G 0003/93 (Prioritätsintervall) 16-08-1994
Téléchargement et informations complémentaires:
Priorität - im Prioritätsintervall veröffentlichtes Dokument
Stand der Technik - im Prioritätsintervall veröffentlichtes Dokument
Unwirksame Priorität - andere Erfindung
Obiter dictum - Zulässigkeit der Vorlage
Zusammenfassung des Verfahrens
I. Am 23. April 1993 legte der Präsident des EPA in Ausübung des ihm in Artikel 112 (1) b) EPÜ eingeräumten Ermessens der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vor:
"Kann einer europäischen Patentanmeldung eine Veröffentlichung im Prioritätsintervall, deren technischer Inhalt mit dem des Prioritätsdokuments übereinstimmt, als Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) entgegengehalten werden, wenn die Inanspruchnahme der Priorität nicht wirksam ist, weil die europäische Anmeldung Gegenstände umfaßt, die nicht in der Erstanmeldung offenbart waren?"
II. In der Begründung seiner Vorlage verwies der Präsident insbesondere auf die divergierenden Entscheidungen, die die Beschwerdekammer 3.3.2 in der Sache T 301/87 (ABl. EPA 1990, 335) und die Beschwerdekammer 3.4.1 in der Sache T 441/91 (ABl. EPA 1993, Sonderausgabe, 45) über die obengenannte Rechtsfrage getroffen hätten. Seines Erachtens habe diese Divergenz zu erheblicher Rechtsunsicherheit geführt.
III. In der Entscheidung T 301/87 ging es um einen Anmelder, der für verschiedene Gegenstände seines europäischen Patents Mehrfachprioritäten in Anspruch genommen hatte. Die Beschwerdekammer 3.3.2 vertrat die Auffassung, daß diese Gegenstände ihre Priorität nur aus Dokumenten herleiten könnten, die genau dieselben Gegenstände offenbarten. Demzufolge sei festzustellen, daß zwei der Ansprüche ihre Priorität nicht aus dem ersten Prioritätsdokument herleiten könnten, weil ihr Inhalt nicht darin offenbart sei. Sie könnten sie nur aus dem zweiten Prioritätsdokument herleiten, in dem ihr Inhalt erstmals offenbart worden sei.
Die Beschwerdekammer vertrat ferner die Auffassung, daß die Veröffentlichung des Inhalts der ersten prioritätsbegründenden Anmeldung in dem Zeitraum zwischen deren Einreichung und der Einreichung der europäischen Patentanmeldung (als letzter Anmeldung) keinem Anspruch dieser letzteren als neuheitsschädlich entgegengehalten werden könne, also auch nicht den betreffenden beiden Ansprüchen, denen die Priorität der ersten prioritätsbegründenden Anmeldung nicht zustehe. Die Kammer berief sich in ihrer Entscheidung auf Artikel 4 B der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, wonach eine während des Prioritätsjahrs erfolgte spätere Hinterlegung u. a. nicht dadurch "unwirksam gemacht werden" könne, daß die Erfindung, die Gegenstand der Erstanmeldung sei, innerhalb der Prioritätsfrist veröffentlicht werde. Die Kammer stellte damals fest: "Dies bedeutet insbesondere, daß diese Veröffentlichung für die Erfindung, für die in der späteren Anmeldung die Priorität in Anspruch genommen wird, weder neuheitsschädlich ist noch die darin zum Ausdruck kommende erfinderische Tätigkeit, wie sie am Anmeldetag der prioritätsbegründenden Erstanmeldung gegeben war, schmälert."
IV. In der Entscheidung T 441/91 befand die Beschwerdekammer 3.4.1, daß der Anspruch 1 des streitigen Patents seine Priorität nicht aus einem bestimmten Prioritätsdokument herleiten könne, weil darin ein wesentliches Anspruchsmerkmal nicht offenbart sei, so daß die Erfindung nach Anspruch 1 nicht als dieselbe betrachtet werden könne wie die im Prioritätsdokument offenbarte. Daher gelangte die Beschwerdekammer zu dem Schluß, daß ein anderes Dokument, dessen technischer Gehalt mit demjenigen des Prioritätsdokuments identisch sei und das in dem Zeitraum zwischen dem Anmeldetag des Prioritätsdokuments und demjenigen der europäischen Anmeldung veröffentlicht worden sei, für die europäische Patentanmeldung zum Stand der Technik gehöre.
