3.3. Rechtliches Gehör
3.3.4 Fälschliche Ablehnung des Beweisangebots
Es ist grundsätzlich keine korrekte Verfahrensweise, wenn die Einspruchsabteilung in einer streitigen und für den Rechtsbestand des angegriffenen Patents hoch relevanten Frage auf das Beweisangebot einer mündlichen Vernehmung eines Zeugen oder Beteiligten nicht eingeht, sondern – gleichsam als Ersatz – schriftliche Erklärungen einfordert und sich mit dem typischerweise minderen Beweiswert dieser Erklärungen begnügt. Besondere Umstände, die eine solche Verfahrensweise im Ausnahmefall rechtfertigen mögen, waren hier nicht ersichtlich (T 329/02).
In T 1363/14 stellte die Kammer fest, dass keine Vorschrift des EPÜ verlangt, dass das zu einer behaupteten Vorbenutzung gemachte Vorbringen innerhalb der Einspruchsfrist bereits bewiesen sein muss, damit die Vorbenutzung substantiiert wird. Es obliegt dem Einsprechenden, alle für eine behauptete Vorbenutzung relevanten Tatsachen vorzutragen. Für den Fall, dass diese nicht von der Gegenseite zugestanden werden, hat er auch vorsorglich geeignete Beweismittel anzubieten. Es liegt in der Natur eines Zeugenangebots, anzukündigen, dass die Zeugen die (zuvor bereits) vorgetragenen Tatsachen bestätigen werden. Dabei ist es nicht zulässig, im Rahmen einer vorweggenommenen Beweiswürdigung Mutmaßungen anzustellen, woran ein Zeuge sich wird erinnern können und woran nicht. Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist erst nach Erhebung der Beweismittel anwendbar und kann nicht zur Rechtfertigung verwendet werden, angebotene Beweise nicht zu erheben. Die Einspruchsabteilung hat mit ihrer Weigerung, die Zeugen zu laden, im Ergebnis somit willkürlich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Behauptungen des Einsprechenden durch die Zeugen bestätigt werden können. Eine derartig vorweggenommene Beweiswürdigung war nicht gerechtfertigt. S. auch T 2238/15.
Auch in T 906/98 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen (keine Zeugenvernehmung hinsichtlich einer Vorbenutzung anzuordnen) nach fehlerhaften Kriterien ausgeübt hat, weil sie bei der Zurückweisung des Beweisangebots mutmaßte statt zu prüfen. Das Beweisangebot bezog sich auf denjenigen Aspekt der behaupteten Vorbenutzung, der strittig war, nämlich den Gegenstand der Benutzung (d. h. was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde).
In der Sache T 314/18 (angebliche offenkundige Vorbenutzung – mehrfacher Verkauf) wurde ein Zeuge angeboten, aber nicht gehört. Entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) den Zeugen ausschließlich zur Bestätigung der Tatsachen angeboten, die er bezüglich der angeblichen Vorbenutzung bereits vorgebracht hatte. Nirgendwo im EPÜ wird ein überzeugender Nachweis der angeblichen Vorbenutzung innerhalb der Einspruchsfrist verlangt. Als die Einspruchsabteilung unter Berufung auf die Richtlinien argumentierte, dass das Fehlen einer ausreichenden Substantiierung der Vorbenutzung in der Einspruchsschrift nicht durch die Vernehmung des Zeugen kompensiert werden könne, vermengte sie das Vorbringen von Tatsachen mit dem Erbringen der zur Tatsachenfeststellung erforderlichen Nachweise. Indem sie die Vernehmung des angebotenen Zeugen ablehnte, war die Einspruchsabteilung de facto zur Bewertung von Beweismitteln geschritten, die zwar prima facie für die zu treffende Entscheidung relevant erschienen, aber noch nicht festgestellt waren. Dies war verfahrensrechtlich falsch; folglich hat die Einspruchsabteilung den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nach Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ verletzt.
In T 1647/15 verwies die Kammer darauf, dass gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und wie in T 142/97 erwähnt ein Entscheidungsorgan grundsätzlich verpflichtet ist, sich von der Relevanz vorgelegter Beweismittel zu überzeugen, bevor es über deren Zulassung oder Ablehnung entscheidet. Wenn relevante Merkmale der von den Einsprechenden als Stand der Technik angeführten Anhänger fraglich sind und strittig bleiben, ist ein Antrag der Einsprechenden auf Beweisaufnahme z. B. durch Vernehmung der von den Einsprechenden angebotenen Zeugen oder Inaugenscheinnahme des Anhängers gemäß Art. 117 (1) f) EPÜ nicht grundlos zurückzuweisen. Die Einspruchsabteilung hatte die Ablehnung der angebotenen Beweise auf bloße Vermutungen gestützt und nicht ernsthaft versucht, deren Inhalt oder Relevanz definitiv zu klären. Die Weigerung, die rechtzeitig vorgelegten Beweismittel in Betracht zu ziehen, stellt demnach eine Verletzung der grundlegenden Rechte einer Partei auf freie Wahl der Beweismittel und rechtliches Gehör dar (Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ).
