht zuständig erklären solle. Ferner hat sie beantragt, die mündliche Verhandlung solange zu vertagen, bis der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer die Besetzung korrigiert habe.
2. Der erste Antrag der Beschwerdeführerin basiert auf der Annahme, dass eine falsche Besetzung zu der Rechtsfolge führt, dass die falsch besetzte Kammer nicht zuständig ist. Nirgendwo im EPÜ ist jedoch vorgesehen, dass sich eine vom Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer besetzte Kammer aufgrund ihrer Besetzung für nicht zuständig erklären kann. Schon aus diesem Grund kann dem Antrag nicht stattgegeben werden.
3. Zudem ist die Große Beschwerdekammer, wie bereits in der zweiten Zwischenentscheidung vom 28. Juni 2021 ausgeführt, nicht befugt, ihre Besetzung auf andere als die in Artikel 24 EPÜ vorgesehene Weise zu ändern. Müsste die Besetzung der Großen Beschwerdekammer korrigiert werden, obläge es dem Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer, dies zu tun. Aus diesem Grund hat die Große Beschwerdekammer in ihrer zweiten Zwischenentscheidung auch davon Abstand genommen, sich zu der Behauptung zu äußern, ihre Besetzung, in der sie sich mit G 1/21 befassen werde, sei falsch. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass sie mangels Befugnis zur Änderung ihrer Besetzung auch nicht befugt ist, sich aufgrund eines vermeintlichen Problems mit ihrer Besetzung als für die Behandlung der Vorlage nicht zuständig zu erklären.
4. Mit ihrem Antrag auf Vertagung der mündlichen Verhandlung, bis die Besetzung der Großen Beschwerdekammer korrigiert sei, ersuchte die Beschwerdeführerin die Große Beschwerdekammer um eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens, bis deren Vorsitzender über ihren Antrag auf Neubesetzung der Kammer (positiv) entschieden hat. Dieser Antrag erfordert eine Interessenabwägung durch die Große Beschwerdekammer. Auf der einen Seite hat die Beschwerdeführerin ein Interesse daran, dass rechtmäßig bestellte Richter über die Vorlage entscheiden. Auf der anderen Seite sollte im Interesse der Rechtssicherheit der Entscheidungsprozess in dieser Vorlagesache nicht unnötig verzögert werden. Die Große Beschwerdekammer hat die Argumente der Beschwerdeführerin geprüft und ist zu dem Schluss gelangt, dass sie nicht so zwingend sind, dass sie eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens bis zur Entscheidung über den Antrag rechtfertigen würden. Zudem zielte der Antrag ihrer Auffassung nach darauf ab, die mündliche Verhandlung zu vertagen, bis die Besetzung der Kammer so geändert wurde, dass sie nach Meinung der Beschwerdeführerin korrekt war. Es wäre jedoch falsch gewesen, die Fortsetzung des Verfahrens davon abhängig zu machen, ob die Beschwerdeführerin mit der Entscheidung über ihren Antrag einverstanden ist.
B. Verfahren vor der vorlegenden Kammer
5. Wie unter Nummer IV dargelegt, war die mündliche Verhandlung in der Beschwerdesache T 1807/15 zunächst für den 3. Juni 2020 anberaumt, dann aber auf Antrag der Beschwerdegegnerin auf den neuen Termin am 8. Februar 2021 verlegt worden. Am 5. Mai 2020 hatte die Beschwerdegegnerin, ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz und im Beschwerdeverfahren vertreten durch eine Kanzlei aus dem Vereinigten Königreich, beantragt, die mündliche Verhandlung bis nach Ende des COVID-19-Ausbruchs zu verlegen. Sie hatte ferner erklärt, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz im vorliegenden Fall ungeeignet sei, weil die Verhandlung simultan verdolmetscht werde und sich der Anwalt und seine Mandantin zudem von unterschiedlichen Orten aus zuschalten würden und es somit für sie schwierig sei, sich während der Verhandlung auszutauschen.
6. Als die Entscheidung über die Verlegung fiel, hatten die Beschwerdekammern begonnen, mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchzuführen, allerdings nur mit dem Einverständnis der Beteiligten (s. die ab 6. Mai 2020 auf der Website des EPA veröffentlichten einschlägigen Mitteilungen der Beschwerdekammern). Diese Regelung hatte für den Rest des Jahres 2020 Bestand. Ende 2020 war der COVID-19-Ausbruch noch nicht vorbei. Folglich galten weiterhin Reisebeschränkungen in Europa, und auch der Zugang für externe Personen zu den Räumlichkeiten des EPA war weiterhin beschränkt.
7. Mit Schreiben vom 8. Januar 2021 beantragte die Beschwerdegegnerin - erneut mit Verweis auf den COVID-19-Ausbruch und die Reisebeschränkungen - eine Verlegung der für den 8. Februar 2021 anberaumten mündlichen Verhandlung. Außerdem vertrat sie die Ansicht, dass sich die Beschwerdesache nicht für eine Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz eigne. Die Beschwerdeführerin pflichtete ihr bei.
8. Zwischenzeitlich, nämlich am 15. Dezember 2020, war auf der Website des EPA eine Mitteilung der Beschwerdekammern mit dem Titel "Mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern - Fortführung der aufgrund der Coronavirus-Pandemie (COVID-19) getroffenen Maßnahmen und überarbeitete Praxis hinsichtlich der Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz" veröffentlicht worden (s. epo.org/law-practice/case-law-appeals/communications/2020/20201215_de.html). Darin hieß es: "Ab dem 1. Januar 2021 können die Kammern auch ohne Einverständnis der Beteiligten mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchführen, wie nun im neuen vom Beschwerdekammerausschuss beschlossenen Artikel 15a VOBK klargestellt wird. Da die neue Bestimmung lediglich eine bestehende Möglichkeit klarstellt, können die Kammern schon vor deren Inkrafttreten ihre Praxis anpassen und darauf verzichten, das Einverständnis der betreffenden Beteiligten einzuholen."
