3. Nächstliegender Stand der Technik
3.3. Mehrere gangbare Wege zur Erfindung
Wenn der Fachperson mehrere gangbare Wege offenstehen, d. h. von mehreren unterschiedlichen Dokumenten ausgehende Wege, die zu der Erfindung führen könnten, erfordert es die Ratio des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, die Erfindung in Bezug auf alle diese Wege zu prüfen, bevor ihr die erfinderische Tätigkeit zugesprochen wird (T 967/97, Orientierungssatz I; s. auch T 323/03, T 21/08, T 1437/09, T 308/09, T 1742/12, T 1261/14, T 1339/14, T 259/15, T 62/16, T 1076/16, T 1750/19, T 397/20, T 2029/21, T 1654/22). Dieser Grundsatz ergibt sich daraus, dass sich das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit gemäß Art. 56 EPÜ auf den gesamten Stand der Technik bezieht, wie in Art. 54 (2) EPÜ definiert (s. z. B. T 72/18, T 865/21).
Ist die Erfindung für die Fachperson im Hinblick auf mindestens einen dieser Wege naheliegend, so ist sie nicht erfinderisch (T 967/97, Orientierungssatz II; s. auch T 558/00, T 308/09, T 1437/09, T 2418/12, T 1570/13, T 62/16, T 64/16, T 2443/18, T 2411/18, T 1012/19, T 1654/22). Gemäß T 967/97 muss, wenn die erfinderische Tätigkeit verneint wird, die Wahl des Ausgangspunkts zudem nicht konkret begründet werden. In T 261/19 rechtfertigte die Kammer dies damit, dass die beanspruchte Erfindung grundsätzlich gegenüber jeglichem Stand der Technik nicht naheliegend sein darf (s. auch T 696/19, T 138/21, T 981/22).
In T 1742/12 stellte die Kammer fest, dass ein Stand der Technik in Bezug auf den beabsichtigten Zweck oder anderweitig so "weitab" von der beanspruchten Erfindung liegen kann, dass es als unvorstellbar angesehen werden darf, dass die Fachperson durch Modifikation dieses Stands der Technik zu der beanspruchten Erfindung gelangt. Ein solcher Stand der Technik könnte als "ungeeignet" bezeichnet werden. Dies schließt aber nicht aus, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von einem Stand der Technik auszugehen, der einen abweichenden Zweck hat (s. auch T 855/15, T 2304/16, T 1294/16, T 2443/18, T 1112/19). Die Kammer in T 1733/21 stellte fest, dass ein Stand der Technik, der auf die gleiche technische Wirkung wie die Erfindung abzielt, zwar a priori vielversprechend erscheint, dies aber keine conditio sine qua non für seine Berücksichtigung sei. Andernfalls könnten Elemente des Standes der Technik, die nichts über die angestrebte Wirkung enthalten, niemals einen gültigen Ausgangspunkt darstellen, was der gängigen Praxis widerspricht.
Liegt ein Stand der Technik "zu weitab" von einer Erfindung, müsste es möglich sein aufzuzeigen, dass die Erfindung für eine Fachperson im Hinblick auf diesen Stand der Technik nicht naheliegend ist (T 855/15, T 2057/12, T 2304/16, T 154/17). Ein gattungsmäßig anderes Dokument kann normalerweise nicht als realistischer Ausgangspunkt in Betracht gezogen werden (T 870/96, T 1105/92, T 464/98, T 2383/17).
In T 176/89 gelangte die Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass zur Definition des nächstliegenden Stands der Technik zwei Dokumente miteinander kombiniert werden mussten. Sie begründete ihre Auffassung damit, dass die Dokumente ausnahmsweise in Verbindung miteinander zu lesen seien, weil sie demselben Patentinhaber gehörten, im Wesentlichen von denselben Erfindern stammten und sich offenbar auf dieselbe Untersuchungsreihe bezögen. Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sollten aber zwei Dokumente in der Regel nicht miteinander kombiniert werden, wenn aufgrund der Sachlage eindeutig feststehe, dass ihre Lehren widersprüchlich seien (s. dazu auch T 487/95).
In T 2579/11 entschied die Kammer, dass es, nur weil die Beschreibung der Nachanmeldung alles in allem detaillierter ist als die der Prioritätsunterlage, nicht gerechtfertigt ist, bei der Wahl des nächstliegenden Stands der Technik von der Nachanmeldung anstatt von der Prioritätsunterlage auszugehen.
