2.2.2 Prüfung eines Einwandes nach Artikel 53 a) EPÜ
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Die Thematik der guten Sitten und der öffentlichen Ordnung wurde in T 356/93 (ABl. 1995, 545) im Zusammenhang mit Pflanzen aufgeworfen. Ziel der Erfindung war die Entwicklung von Pflanzen und Samen, die gegen eine bestimmte Klasse von Herbiziden resistent sind und dadurch selektiv gegen Unkraut und Pilzbefall geschützt werden können. Dies wurde erreicht mit einer stabil in das Genom der Pflanzen integrierten heterologen DNA für ein Protein, das die Herbizide inaktivieren oder neutralisieren konnte. Das Patent wurde unter Berufung auf Art. 53 a) EPÜ 1973 insbesondere mit der Begründung angefochten, dass die Verwertung der Erfindung die Umwelt voraussichtlich ernsthaft gefährden würde.
Die Kammer erklärte, dass der Begriff der guten Sitten an die Überzeugung anknüpfe, dass ein bestimmtes Verhalten richtig und vertretbar, ein anderes dagegen falsch sei; diese Überzeugung gründe sich auf die Gesamtheit der in einem bestimmten Kulturkreis tief verwurzelten, anerkannten Normen. Für die Zwecke des EPÜ sei dies der europäische Kulturkreis, wie er in Gesellschaft und Zivilisation seine Ausprägung finde. Entsprechend seien Erfindungen, deren Verwertung nicht in Einklang mit den allgemein anerkannten Verhaltensnormen dieses Kulturkreises stehe, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten von der Patentierung auszuschließen.
Die Kammer stellte fest, dass keiner der Ansprüche einen Gegenstand enthalte, der mit einem Missbrauch oder destruktiven Gebrauch von Verfahren der Pflanzenbiotechnologie verbunden sei; beansprucht würden nämlich Tätigkeiten (Erzeugung von Pflanzen und Samen, Schutz von Pflanzen vor Unkraut und Pilzbefall) und Erzeugnisse (Pflanzenzellen, Pflanzen, Samen), die als solche im Lichte der im europäischen Kulturkreis allgemein anerkannten Verhaltensnormen nicht als falsch angesehen werden könnten. Die Pflanzenbiotechnologie könne per se nicht sittenwidriger sein als die herkömmliche, auf Selektion beruhende Auslesezüchtung.
In T 315/03 befand die Kammer, dass bei der Prüfung eines Einwands nach Art. 53 a) EPÜ 1973 eine einzelne z.B. auf wirtschaftlichen oder religiösen Grundsätzen beruhende Definition der guten Sitten keine allgemein anerkannte Norm des europäischen Kulturkreises darstelle. Ergebnisse von Meinungsumfragen sind aus den in T 356/93 (ABl. 1995, 545) genannten Gründen, wo zahlreiche Nachteile – von der Art und Zahl der in einer Umfrage gestellten Fragen über die Größe und den repräsentativen Charakter des befragten Querschnitts der Bevölkerung bis hin zur Art und Weise der Auslegung der erhaltenen Ergebnisse – aufgeführt wurden, von sehr begrenztem Wert.
In T 356/93 subsumierte die Kammer unter dem Begriff der "öffentlichen Ordnung" den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der physischen Unversehrtheit des Individuums als Mitglied der Gesellschaft und rechnete hierzu auch den Schutz der Umwelt. Demgemäß seien Erfindungen, deren Verwertung voraussichtlich die Umwelt ernsthaft gefährde, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung von der Patentierung auszuschließen. Eine Entscheidung in diesem Sinne setzt jedoch voraus, dass die Bedrohung der Umwelt zum Zeitpunkt der Entscheidung des EPA hinreichend substantiiert ist.
Im vorliegenden Fall befand die Kammer, die vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) vorgelegten Unterlagen lieferten zwar grundlegende Hinweise auf mögliche Gefahren einer Anwendung gentechnischer Verfahren auf Pflanzen, es ergebe sich aus ihnen aber nicht der definitive Schluss, dass die Verwertung eines der beanspruchten Gegenstände die Umwelt ernsthaft gefährden würde.
Zur Vereinbarkeit einer Erfindung, die gentechnisch veränderte herbizidresistente Pflanzen betrifft, mit Art. 53 a) EPÜ 1973 s. auch T 475/01.