9. Die Kammer wies den Antrag auf Verlegung zurück und behielt den ursprünglich anberaumten Termin der mündlichen Verhandlung bei, änderte das Format jedoch zu einer Videokonferenz. In der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin per E-Mail Folgendes: "Hiermit stellen wir den Hilfsantrag, der Großen Beschwerdekammer die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob eine mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPC durch eine Videokonferenz ersetzt werden kann, wenn die Parteien dem nicht zustimmen."
10. Der Antrag der Beschwerdeführerin wurde in der mündlichen Verhandlung erörtert, im Anschluss erklärte die Kammer, dass sie die Große Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage befassen werde. Die Beschwerdeführerin nahm daraufhin am 8. März 2021 ihren Antrag zurück. Mit Zwischenentscheidung vom 12. März 2021 legte die Kammer folgende Rechtsfrage vor:
"Ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem in Artikel 116 (1) EPÜ verankerten Recht auf mündliche Verhandlung vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben?"
C. Vorlagefrage
C.1 Zulässigkeit
11. Nach Artikel 112 (1) EPÜ befasst eine Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält.
12. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer sind diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt. Es gibt - einige wenige - Entscheidungen der Beschwerdekammern, in denen die Auffassung vertreten wird, dass eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung eine mündliche Verhandlung im Sinne des Artikels 116 EPÜ ist (s. T 1378/16, T 2068/14 und T 2320/16) und das Einverständnis mit der Durchführung als Videokonferenz nicht mit dem Verzicht auf die mündliche Verhandlung gleichzusetzen ist. Dies hat die vorlegende Kammer hinterfragt. Folglich könnte die Vorlage dazu dienen, eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen.
13. Die vorgelegte Rechtsfrage ist zudem aus zwei Gründen von grundsätzlicher Bedeutung: Erstens ist allein schon die Frage, ob eine Praxis der Beschwerdekammern mit einer Vorschrift des EPÜ vereinbar ist, die das Recht der Beteiligten betrifft, mündlich gehört zu werden, von grundsätzlicher Bedeutung. Zweitens findet in den meisten Beschwerdeverfahren eine mündliche Verhandlung statt, sodass die Frage für eine Vielzahl von Fällen relevant ist. Außerdem ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass eine Beantwortung der Frage für die von der vorlegenden Kammer zu treffende Entscheidung erforderlich ist, ob sie die anstehende mündliche Verhandlung zur Erörterung des Hauptantrags der Beschwerdeführerin als Präsenzverhandlung oder als Videokonferenz durchführt.
C.2 Umfang der Vorlage
14. Was den Umfang der Vorlage angeht, so hält die Große Beschwerdekammer sie in zwei Aspekten für breiter formuliert, als es für die von der vorlegenden Kammer zu treffende Entscheidung erforderlich ist. Erstens geht es in der Beschwerdesache T 1807/15 darum, ob die Kammer die Beteiligten ohne deren Einverständnis zu einer als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung laden darf, und nicht darum, ob ein erstinstanzliches Organ dies darf. Zweitens ergab sich die Frage der mündlichen Verhandlung und des Einverständnisses bzw. der Zustimmung der Beteiligten, wie aus der Historie des vor der vorlegenden Kammer verhandelten Falls eindeutig hervorgeht, während und aufgrund der COVID-19-Pandemie. Sie ergab sich, weil die Durchführung einer mündlichen Präsenzverhandlung zur fraglichen Zeit nicht möglich bzw. mit Rücksicht auf die öffentliche Gesundheit nicht angezeigt war, denn dafür hätten die Beteiligten an den Sitz der Beschwerdekammern in Haar reisen und auch die Mitglieder der vorlegenden Kammer vor Ort physisch anwesend sein müssen.
15. Die vorlegende Kammer stand also vor der Wahl, die Beteiligten zu einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz zu laden oder die mündliche Verhandlung zu verlegen, bis diese wieder als Präsenzverhandlung durchgeführt werden könnte. Dies ist etwas grundsätzlich anderes als die Wahl zwischen einer mündlichen Präsenzverhandlung und einer als Videokonferenz durchgeführten Verhandlung.
16. In dieser Hinsicht hält es die Große Beschwerdekammer daher für gerechtfertigt, die Vorlagefrage auf mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern zu beschränken und den besonderen Rahmen der Vorlage, d. h. die COVID-19-Pandemie, zu berücksichtigen. Dies steht in Einklang mit den früheren Entscheidungen G 1/19 (ABl. EPA 2021, A77) und G 2/19 (ABl. EPA 2020, A87), in denen die Große Beschwerdekammer den Standpunkt vertreten hat, dass vorgelegte Fragen insoweit unbeantwortet bleiben können, als sie über den wirklichen Klärungsbedarf hinausgehen. Verwiesen sei diesbezüglich auch auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage 2019, Kapitel V.B.2.3.3 "Relevanz der Vorlagefrage für den Ausgangsfall".
