6.1. Wiederholbarkeit
6.1.1 Künstliches neuronales Netz
In T 161/18 nutzte die Anmeldung ein künstliches neuronales Netz zur Transformation der an der Peripherie gemessenen Blutdruckkurve in den äquivalenten Aortendruck. Bezüglich des Trainings des erfindungsgemäßen neuronalen Netzes offenbarte die Anmeldung lediglich, dass die Eingabedaten ein breites Spektrum von Patienten unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Konstitutionstyps, Gesundheitszustands und dergleichen abdecken sollten, damit es nicht zu einer Spezialisierung des Netzes kommt. Die Anmeldung offenbarte jedoch nicht, welche Eingabedaten zum Trainieren des erfindungsgemäßen künstlichen neuronalen Netzes geeignet sind, oder mindestens einen zur Lösung des vorliegenden technischen Problems geeigneten Datensatz. Das Trainieren des künstlichen neuronalen Netzes konnte daher von der Fachperson nicht nachgearbeitet werden und die Fachperson konnte die Erfindung deshalb nicht ausführen. Die vorliegende, auf maschinellem Lernen insbesondere im Zusammenhang mit einem künstlichen neuronalen Netz beruhende Erfindung war somit nicht ausreichend offenbart, da das erfindungsgemäße Training mangels entsprechender Offenbarung nicht ausführbar war (vgl. T 702/20 über den technischen Charakter eines auf einem Computer implementierten neuronalen Netzes).
In T 1669/21 machte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) geltend, die Erfindung sei auch ohne ein konkretes Ausführungsbeispiel im Patent deutlich und vollständig offenbart. Bei dem anspruchsgemäßen Rechenmodell handele es sich um ein Modell des maschinellen Lernens. Angesichts des rasanten Fortschritts sei auch das Erstellen eines geeigneten Rechenmodells des maschinellen Lernens, (anders als in T 161/18) mittlerweile Gegenstand des allgemeinen Fachwissens und bedürfe keiner ausdrücklichen Offenbarung. Die Erfindung strebe eine "umfassende Lösung" zur Vorhersage des Verschleißes der feuerfesten Auskleidung eines metallurgischen Gefäßes an. Der Begriff "Rechenmodell" war für die Kammer auch im Zusammenhang mit einer Anpassung ("adaptiert") nicht auf ein Modell aus dem Bereich des maschinellen Lernens eingeschränkt. So ist die Tatsache, dass das Modell "adaptiert wird" nicht gleichbedeutend damit, dass das Modell "adaptiv" ist, sich also selbst anpasst bzw. selbstlernend ist. Anspruch 1 war daher nicht auf ein Verfahren zum maschinellen Lernen beschränkt. Für ein solches Rechenmodell gab das Patent weder ein Beispiel noch Anhaltspunkte für die zu modellierenden Zusammenhänge. Schon aus diesem Grund erfüllte der Hauptantrag nicht die Erfordernisse von Art. 83 EPÜ. Eine Vielzahl an Möglichkeiten für die Ausgestaltung eines Rechenmodells bestand. Das vorgetragene Fachwissen enthielt jedoch keine Informationen zu den spezifischen Anforderungen, und das Patent enthielt hierzu auch keine. Daher lag bereits in der Wahl eines konkreten geeigneten Rechenmodells des maschinellen Lernens für die Fachperson eine erhebliche Hürde für die Ausführbarkeit der Erfindung. Selbst wenn, wäre die Fachperson dabei auf sich allein gestellt, aus der Vielzahl an möglichen Eingangsgrößen diejenigen Kombinationen auszuwählen. Schon jeder einzelne derartige Versuch für sich genommen stellte einen erheblichen Aufwand dar. Mangels eines konkret nacharbeitbaren Ausführungsbeispiels als Ausgangspunkt im Patent oder einer sonstigen spezifischen Anleitung, welche Parameter relevant sind, fehlte zudem ein Beleg für die grundsätzliche erfolgreiche Ausführbarkeit der Erfindung mit einem anspruchsgemäß trainierten Rechenmodell. Der Beschwerdeführer trug hierzu vor, es sei nicht erforderlich, weil es gerade das Wesen des maschinellen Lernens sei, dass die Fähigkeit zur Vorhersage der Ausgangsgröße ohne Kenntnis der