Eine offenkundige Vorbenutzung kann als nächstliegender Stand der Technik herangezogen werden (T 1464/05, s. auch T 1054/18).
In T 172/03 stellte die Kammer fest, dass der Begriff "Stand der Technik" in Art. 54 EPÜ 1973 als "Stand der Technologie" verstanden werden sollte, wobei der Begriff "alles" in Art. 54 (2) EPÜ 1973 so auszulegen ist, dass er sich auf die für ein technisches Gebiet relevanten Informationen bezieht. Es ist kaum anzunehmen, dass das EPÜ vorsieht, dass die Durchschnittsfachperson für ein (technisches) Gebiet alles zur Kenntnis nehme – auf allen Gebieten der menschlichen Kultur und unabhängig vom informativen Charakter.
Die Kammer in T 2101/12 vertrat dagegen die Auffassung, dass die in T 172/03 wiedergegebene Auslegung des Art. 54 (2) EPÜ falsch war. Nach Auffassung der Kammer in T 2101/12 hätte der Gesetzgeber einen anderen Begriff verwendet, wenn tatsächlich eine solche Bedeutung beabsichtigt wäre. Sie stellte fest, dass der Wortlaut von Art. 54 (2) EPÜ klar ist und keiner Auslegung bedarf. Art. 54 (2) EPÜ selbst enthält keine Beschränkungen dahin gehend, dass ein nichttechnischer Vorgang wie das Unterzeichnen eines Vertrags in einem Notariat nicht als Stand der Technik gelten kann (s. auch T 1049/19).
In T 1148/15 führte die Kammer aus, dass sich die Annahme, wonach der übrige Stand der Technik weniger relevant sei als der als nächstliegend identifizierte Stand der Technik, als falsch erweisen kann, zum Beispiel wenn überzeugend nachgewiesen werden kann, dass die Fachperson ausgehend von einem anderen Stand der Technik auf naheliegende Weise zum beanspruchten Gegenstand gelangt wäre, nicht aber ausgehend vom identifizierten nächstliegenden Stand der Technik. In dieser Situation und auch im Zweifelsfall muss der Aufgabe-Lösungs-Ansatz möglicherweise für jeden Stand der Technik, der ebenfalls als geeigneter Ausgangspunkt infrage kommt, wiederholt werden.
In T 405/14 erklärte die Kammer, dass der Begriff "nächstliegender Stand der Technik", wie er von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelt worden ist, offenbar zwei unterschiedliche Bedeutungen umfasst, die vom Ausgang des Einwands nach Art. 56 EPÜ abhängen. Einerseits scheint bei der Schlussfolgerung, dass eine beanspruchte Erfindung erfinderisch ist, der Begriff "nächstliegender Stand der Technik" auf der Annahme zu beruhen, dass es eine Metrik gibt, um den Abstand zwischen dem Stand der Technik und der Erfindung zu definieren, und dass eine Erfindung, die durch den "nächstliegenden Stand der Technik" nicht nahegelegt wird, erst recht nicht naheliegend wäre in Bezug auf den übrigen Stand der Technik, der definitionsgemäß weniger naheliegt. Die zweite Bedeutung wird oft dahin gehend formuliert, dass der "nächstliegende Stand der Technik" dieselbe Aufgabe behandeln muss wie die Erfindung. Damit soll vermieden werden, dass man rückschauend zu einer Feststellung der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gelangt. Wie die Kammer abschließend erklärte, muss der "nächstliegende Stand der Technik" keineswegs einzigartig sein, denn die Grundregel lautet, dass eine Erfindung nicht erfinderisch ist, wenn sie für die Fachperson von einem beliebigen Ausgangspunkt aus ohne nachträgliche Erkenntnisse naheliegend gewesen wäre (s. auch T 1012/19).
In T 97/14 befand die Kammer, dass ein begründeter Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit den Stand der Technik ermitteln und deutlich und vollständig darlegen muss, welche Merkmale der beanspruchten Erfindung aus dem Stand der Technik bekannt und wo diese Merkmale im Stand der Technik zu finden sind. Mit anderen Worten ist ein korrektes Mapping der Merkmale erforderlich. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn sich der Einwand auf nicht dokumentarischen Stand der Technik stützt, weil solche Nachweise schwieriger zu überprüfen sind.