17. Andererseits hat die vorlegende Kammer ihre Vorlagefrage darauf beschränkt, ob die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz ohne das Einverständnis der Beteiligten mit Artikel 116 EPÜ vereinbar ist. Der Begründung entnimmt die Große Beschwerdekammer, dass die vorlegende Kammer keine Notwendigkeit gesehen hat, die Vereinbarkeit mit Artikel 113 (1) EPÜ zu hinterfragen, obwohl die Beschwerdeführerin auch Bedenken bezüglich des dort verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör geäußert hat. In Nummer 2.3 der Begründung der Vorlageentscheidung erklärt die vorlegende Kammer, dass sie "keinen Grund sieht, nicht von dem Format der Videokonferenz Gebrauch zu machen, sofern die Große Beschwerdekammer es als mit Artikel 116 EPÜ vereinbar erachtet." Und weiter in Nummer 3.7: "In diesem Zusammenhang möchte die Kammer darauf hinweisen, dass sie den Aspekt der Vereinbarkeit mit Artikel 113 (1) EPÜ bewusst nicht in die Vorlagefrage aufgenommen hat, da sie die Frage der Vereinbarkeit mit Artikel 116 (1) EPÜ für vorrangig hält. Ihrer Auffassung nach betrifft das in Artikel 113 (1) EPÜ verankerte Recht den Anspruch auf rechtliches Gehör in einer den Erfordernissen des Artikels 116 EPÜ genügenden mündlichen Verhandlung." Dies versteht die Große Beschwerdekammer so, dass es, sollte sie zu dem Schluss kommen, dass Artikel 116 EPÜ Videokonferenzen als Format für mündliche Verhandlungen nicht ausschließt, kein Problem mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör geben wird. Bekräftigt wird dies durch Nummer 4.1.3 der Entscheidungsgründe, wo die vorlegende Kammer die Auffassung vertritt, dass "die Durchführung von Videokonferenzen mittels einer Technik, die im Allgemeinen ordnungsgemäß funktioniert, sowohl mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör als auch mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar [ist]".
18. In den Vorbringen der Beschwerdeführerin und zahlreichen Amicus-curiae-Schriftsätzen war geltend gemacht worden, dass eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung und eine mündliche Präsenzverhandlung nicht gleichwertig seien, weil sie unweigerlich die Interaktion zwischen den Beteiligten und der Kammer sowie die Gelegenheit der Beteiligten beschränkten, ihre Argumente vorzutragen. Die konkrete Sorge in diesem Zusammenhang war, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf ein faires Verfahren durch die Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz verletzt würden.
19. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass es zur Klärung des Rechtsrahmens für die Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz angebracht ist, auch die Vereinbarkeit dieses Formats mit Artikel 113 EPÜ zu prüfen, und zwar umso mehr, als der Anspruch auf rechtliches Gehör das grundlegende Prinzip ist und das Recht auf eine mündliche Verhandlung nur eine Ausgestaltung dieses Prinzips.
20. Aus diesen Überlegungen heraus formuliert die Große Beschwerdekammer die Vorlagefrage wie folgt um:
"Ist in einem allgemeinen Notfall, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in dieser Form erklärt haben?"
C.3 Auslegung des Artikels 116 EPÜ
21. Als Erstes ist die Frage zu beantworten, ob die Anhörung der Beteiligten mittels einer Videokonferenz als Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Sinne des Artikels 116 EPÜ angesehen werden kann. Dies erfordert eine Auslegung des Artikels 116 (1) EPÜ, der besagt: "Eine mündliche Verhandlung findet entweder von Amts wegen, sofern das Europäische Patentamt dies für sachdienlich erachtet, oder auf Antrag eines Beteiligten statt. Das Europäische Patentamt kann jedoch einen Antrag auf erneute mündliche Verhandlung vor demselben Organ ablehnen, wenn die Parteien und der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt unverändert geblieben sind."
22. Nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. In der Vergangenheit hat die Große Beschwerdekammer zur Auslegung des EPÜ stets die Vorschriften des Wiener Übereinkommens herangezogen und wird dies auch im vorliegenden Fall tun.
23. In Artikel 116 (1) EPÜ geht es offenbar nicht primär um die Frage, was eine mündliche Verhandlung darstellt. Vielmehr regelt er, wann eine mündliche Verhandlung - im Unterschied zum schriftlichen Verfahren - stattzufinden hat und auf wessen Initiative hin. Im Artikel wird der Begriff "mündliche Verhandlung" selbst nicht näher definiert. Wie von der vorlegenden Kammer anerkannt (s. Nr. 5.4.1 der Entscheidungsgründe), ist der Begriff als solcher sehr allgemein und kann breit ausgelegt werden. Die Große Beschwerdekammer stimmt zu, dass die herkömmliche Bedeutung des Begriffs sehr allgemein ist. In Nummer 5.4.1 der Entscheidungsgründe verweist die vorlegende Kammer auch darauf, dass das EPÜ keine explizite Vorschrift zur Form mündlicher Verhandlungen enthält. Auch der Großen Beschwerdekammer ist keine solche Vorschrift bekannt.
24. Die vorlegende Kammer erklärt sodann, dass bei der Ermittlung der "authentischen" Bedeutung des Begriffs "mündliche Verhandlung" zu beachten sei, dass es zum Zeitpunkt der Abfassung und Unterzeichnung des EPÜ keine technischen Optionen gab, die eine Alternative zur herkömmlichen mündlichen Präsenzverhandlung geboten hätten. Im Kontext betrachtet, seien mit "mündlichen Verhandlungen" also unweigerlich mündliche Präsenzverhandlungen gemeint gewesen. Somit habe kein Bedarf bestanden, das Format mündlicher Verhandlungen zu definieren, und jeder Versuch, den Begriff so auszulegen, dass er auch andere Formate einschließe, kam nach Ansicht der vorlegenden Kammer allein rückblickend zustande. Zur Stützung ihrer Auffassung, dass der Gesetzgeber ausschließlich mündliche Präsenzverhandlungen gemeint habe, verweist sie zudem auf Regel 71 (2) EPÜ 1973 und Regel 115 (2) EPÜ.