In der jüngeren Entscheidung T 1738/21 wertete die Kammer den Beschluss der Einspruchsabteilung, die angebotenen Zeugen nicht anzuhören, als Verstoß gegen grundlegende Verfahrensrechte des Beschwerdeführers gemäß Art. 117 (1) EPÜ und Art. 113 (1) EPÜ, namentlich das Recht eines Beteiligten, Beweismittel in zulässiger Weise vorzulegen und auch anzuhören. Die Kammer merkte an, dass eine Einspruchsabteilung nach ständiger Rechtsprechung den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ eines Einsprechenden verletzt, wenn Zeugen in Verbindung mit der Offenbarung bestimmter Merkmale einer behaupteten, als ordnungsgemäß begründet und belegt angesehenen öffentlichen Vorbenutzung angeboten werden, die Einspruchsabteilung jedoch ohne Anhörung der Zeugen entscheidet, dass die behauptete öffentliche Vorbenutzung keinen neuheitsschädlichen Stand der Technik darstellt. Werden daher Zeugen angeboten, um behauptete Sachverhalte zu belegen, die für die anstehende Entscheidung als ausschlaggebend erachtet werden, ist die Einspruchsabteilung gehalten, die Zeugen zu den behaupteten Tatbeständen anzuhören, um unter Berücksichtigung aller verfügbaren Beweismittel eine Entscheidung treffen zu können. Die Kammer analysierte daher, welche behaupteten Sachverhalte die Zeugen hatten bestätigen sollen und ob diese Tatsachen entscheidend für den Ausgang der angefochtenen Entscheidung gewesen wären. Sie kam zu der Ausfassung, dass die angebotenen Zeugen die behaupteten Tatsachen, die von der Einspruchsabteilung als nicht überzeugend angesehen wurden, hätten bestätigen können. Die Kammer fand in der angefochtenen Entscheidung keinen Hinweis weder auf das Zeugenangebot des Beschwerdeführers noch auf die Gründe der Einspruchsabteilung, die Zeugen nicht anzuhören. Die Weigerung der Einspruchsabteilung, zumindest drei der Zeugen zu vernehmen, stellte einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
In T 2517/22 hatte Beschwerdeführer 2 Herrn R. bereits mit dem Einspruchsschriftsatz als Zeugen angeboten. Das Angebot wurde in der Erwiderung erneuert, nachdem der Patentinhaber die Beweiskraft der eidesstattlichen Versicherung D2a (eines Beschäftigten des Beschwerdeführers 2) infrage gestellt hatte. In der Anlage zur ersten Ladung betrachtete die Einspruchsabteilung D2a als ausreichenden Beleg für die öffentliche Zugänglichkeit von D2 (Bedienungsanleitung) und verzichtete auf die Ladung von Herrn R. als Zeugen. Allerdings änderte die Einspruchsabteilung ihre Meinung und verkündete, dass D2 nicht zum Stand der Technik gehöre, ohne jedoch das frühere Angebot, den Zeugen zu der Frage zu vernehmen, zu berücksichtigen. Nach Auffassung der Kammer stellten die Aussagen in der eidesstattlichen Versicherung D2a Tatsachen dar, die a priori für die Bestimmung, ob D2 zum Stand der Technik gehörte oder nicht, und daher auch für den Ausgang des Einspruchsverfahrens hochrelevant waren. Das Angebot, den Unterzeichner der eidesstattlichen Versicherung D2a als Zeugen anzuhören, stellte darüber hinaus ein relevantes und sachdienliches Beweismittel zum Nachweis der Tatsachen dar. Die Kammer stellte fest, dass es den Beteiligten obliegt zu entscheiden, welche Beweismittel sie für geeignet halten, und es Pflicht der Einspruchsabteilung ist, ihre Entscheidung auf Basis aller verfügbaren sachdienlichen Beweismittel zu erlassen, statt die Vorlage bevorzugter schriftlicher Beweismittel zu erwarten, über die Gründe ihres Fehlens zu spekulieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Der Einspruchsabteilung stehe es selbstverständlich frei, Beweismittel eines Beteiligten zu würdigen, doch dürfe diese Freiheit nicht dahingehend genutzt werden, angebotene Beweismittel, die möglicherweise für den Fall als ausschlaggebend hätten sein können, außer Acht zu lassen, insbesondere nicht mit dem Argument, es seien "bessere" Beweismittel erwartet worden. Statt das von Beschwerdeführer 2 angebotene Beweismittel anzunehmen, scheine die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung auf allgemeine Annahmen zum menschlichen Erinnerungsvermögen an bereits gewisse Zeit (15 Jahre) zurückliegende Ereignisse und spezifische Annahmen zu den persönlichen Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen des Zeugen gestützt zu haben. Unter Zugrundelegung dieser Annahmen ohne Anhörung des angebotenen Zeugen habe die Einspruchsabteilung Beweismittel bewertet, ohne sie zu prüfen. So habe sie nicht von vornherein eine ausreichend genaue Erinnerung an bestimmte, 15 Jahre zurückliegende Ereignisse ausschließen dürfen. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Nichtberücksichtigung des Angebots des Beschwerdeführers 2, einen Zeugen zur öffentlichen Zugänglichkeit von D2 zu hören, einen wesentlichen Verfahrensmangel und einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darstellte. Sie verwies außerdem auf T 906/98 und T 474/04.
In T 267/06 sei eine Situation hinsichtlich der Beurteilung der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung nach D12 (undatierte Zeichnung) eingetreten, in der die als weiteres Beweismittel angebotene Vernehmung des Zeugen nicht außer Betracht gelassen werden durfte. Dies stellte einen wesentlichen Verfahrensmangel dar (Art. 113 (1) EPÜ). Diese Entscheidung wurde in der davon abweichenden Entscheidung T 1231/11 angeführt. S. auch T 660/16.