kausalen Zusammenhänge durch Training selbstlernend erworben werde. Dabei werde der Einfluss irrelevanter Eingangsgrößen von selbst herausgefiltert. Laut der Kammer enthielt die Patentschrift kein einziges konkret nacharbeitbares Ausführungsbeispiel und keine Anhaltspunkte oder Kriterien zur Auswahl geeigneter konkreter Parameter innerhalb der beanspruchten Kategorien. Bezüglich Menge und Qualität der Trainingsdaten (s. auch T 161/18), wurde das Rechenmodell nur mit einem reduzierten Datensatz trainiert. Die vorgetragene Art der Ausführung der Erfindung und der Trainingsdatenerfassung war nicht im Streitpatent offenbart. Der Beschwerdeführer konnte nicht plausibel darlegen, dass das Rechenmodell mit einem solchen eingeschränkten Trainingsdatensatz erfolgreich trainiert werden kann. Somit war die Offenbarung des Patents auch bezüglich des für den Erfolg der Erfindung entscheidenden Aspekts der Trainingsdaten allgemein und unvollständig. Der fehlende Detailgrad dieser Offenbarung im Patent stand in keinem Verhältnis zur Breite der beanspruchten Erfindung und dem entsprechenden Aufwand für eine Fachperson, die Lücken zu füllen, um die Erfindung (über ihre Breite hinweg) ausführen zu können. G 1/03 wurde erfolglos angeführt.
Im Ex-parte-Verfahren T 1539/20 (Verfahren zur Überwachung der Leistung eines Anwendungssystems, das über mehrere mit einem Netz verbundenen Knoten verteilt ist) war Anspruch 1 auf ein computerimplementiertes Verfahren gerichtet, das einen automatisierten Schritt des "Mappings" (bezüglich dieses Begriffs wurden Fragen zu Art. 84 EPÜ aufgeworfen) eines gegebenen verteilten Anwendungssystems auf ein hierarchisches Modell umfasst, wobei die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung jedoch keine Informationen darüber lieferte, wie die Fachperson den "Mapping"-Prozess in Software implementieren könnte. Der Beschwerdeführer machte ferner geltend, dass das Vorliegen nicht funktionsfähiger Ausführungsformen im Anspruch unschädlich sei, sofern die Beschreibung ausreichende Angaben zu den relevanten Kriterien enthalte, anhand deren die funktionsfähigen Ausführungsformen identifiziert werden können (Richtlinien F‑III, 5.1; G 1/03); der Einwand der Kammer gegen Anspruch 1 bestand jedoch nicht darin, dass sein Umfang bestimmte nicht funktionsfähige Ausführungsformen umfasse.
Im Ex-parte-Fall T 1191/19 bezüglich Art. 56 EPÜ erinnerte die Kammer daran, dass die bloße Anwendung eines bekannten Verfahrens für maschinelles Lernen auf Probleme in einem bestimmten Bereich ein allgemeiner Trend in der Technik ist (T 161/18, Nr. 3.6 der Gründe) und als solche nicht erfinderisch sein kann. Die Kammer stellte insbesondere in Bezug auf Art. 83 EPÜ fest, dass die Anmeldung keinen Beispielsatz von Trainings- und Validierungsdaten offenbarte, die das Meta-Learning-Schema als Eingabe benötigt. Die Anmeldung enthielt noch nicht einmal Angaben zur Mindestanzahl der Patienten, von denen Trainingsdaten zusammengestellt werden sollten, um eine aussagekräftige Vorhersage und einen Satz relevanter Parameter zu erhalten. Insbesondere wurden weder die Struktur der als Klassifikatoren verwendeten künstlichen neuronalen Netze noch ihre Topologie, Aktivierungsfunktionen, Endbedingungen oder Lernmechanismen offenbart (mit Verweis auf T 161/18, Nr. 2 der Gründe). Auf der Abstraktionsebene der vorliegenden Anmeldung entsprach die Offenbarung eher einer Aufforderung zu einem Forschungsprogramm. Unter diesen Umständen war die Anwendung des Meta-Learning-Schemas von AX1 (wissenschaftliche Veröffentlichung) zur Lösung der Aufgabe, personalisierte Eingriffe für einen Patienten in Verfahren mit neuronaler Plastizität als Substrat vorherzusagen, für die Fachperson nicht ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeitbar.