25. Hier stimmt die Große Beschwerdekammer nicht mit der vorlegenden Kammer überein. Vorrangig und am wichtigsten bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift ist ihr Wortlaut. Der Wortlaut ist im vorliegenden Fall eindeutig: Artikel 116 EPÜ bezieht sich auf Verhandlungen, die mündlich stattfinden. "Oral", also "mündlich", ist im Oxford English Dictionary, 3. Auflage, unter Nummer 2.b des dortigen Eintrags definiert als: "Of disputes, negotiations, agreements, contracts etc.: conducted by the means of the spoken word; transacted by word of mouth; communicated in speech; spoken; verbal" [Übersetzung: "bei Streitigkeiten, Verhandlungen, Abreden, Vereinbarungen usw.: getroffen durch das gesprochene Wort, durch Rede, im Gespräch kommuniziert, gesprochen, verbal"], also als das gesprochene Wort, die Rede oder das Gespräch. Der Begriff bietet somit keine Grundlage dafür, seine Bedeutung auf Anhörungen vor einem Spruchkörper mit persönlicher Anwesenheit in einem Gerichtssaal zu beschränken.
26. Die Große Beschwerdekammer bezweifelt nicht, dass die am Gesetzgebungsprozess für das EPÜ 1973 Beteiligten mündliche Verhandlungen mit persönlicher Anwesenheit in einem Gerichtssaal gemeint haben. Ebenso wenig bestreitet sie, dass Wörter wie "erscheinen" und "vor" in den mündliche Verhandlungen betreffenden Vorschriften höchstwahrscheinlich mit diesem Konzept vor Augen gewählt worden sind. Es steht daher für die Große Beschwerdekammer außer Frage, dass mündliche Präsenzverhandlungen - im Kontext betrachtet - unter den Begriff "mündliche Verhandlung" fallen, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt sind.
27. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass sich die Bedeutung des allgemeinen Begriffs "mündliche Verhandlung" auf diese eine, bei Abfassung des Übereinkommens bekannte Form beschränkt. Denn auch Beteiligte, die an einer als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung teilnehmen, erscheinen ja vor der Kammer, wenn auch per Fernteilnahme. So haben die Vertreter der Beschwerdeführerin in der sachlichen Debatte richtigerweise anerkannt, dass "mündliche Verhandlungen" im Sinne des Artikels 116 EPÜ nicht auf Verhandlungen unter Nutzung der 1973 verfügbaren Technik beschränkt sind, sondern auch solche einschließen, die mithilfe neuerer Technik, wie z. B. Laptops, PowerPoint-Präsentationen und digitalen Whiteboards, durchgeführt werden. Es fehlt jedoch jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass der Aspekt der persönlichen Anwesenheit oder Präsenz, der weder im Artikel noch anderswo erwähnt ist, für das Konzept der mündlichen Verhandlung tatsächlich als wesentlich erachtet wurde. Auch wurde nicht belegt, dass der Gesetzgeber mündliche Verhandlungen wirklich auf dieses und kein anderes Format beschränken wollte. Ein solcher Wille geht weder aus der Wortwahl des Artikels 116 EPÜ noch aus den sonstigen angeführten Vorschriften hervor. Zudem enthalten die vorbereitenden Arbeiten zum Übereinkommen, wie in allen Vorträgen im vorliegenden Fall eingeräumt worden ist, keinerlei Ausführungen zu dieser Frage. Dies gilt sowohl für die Materialien zum EPÜ 1973 als auch für die Aufzeichnungen der vorbereitenden Beratungen zum EPÜ 2000.
28. Im breiteren Kontext des EPÜ betrachtet, ist es Sinn und Zweck des Übereinkommens, ein System für die Erteilung europäischer Patente mit dem Ziel der Förderung von Innovation und technischem Fortschritt bereitzustellen. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer widerspräche es diesem Sinn und Zweck, wenn der Gesetzgeber beabsichtigt hätte, künftige, durch den technischen Fortschritt möglich werdende Formate mündlicher Verhandlungen auszuschließen. Genauer gesagt: nachdem es Sinn und Zweck einer mündlichen Verhandlung ist, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, ihr Vorbringen mündlich vorzutragen, ist es unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber potenzielle künftige Formate, die ihnen dies ermöglichen, ausschließen wollte.
29. Es gibt somit keine Grundlage für die Schlussfolgerung, der Begriff "mündliche Verhandlung" sei in einer engeren als der ihm normalerweise zukommenden Bedeutung zu verstehen oder mündliche Verhandlungen, die in einem bestimmten, erst nach Abschluss des Gesetzgebungsprozesses verfügbar gewordenen Format durchgeführt werden, fielen nicht unter Artikel 116 EPÜ.
30. Die Große Beschwerdekammer kommt daher zu dem Ergebnis, dass eine in Form einer Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung eine mündliche Verhandlung im Sinne des Artikels 116 EPÜ ist.