V. In der Begründung seiner Vorlage stellte der Präsident fest, daß es zum einen gang und gäbe sei, daß ein Anmelder in eine Nachanmeldung Gegenstände und Informationen aufnehme, die gegenüber seinen Voranmeldungen neu seien; zum anderen seien die Erfinder häufig bestrebt, ihre Forschungsergebnisse so schnell wie möglich zu veröffentlichen. Der Entscheidung T 301/87 zufolge gefährde eine Veröffentlichung der Erfindung nach der Einreichung der Erstanmeldung nicht die Schutzerlangung für die in eine spätere europäische Anmeldung desselben Anmelders aufgenommenen zusätzlichen Gegenstände. Gemäß der Entscheidung T 441/91 hingegen könne die Veröffentlichung des Inhalts der Erstanmeldung für eine spätere Anmeldung, die gegenüber der Erstanmeldung zusätzliche Gegenstände enthalte, schutzhindernd sein.
Der Präsident stellte ferner fest, daß in bezug auf die Anerkennung von Prioritätsansprüchen die in den Vertragsstaaten geübte Praxis möglicherweise von der in der Entscheidung T 301/87 formulierten Konzeption abweiche. Dies könne dazu führen, daß viele europäische Patente von den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten für nichtig erklärt würden.
Stellungnahme
1. Die der Großen Beschwerdekammer vom Präsidenten vorgelegte Rechtsfrage bezieht sich auf die Anwendung der die Priorität regelnden Artikel 87 bis 89 EPÜ.
2. Die Vorlage ist zulässig, obwohl die vom Präsidenten angeführten Entscheidungen nur insofern divergieren, als die eine ein "obiter dictum" (s. T 301/87, ABl. EPA 1990, 335, Nr. 7.4) enthält. Nun ist es aber die Aufgabe der Großen Beschwerdekammer, die einheitliche Rechtsanwendung zu sichern, und auch ein "obiter dictum" kann zu Rechtsunsicherheit führen.
3. Anhand eines Beispiels läßt sich vielleicht besser verdeutlichen, welch unterschiedliche Ergebnisse die Anwendung der Entscheidungen T 301/87 und T 441/91 zur Folge hat.
Beispiel
Nehmen wir folgenden Fall an:
- Am 1. Januar 1990 reicht ein Anmelder eine Anmeldung P1 mit den Gegenständen A + B ein.
- Am 1. Februar 1990 wird ein Dokument D veröffentlicht, das die Gegenstände A + B enthält.
- Am 1. März 1990 reicht derselbe Anmelder eine Anmeldung P2 mit den Gegenständen A + B + C ein.
- Am 1. Juni 1990 reicht derselbe Anmelder unter Inanspruchnahme der Priorität von P1 und P2 eine europäische Patentanmeldung ein, deren Anspruch 1 die Gegenstände A + B und deren Anspruch 2 die Gegenstände A + B + C enthält.
- Anspruch 1 enthält die in P1, Anspruch 2 die in P2 offenbarte Erfindung; die in P1 offenbarte Erfindung ist nicht identisch mit der in P2 offenbarten (obwohl Einheitlichkeit der Erfindung im Sinne des Artikels 82 EPÜ vorliegt).
01.01.90___01.02.90___01.03.90____01.06.90
P1____Veröffentl. D___P2__________europäische
A+B__A+B___________A+B+C__________Anmeldung
______nicht dieselbe Erfindung____Anspruch 1: A+B
__________________________________Anspruch 2: A+B+C
Ist Dokument D Stand der Technik bezüglich Anspruch 2?
Nach der Entscheidung T 301/87 ist dies zu verneinen, obwohl Anspruch 2 die Priorität der Anmeldung P1 nicht in Anspruch nehmen kann. Nach der Entscheidung T 441/91 hingegen ist die Frage zu bejahen, weil Anspruch 2 die Priorität der Anmeldung P1 nicht in Anspruch nehmen kann. Dies bedeutet, daß nach der Entscheidung T 301/87 das Dokument D dem Anspruch 2 nicht entgegengehalten werden kann, nach der Entscheidung T 441/91 aber wohl.
4. Die Artikel 87 bis 89 EPÜ bilden eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (vgl. Entscheidung J 15/80, ABl. EPA 1981, 213).
Auch die Pariser Verbandsübereinkunft enthält Rechtsvorschriften zur Priorität. Sie ist für das EPA zwar nicht formell verbindlich. Da jedoch das EPÜ gemäß seiner Präambel ein Sonderabkommen im Sinn des Artikels 19 der Pariser Verbandsübereinkunft darstellt, liegt es auf der Hand, daß es den in der Pariser Verbandsübereinkunft festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen soll (vgl. Entscheidung T 301/87, ABl. EPA 1990, 335, Entscheidungsgründe Nr. 7.5).