Im Ex-parte-Fall T 1526/20 bezog sich die Anmeldung auf ein computergestütztes "Echtheitstestverfahren" zur Unterscheidung zwischen echten Gesichtern und Imitationen auf der Grundlage von 2D-Bildern. Nach Auffassung der Kammer habe die Fachperson in Zweifel ziehen müssen, dass das Modell die für eine verlässliche Echtheitsüberprüfung erforderlichen Informationen liefert. Die Anmeldung lieferte jedoch weder eine Begründung für die Richtigkeit dieses Modells noch Ergebnisse, die gezeigt hätten, dass der vorgeschlagene Weg zur Extraktion objektbezogener Informationen korrekt zwischen echten und unechten Objekten unterscheidet.
Im Ex-parte-Fall T 606/21 (Verfahren zur Beurteilung von Vorhersagen der Trajektorien autonomer Fahrzeuge einschließlich der Erzeugung eines tiefen neuronalen Netzes (Deep Neural Network, DNN)) war die Prüfungsabteilung der Ansicht, dass die Anmeldung nicht eindeutig offenbart, wie das DNN-Modell zum Zeitpunkt des Tests eine zuverlässige Ausgabe liefern kann, da es mit einer unvollständigen Eingabe gespeist wird. Die Eingabe zum Zeitpunkt der Prüfung umfasste nur die vorhergesagte, nicht jedoch die tatsächliche Trajektorie. Aus Sicht der Kammer umfasste das Verfahren zwei wesentliche Phasen, wobei die erste Phase die Erstellung eines tiefen neuronalen Netzes (Deep Neural Network, DNN) und das Training dieses DNN durch Eingabe von Trajektorienpaaren betraf, um die Ähnlichkeit dieser Trajektorien zu analysieren und die Genauigkeit dieser Analyse zu verbessern. Die Kammer befand, dass die zweite Phase, die Test- und Bewertungsphase, nicht ausreichend offenbart war.
Im Ex-parte-Fall T 509/18 betraf die Erfindung ein System zur Bestimmung der Wachsamkeit eines Fahrers, das dazu ausgelegt ist, einen Klassifizierungstrainingsprozess zu verwenden, um die Kopfposition und den Augenvektor des Fahrers an mehreren vorbestimmten Punkten innerhalb des Fahrzeugs aufzuzeichnen, und eine Matrix von Zwischenpunktmetriken zur Verwendung für eine Nachschlagetabellen-Klassifizierung des Aufmerksamkeitszustands des Fahrers zu speichern. Nach Ansicht der Kammer lehrte die Anmeldung nicht, wie sich aus der "Matrix von Zwischenpunktmetriken" eine "Nachschlagetabellen-Klassifizierung des Aufmerksamkeitszustands des Fahrers" ableiten lässt, die eine Bestimmung des Aufmerksamkeitszustands des Fahrers zulässt. Die Fachperson wisse nicht, wie sie eine "Nachschlagetabellen-Klassifizierung" erstellt, und folglich auch nicht, wie sie den Aufmerksamkeitszustand des Fahrers auf der Grundlage des Videokamerabilds des tatsächlichen Kopf- und Augenposition des Fahrers zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmt. Der Schritt des Vergleichens des Videokamerabilds mit dieser Nachschlagetabellen-Klassifizierung zur Beurteilung des Aufmerksamkeitszustands des Fahrers erfordere Anweisungen und eine Lehre zur Art der aus einem gegebenen Videokamerabild zu extrahierenden Informationen sowie zu den für den Vergleich anzuwendenden Verfahren und Kriterien; eine solche Offenbarung sei nirgends zu finden.