31. Zu beachten ist ferner, dass Anhörungen per Videokonferenz, wenn sie denn keine mündlichen Verhandlungen im Sinne des Artikels 116 EPÜ wären, in einem Rechtsvakuum stattfinden würden, weil dann die für mündliche Verhandlungen geltenden Vorschriften und Praktiken nicht auf Videokonferenzen anwendbar wären. Dies wiederum würde Fragen zum Rechtscharakter einer Videokonferenz und z. B. dazu aufwerfen, ob Beteiligte zur Stellung ihrer Schlussanträge aufgefordert werden können oder die Kammer die sachliche Debatte schließen und am Ende ihre Entscheidung verkünden kann. Zudem würden sich diese Fragen unabhängig davon stellen, ob alle Beteiligten einverstanden sind oder nicht, denn wenn Videokonferenzen keine mündlichen Verhandlungen sind, bleiben diese Fragen selbst dann bestehen, wenn die Beteiligten ihr Einverständnis erklärt haben. In der Vorlageentscheidung war befunden worden, dass eine mit dem Einverständnis der Beteiligten durchgeführte Videokonferenz nach Artikel 116 EPÜ rechtlich unproblematisch sei, weil die Beteiligten ja auf ihr Recht auf mündliche Verhandlung verzichten könnten. Das mag zutreffen, lässt aber dennoch mehrere wichtige Rechtsfragen bezüglich der Art dieser Anhörungen offen. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer sind, da Videokonferenzen eine Form der mündlichen Verhandlung nach Artikel 116 EPÜ sind, die für mündliche Verhandlungen geltenden Vorschriften und Praktiken auch auf Videokonferenzen anwendbar.
32. In einer Reihe von Eingaben wurde auf G 2/19 und T 1012/03 verwiesen, die sich beide damit befassen, an welchem Ort die mündliche Verhandlung stattzufinden hat. Es wurde argumentiert, dass die in Artikel 113 und 116 EPÜ verankerten Rechte des Beteiligten genauso wie durch eine mündliche Verhandlung an einem anderen als den im EPÜ vorgesehenen Orten auch durch eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung verletzt würden, die an einem anderen als den im EPÜ vorgesehenen Orten stattfindet. Diese Entscheidungen können jedoch nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer nicht als Argument gegen die Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz herangezogen werden. Die Frage des geografischen Ortes stellt sich im Fall einer Videokonferenz nicht. Kein Beteiligter ist verpflichtet, an einem bestimmten Ort zu erscheinen, also auch nicht an einem Ort, der seinen Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigen würde. Aus diesen Entscheidungen eine Verpflichtung abzuleiten, mündliche Verhandlungen an einem bestimmten Ort stattfinden zu lassen und nicht als Videokonferenz durchzuführen, würde außer Acht lassen, dass es in diesen Fällen nicht um Videokonferenzen ging und die Begründungen beider Entscheidungen ganz andere Fragen betrafen.
C.4 Ist eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung einer mündlichen Präsenzverhandlung gleichwertig und falls nicht, ist die Videokonferenz eine geeignete Form zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung?
33. In den Ausführungen der Beschwerdeführerin, der Stellungnahme des EPA-Präsidenten und den Amicus-curiae-Schriftsätzen wurde immer wieder die Frage erörtert, ob eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung einer mündlichen Präsenzverhandlung gleichwertig und die Videokonferenz eine geeignete Form zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist.
34. In R 3/10 hat die Große Beschwerdekammer den Zweck der mündlichen Verhandlung wie folgt beschrieben: "Die mündliche Verhandlung soll ermöglichen, dass jede Partei ihre Argumente mündlich präsentieren kann, die Kammer den Parteien Fragen stellen kann, die Parteien auf diese Fragen antworten können und dass die Kammer und die Parteien Fragen erörtern können, zu denen auch kontroverse und möglicherweise entscheidende Fragen zählen. Der Wert der mündlichen Verhandlung liegt folglich darin, dass Fragen geklärt werden können und die Kammer sich schließlich davon überzeugen kann, dass die Position einer Partei richtig ist, von deren schriftlichem Vorbringen alleine sie nicht so überzeugt war."
35. Der Präsident des EPA sah diese wesentlichen Merkmale der mündlichen Verhandlung im Falle einer Videokonferenz als gegeben an: eine Gelegenheit für die Beteiligten, ihre Argumente mündlich zu präsentieren, die Möglichkeit eines interaktiven Austauschs von Argumenten in Echtzeit zwischen der zuständigen Abteilung in voller Besetzung und gegebenenfalls den anderen Beteiligten und damit auch die Möglichkeit zu einer sofortigen Beantwortung von Fragen und zur Reaktion auf Verfahrensentwicklungen. Er führte außerdem die Entscheidung T 2068/14 an, in der die Kammer erklärt hatte, dass eine Videokonferenz "die grundlegende Voraussetzung einer mündlichen Verhandlung [erfüllt], nämlich dass die Kammer und die Parteien/Vertreter gleichzeitig miteinander kommunizieren können. So kann das Vorbringen jeder Partei der Kammer in Echtzeit vorgetragen werden, und die Kammer kann den Parteien/Vertretern Fragen stellen." Dieselbe Auffassung wurde in T 2320/16 vertreten.
36. Auch die vorlegende Kammer scheint nicht daran zu zweifeln, dass sich Videokonferenztechnik für die Durchführung mündlicher Verhandlungen eignet, wie die unter vorstehender Nummer 17 zitierten Passagen aus der Vorlageentscheidung belegen.