5. In Artikel 87 (1) EPÜ ist geregelt, wer für eine europäische Patentanmeldung ein Prioritätsrecht genießt, nämlich "jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums eine Anmeldung für ein Patent ... vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger". Außerdem nennt diese Rechtsvorschrift zwei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen: Die europäische Patentanmeldung muß sich auf "dieselbe Erfindung" beziehen und innerhalb von zwölf Monaten nach der ersten Anmeldung eingereicht werden.
Der entsprechende Artikel 4 A (1) PVÜ macht keine Angaben über den Gegenstand der späteren Anmeldung. Es wird allgemein davon ausgegangen, daß sich die spätere Anmeldung auf denselben Gegenstand beziehen muß wie die erste, prioritätsbegründende Anmeldung [vgl. R. Wieczorek, Die Unionspriorität im Patentrecht, Köln, Berlin, Bonn, München 1975, S. 149; G. H. C. Bodenhausen, Guide to the Application of the Paris Convention for the Protection of Industrial Property as Revised at Stockholm in 1967, Geneva 1968, Artikel 4, Abschnitt A Absatz (1) Anmerkung (i)].
6. Artikel 88 EPÜ befaßt sich hauptsächlich mit den verfahrensrechtlichen und formalen Gesichtspunkten der Prioritätsbeanspruchung. Für die materiellrechtlichen Aspekte gelten die in Artikel 87 (1) EPÜ festgelegten Grundsätze. Artikel 88 (1) EPÜ entspricht dem Artikel 4 D PVÜ, Artikel 88 (2) und (3) EPÜ dem Artikel 4 F PVÜ und Artikel 88 (4) EPÜ dem Artikel 4 H PVÜ.
7. Über die Wirkung des Prioritätsrechts heißt es in Artikel 89 EPÜ wie folgt: "Das Prioritätsrecht hat die Wirkung, daß der Prioritätstag als Tag der europäischen Patentanmeldung für die Anwendung des Artikels 54 Absätze 2 und 3 sowie des Artikels 60 Absatz 2 gilt."
Artikel 4 B PVÜ entspricht dem Artikel 89 EPÜ.
8. Für die Entstehung des Prioritätsrechts müssen nach Artikel 87 EPÜ bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. So muß sich unter anderem die europäische Patentanmeldung, in der die Priorität einer früheren Anmeldung in einem Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft in Anspruch genommen wird, auf "dieselbe Erfindung" beziehen, die auch in dieser früheren Anmeldung offenbart ist. In Artikel 89 EPÜ ist festgelegt, welche Wirkung das Prioritätsrecht entfaltet unter der Prämisse, daß die Voraussetzungen für seine Entstehung erfüllt sind, nämlich unter anderem das Erfordernis, daß die Erfindung dieselbe sein muß. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist der auf eine frühere Anmeldung gestützte Prioritätsanspruch sowohl nach Artikel 87 EPÜ als auch nach der PVÜ unwirksam.
9. Wenn eine Priorität beansprucht wird, aber nicht zuerkannt werden kann, weil die wesentliche Voraussetzung nicht erfüllt ist, daß die Erfindung in beiden Fällen dieselbe ist, so entsteht auch kein Prioritätsrecht. Infolgedessen kann jede Veröffentlichung des Inhalts des Prioritätsdokuments in dem Zeitraum zwischen dessen Einreichung und der Einreichung der europäischen Patentanmeldung, in der die Priorität dieses Dokuments in Anspruch genommen wird, denjenigen Bestandteilen der europäischen Patentanmeldung als neuheitsschädlich entgegengehalten werden, für die kein Prioritätsanspruch besteht.
Das Bundesberufungsgericht der Vereinigten Staaten (CAFC) hat in dieser Frage ebenso entschieden (in re Gosteli, 10 USPQ 2d 1614 (1989); GRUR Int. 1990, S. 994).
10. Damit ergibt sich für das unter Nr. 2 genannte Beispiel, daß das Dokument D dem Anspruch 2 als Stand der Technik entgegengehalten werden kann.
Schlußfolgerung
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Große Beschwerdekammer beantwortet die ihr vom Präsidenten des EPA vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:
1. Ein im Prioritätsintervall veröffentlichtes Dokument, dessen technischer Inhalt demjenigen des Prioritätsdokuments entspricht, kann einer europäischen Patentanmeldung, in der diese Priorität in Anspruch genommen wird, insoweit als Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) EPÜ entgegengehalten werden, als der Prioritätsanspruch unwirksam ist.
2. Dies gilt auch dann, wenn der Prioritätsanspruch deshalb unwirksam ist, weil das Prioritätsdokument und die spätere europäische Patentanmeldung nicht dieselbe Erfindung betreffen, da in der europäischen Anmeldung Gegenstände beansprucht werden, die im Prioritätsdokument nicht offenbart waren.