37. Andererseits haben die Beschwerdeführerin und zahlreiche Dritte vorgebracht, dass Videokonferenzen nicht gleichwertig seien und dass sie wesentliche Merkmale dessen, was eine mündliche Verhandlung ausmacht, vermissen ließen. Sie beriefen sich insbesondere auf das fehlende Merkmal der - bei mündlichen Präsenzverhandlungen gegebenen - "Unmittelbarkeit", die durch die digitale Übermittlung bedingte Beschränkung der Kommunikation, die Instabilität der Übertragungsmittel und die den Beteiligten auferlegte Verpflichtung, die erforderliche technische Ausstattung vorzuhalten. Argumentiert wurde, dass diese Zwänge zu einer weniger wirksamen Kommunikation führten und den Beteiligten somit schlechtere Möglichkeiten für den Vortrag und die Verteidigung ihres Vorbringens böten. Zudem wurden Bedenken geäußert, ob das Erfordernis der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung in ausreichender Weise erfüllt sei. Einem Beteiligten eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz aufzuerlegen, wurde daher als Einschränkung oder Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung und des Rechts auf ein faires Verfahren angesehen. Dies wäre ein Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ und - in einem breiteren Kontext - gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
38. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass die Kommunikation per Videokonferenz - zumindest derzeit - nicht mit der persönlichen Kommunikation gleichgesetzt werden kann. Auch wenn sie die Auffassung teilt, dass Videokonferenzen die oben aufgezählten wesentlichen Merkmale einer mündlichen Verhandlung gewährleisten können, so ist diese Art der Kommunikation dennoch weniger direkt und infolge der Einschränkungen durch die verwendete Technik limitierter. Was die Kommunikation angeht, sind mündliche Präsenzverhandlungen momentan das optimale Format. Die bei Videokonferenzen eingesetzte Technik soll dafür sorgen, dass man dieser direkten menschlichen Interaktion so nahe wie möglich kommt. Sicher hat sich die Videokonferenztechnik in jüngerer Zeit verbessert, dennoch reicht sie noch nicht an das Kommunikationsniveau heran, das möglich ist, wenn alle Teilnehmer in ein und demselben Raum physisch anwesend sind. Ebenso trifft es zu, dass sich die an einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz Teilnehmenden mit der Technik vertraut machen und lernen müssen, mit den gegebenenfalls auftretenden technischen Problemen umzugehen. Dies kann sowohl für die Mitglieder der Kammer als auch für die Beteiligten eine gewisse Belastung, wenn nicht sogar Ablenkung von den in der mündlichen Verhandlung erörterten Fragen bedeuten.
39. Auch unter dem Gesichtspunkt der Transparenz des Rechtssystems und seiner Rolle in der Gesellschaft ist die Durchführung von Gerichtsverhandlungen als Präsenzveranstaltung vorzuziehen. Am ordnungsgemäßen Ort abgehaltene Präsenzanhörungen tragen der Bedeutung des Austauschs zwischen dem Gericht und den Rechtssuchenden vor Ergehen eines endgültigen Urteils eher Rechnung. Für die Beschwerdekammern des EPA, deren Aufgabe es ist, abschließende Entscheidungen im Rahmen des europäischen Patentsystems zu treffen, sind diese Überlegungen nicht minder relevant.
40. Aus dem Vorstehenden folgt jedoch nicht, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf ein faires Verfahren nicht gewahrt werden können, wenn die mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz durchgeführt wird. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass das Verfahren vor dem EPA überwiegend ein schriftliches ist. Das schriftliche Vorbringen bildet die Grundlage des Verfahrens und wird bei Bedarf oder auf Antrag durch eine Gelegenheit für die Beteiligten ergänzt, ihre Argumente mündlich zu präsentieren und zu verteidigen. Selbst wenn das Format der Videokonferenz bestimmte Nachteile hat, so bietet es den Beteiligten dennoch die Gelegenheit, ihre Argumente mündlich zu präsentieren. Zusammen mit dem schriftlichen Teil des Verfahrens reicht dies in der Regel aus, um den Grundsätzen eines fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs Genüge zu tun.
41. Mehrfach wurde vorgebracht, dass es in einer Videokonferenz vor einer Beschwerdekammer für die Beteiligten unmöglich sei, die Körpersprache der Kammermitglieder zu lesen oder auf andere Weise visuell abzuschätzen, wie ihr Vortrag von der Kammer aufgenommen wird, und dass dieses Format daher von vornherein ungeeignet sei. Davon ist die Große Beschwerdekammer nicht überzeugt. Es trifft nicht zu, dass in einer Videokonferenz die Körpersprache und insbesondere die Mimik einer Person nicht erkennbar wären. Wie genau der Eindruck ist, den sich ein Beteiligter von der Aufnahme seines mündlichen Vortrags durch die Kammermitglieder machen kann, ist vielmehr graduell unterschiedlich und hängt bei Präsenzverhandlungen von Faktoren wie der Anordnung im Gerichtssaal oder der Entfernung der Kammermitglieder ab oder bei Videokonferenzen von Faktoren wie der Kamera-, der Bildschirm- und der Übertragungsqualität. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Video- von Telefonkonferenzen, bei denen nur der Ton übermittelt wird. Telefonkonferenzen sind eindeutig ungeeignet als Format für eine mündliche Verhandlung, denn die Qualität der Interaktion zwischen den Teilnehmenden wird durch das vollständige Fehlen der visuellen Komponente insgesamt signifikant geschmälert.
42. Hinzu kommt, dass die Mitglieder der Kammer in aller Regel mit Fragen und Anmerkungen auf das Vorbringen eines Beteiligten reagieren und nicht nur mit einem Nicken, einem fragenden Blick oder einer ähnlichen Geste. Daher kann nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer nicht geschlussfolgert werden, dass etwas Wesentliches verloren ginge, weil bei einer Videokonferenz die Teilnehmer nicht die gesamte Mimik und Gestik der übrigen Teilnehmer verfolgen können, oder dieses Format von vornherein für die Durchführung mündlicher Verhandlungen ungeeignet wäre.
43. Alles in allem ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass die derzeit mit dem Einsatz von Videokonferenztechnik verbundenen Einschränkungen diese als Format für mündliche Verhandlungen - objektiv oder nach dem Empfinden der Beteiligten - nicht optimal erscheinen lassen können, allerdings normalerweise nicht in dem Maße, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör oder das Recht auf ein faires Verfahren eines Beteiligten ernsthaft verletzt würde. Kann dieser Anspruch oder dieses Recht im Einzelfall nicht gewahrt werden, so ist das Entscheidungsorgan selbstverständlich verpflichtet, angemessene Abhilfemaßnahmen zu treffen.
C.5 Bedeutung des Einverständnisses der Beteiligten
44. Vorstehend hat die Große Beschwerdekammer ihre Auffassung begründet, dass eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung eine mündliche Verhandlung im Sinne des Artikels 116 EPÜ ist und dass sie, auch wenn sie einer mündlichen Präsenzverhandlung nicht vollends gleichwertig ist, in der Regel weder den Anspruch auf rechtliches Gehör noch das Recht auf ein faires Verfahren des Beteiligten verletzt. Dies führt zu einer weiteren Frage: kann einem Beteiligten eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz auferlegt werden? Oder anders ausgedrückt: hat ein Beteiligter ein Recht auf eine mündliche Präsenzverhandlung? Auch diesbezüglich wurden von der Beschwerdeführerin, dem Präsidenten des EPA und in den Amicus-curiae-Schriftsätzen unterschiedliche Meinungen vertreten. Der Präsident des EPA argumentierte, dass es dem Entscheidungsorgan anheimgestellt sei zu bestimmen, in welcher Form die mündliche Verhandlung durchgeführt werde. Seiner Ansicht nach sind die Beteiligten lediglich befugt, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen, nicht aber ein bestimmtes Format. Dieser Standpunkt scheint mit der Auffassung zusammenzuhängen, dass mündliche Präsenzverhandlungen und als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen gleichwertig sind. Er wurde auch in einigen Amicus-curiae-Schriftsätzen vertreten. Von der Beschwerdeführerin und in zahlreichen Amicus-curiae-Schriftsätzen hingegen wurde vorgebracht, die Beteiligten hätten ein Recht auf eine mündliche Präsenzverhandlung und die Durchführung in einem anderen Format sei daher an deren Einverständnis geknüpft. Einige Vertreter dieser Meinung argumentierten, dass es sich hierbei um ein absolutes Recht handle und es somit auch in Notfallsituationen gewahrt werden müsse, während in einer größeren Zahl von Eingaben argumentiert wurde, dass dieses Recht unter normalen Umständen gewahrt werden müsse, in Notfällen aber ausgesetzt werden könne.
45. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass die Beteiligten ein grundlegendes Recht auf eine mündliche Verhandlung haben, die ihnen die Gelegenheit gibt, gemäß Artikel 113 EPÜ und Artikel 6 EMRK gehört zu werden. Eine mündliche Präsenzverhandlung bietet ihnen zweifelsohne diese Gelegenheit. Wie bereits dargelegt, ist eine persönliche Anhörung das optimale Format oder - um einen im europäischen Patentrecht geläufigen Begriff zu verwenden - der Goldstandard. Sie erfüllt definitiv die Erfordernisse des Artikels 113 EPÜ und des Artikels 6 EMRK. Auch ist es das Format, das der Gesetzgeber bei der Abfassung des Artikels 116 EPÜ im Blick hatte. Eine mündliche Präsenzverhandlung sollte daher die Standardoption sein. Diese kann den Beteiligten nur mit gutem Grund verweigert werden.
46. Ferner wurde vorgebracht, dass die Wahl des Formats - wie andere organisatorische Aspekte der mündlichen Verhandlung - eine administrative Frage sei, die von der zur mündlichen Verhandlung ladenden Instanz entschieden werden könne. Nach dem EPÜ ist es jedoch ein Recht der Beteiligten, eine mündliche Verhandlung zu beantragen. Dies belegt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als im Interesse der Beteiligten liegend angesehen wird. Die überwiegende Mehrheit der mündlichen Verhandlungen wird auf Antrag von Beteiligten durchgeführt. Daher ist es sinnvoll, dass der Beteiligte, der die mündliche Verhandlung beantragt hat, das Format wählen kann und nicht die Beschwerdekammer, und zwar umso mehr, als dies über eine rein organisatorische Frage hinausgeht. Wie bereits erwähnt, ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass Videokonferenzen - zumindest derzeit - nicht die gleichen Kommunikationsmöglichkeiten bieten wie eine mündliche Präsenzverhandlung. Folglich kann ein Beteiligter gute Gründe haben, einer mündlichen Präsenzverhandlung den Vorzug vor einer Videokonferenz zu geben.
47. Auf die Gründe, die es rechtfertigen könnten, den Wunsch eines Beteiligten nach einer mündlichen Präsenzverhandlung abzulehnen, geht die Große Beschwerdekammer im Folgenden ein.
48. Erstens muss es eine geeignete, wenn auch nicht gleichwertige Alternative geben. Wie vorstehend erläutert, ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass eine Videokonferenz in der Regel die Grundvoraussetzungen für das rechtliche Gehör und für den Vortrag einer Sache erfüllt. Ist im konkreten Einzelfall das Format der Videokonferenz ungeeignet, muss die mündliche Verhandlung als Präsenzverhandlung durchgeführt werden. Im vorliegenden Fall erachtete die vorlegende Kammer die Begründungen, warum das Format der Videokonferenz in diesem konkreten Fall ungeeignet sei, als nicht überzeugend. Ihrer Auffassung nach gab es also eine geeignete Alternative, anhand deren sich das Beschwerdeverfahren abschließen ließ.
49. Zweitens müssen auch die Umstände im konkreten Einzelfall die Entscheidung rechtfertigen, die mündliche Verhandlung nicht als Präsenzverhandlung durchzuführen. Diese Umstände sollten sich auf Einschränkungen und Erschwernisse beziehen, die einen Beteiligten daran hindern, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen. Im Falle einer Pandemie können solche Umstände allgemeine Reisebeschränkungen oder die Unterbrechung von Reiseverbindungen, Quarantäneauflagen, Zugangsbeschränkungen in den EPA-Gebäuden und andere gesundheitsbezogene Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheitsausbreitung sein. Diese Entscheidung sollte nicht von administrativen Aspekten wie der Verfügbarkeit von Konferenzräumen und Dolmetschanlagen oder angestrebten Effizienzgewinnen beeinflusst werden. Es liegt in der Verantwortung des EPA, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit die im EPÜ vorgesehenen Verfahren durchgeführt werden können.
50. Drittens muss die Entscheidung, ob gute Gründe es rechtfertigen, nicht auf die von einem Beteiligten bevorzugte Durchführung als mündliche Präsenzverhandlung einzugehen, dem Ermessen der zur mündlichen Verhandlung ladenden Beschwerdekammer anheimgestellt sein.
51. Im vorliegenden Fall bestand die Option einer mündlichen Präsenzverhandlung zur fraglichen Zeit aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht. Eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz auszuschließen, wie von den Beteiligten beantragt, hätte bedeutet, die mündliche Verhandlung auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Relevant war auch, dass die mündliche Verhandlung bereits einmal verlegt worden war. Sie immer wieder zu verlegen, hätte die Entscheidung über die Beschwerde weiter verzögert. Während einer Pandemie kann es in einer Vielzahl anhängiger Fälle zu Verzögerungen beim Abschluss des Beschwerdeverfahrens kommen, was die Rechtspflege nachhaltig beeinträchtigen kann. Unter diesen Umständen war es gerechtfertigt, dem Wunsch der Beteiligten nicht stattzugeben und die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen.
C.6 Vergleich mit den Entwicklungen in den Vertragsstaaten
52. Ein weiterer relevanter Aspekt ist, dass zahlreiche EPÜ-Vertragsstaaten kürzlich die Möglichkeit eingeführt oder ausgeweitet haben, Gerichtsverhandlungen als Videokonferenz durchzuführen, und dass diese Maßnahmen fast ausnahmslos mit der COVID-19-Pandemie zusammenhängen.
53. In einigen Staaten ist die Nutzung des Formats der Videokonferenz im konkreten Fall noch an das Einverständnis der Partei(en) geknüpft, während in anderen das Gericht ungeachtet des Willens der Parteien entscheiden kann, die Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen. Eine klare Tendenz gibt es also nicht, weder in die eine noch in die andere Richtung. Folglich steht auch die Haltung der Großen Beschwerdekammer weder in Einklang mit der Praxis der Vertragsstaaten noch in Widerspruch zu ihr.
54. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Beteiligten am Beschwerdeverfahren vor den Beschwerdekammern des EPA und ihre Vertreter - anders als die Parteien vor nationalen Gerichten - häufig aus verschiedenen Ländern kommen. Während der Pandemie hat der Sitzstaat der Beschwerdekammern, Deutschland, Maßnahmen zur Beschränkung des Reiseverkehrs ergriffen. Insofern hatte die Pandemie stärkere Auswirkungen auf die Beschwerdekammern und die Kontinuität ihrer Tätigkeit als auf Gerichtsverfahren in nationalen Systemen, bei denen die Parteien in der Regel nicht über Ländergrenzen hinweg anreisen müssen.
55. Den Beschwerdekammern eher vergleichbar ist in dieser Hinsicht z. B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. In dessen am 22. Dezember 2020 verabschiedeten Richtlinien für Anhörungen per Videokonferenz ("Guidelines on Hearings by Videoconference", echr.coe.int/Documents/Guidelines_videoconference_hearings_ENG.pdf) heißt es in den ersten beiden Nummern:
[Übersetzung: "1. In Anbetracht der Gesundheitslage in Europa und insbesondere im Sitzstaat des Gerichts und in den Sitzstaaten der Parteien kann es sich als notwendig erweisen, das herkömmliche Format der Anhörungen vor dem Gerichtshof anzupassen, indem die Verfahren mithilfe von Videokonferenztechnik durchgeführt werden.
2. Diese Entscheidung trifft der Vorsitzende der Großen Kammer bzw. der Kammer (Art. 64 der Verfahrensordnung)."]
Diese Richtlinien scheinen dem von der Großen Beschwerdekammer in der vorliegenden Entscheidung entwickelten Ansatz vergleichbar.
56. Abschließend sei angemerkt, dass zwar einige Vertragsstaaten und internationale Gerichte die Möglichkeit eingeführt haben, den Parteien während der COVID-19-Pandemie eine Durchführung der Verhandlung als Videokonferenz aufzuerlegen, bislang aber sehr zurückhaltend sind, diese Maßnahme über die aktuelle Notfallsituation hinaus zu verlängern. In ähnlicher Weise hat die Große Beschwerdekammer ihre Antwort auf die Vorlagefrage auf den Zeitraum eines allgemeinen Notfalls beschränkt.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden, dass die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt zu beantworten ist:
In einem allgemeinen Notfall, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar, auch wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in dieser Form erklärt haben.