In T 1012/19 stellte die Kammer fest, dass es in einigen Bereichen der Technik tatsächlich gängige Praxis ist, eine Vielzahl von möglichen Ausgangspunkten auf einen einzigen nächstgelegenen Stand der Technik zu reduzieren. Dennoch ist dies oft der Idealfall, und in der Praxis kann es auch sein, dass im ersten Schritt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes tatsächlich mehr Dokumente berücksichtigt werden. Die Kammer schloss sich der in der ständigen Rechtsprechung vertretenen Auffassung an, dass, wenn der Fachperson mehrere gangbare Wege offenstehen – d. h. also verschiedene mögliche Ausgangspunkte in Form unterschiedlicher Dokumente, die zur Erfindung führen könnten – dann erfordert es die Ratio des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, die Erfindung in Bezug auf alle diese Wege zu prüfen, bevor ihr die erfinderische Tätigkeit zugesprochen wird.
In T 335/20 stellte die Kammer fest, dass bei Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit Informationen berücksichtigt wurden, die nicht im Stand der Technik offenbart waren, um die Unterscheidungsmerkmale, die daraus resultierende technische Wirkung und die Formulierung der zu lösenden objektiven technischen Aufgabe zu bestimmen. Für die Bestimmung der Unterscheidungsmerkmale ist es relevant, inwieweit sich der beanspruchte Gegenstand von der Offenbarung (den Offenbarungen) im Stand der Technik unterscheidet. Die Lehre in Richtung der Unterscheidungsmerkmale kann dann aus einem anderen Dokument des Stands der Technik oder aus dem allgemeinen Fachwissen der Fachperson stammen. Im vorliegenden Fall schließt die fehlende Offenbarung von D9 in Bezug auf die Umsetzung der vorgeschlagenen PGRN-Ersatztherapie D9 somit nicht als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit aus.
In T 1090/21 wurde hervorgehoben, dass die Anzahl der geeigneten Dokumente des Stands der Technik von der Breite eines Anspruchs abhängen kann, sodass ein breiter Anspruch möglicherweise dazu führt, dass mehrere Dokumente gleichermaßen gültige Ausgangspunkte sind. Dasselbe gilt für ein stark wettbewerbsorientiertes technisches Gebiet, auf dem viele eng miteinander verwandte Dokumente des Stands der Technik veröffentlicht wurden. Die Tatsache, dass mehrere Dokumente als nächstliegender Stand der Technik vorgeschlagen werden könnten, ist jedoch nicht unvereinbar mit dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz.
Die Kammer schloss sich in T 1888/21 der Auffassung der Kammer in T 405/14 an, zumindest insoweit, als die Wahl eines einzigen Ausgangspunkts grundsätzlich nicht der tatsächlichen Situation der fiktiven Fachperson entspricht. Im Gegenteil, ein Erfinder, der ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, würde es eher als selbstverständlich sehen, seine Erfolgschancen zu maximieren, indem er mehr als einen erfolgversprechenden und realistischen Ausgangspunkt ausprobiert.
- T 1632/22
In T 1632/22, In ex parte case T 1632/22, the application related to liveness detection in relation to authentication, e.g. when unlocking a phone based on a face image. The application proposed to categorise the images as a function of their "quality" and to use different liveness detectors for each quality type. The examining division concluded there was a lack of inventive step over D1 (face authentication).
With an amendment in substance to define the quality parameter used to define the quality type, the new feature of claim 1 was not disclosed in D1. The board saw only two differences between claim 1 and D1 which might support the presence of an inventive step, namely that the claimed method was used for liveness detection and that it considered also quality parameters other than those disclosed for the "specialized classifiers" of D1. For the appellant, D1 did not qualify as the closest prior art as it was concerned with authentication rather than with liveness detection.
In the board’s view, the novelty requirement provides that no patent can be granted for anything that is already known. The inventive step requirement raises the bar to a patent by also excluding matter which is obvious over what is known. That which is obvious to the skilled person cannot depend on anything that the skilled person does not know yet. In particular, what is obvious at the filing date of a patent application cannot depend on the content of that patent application. Conversely, an argument that a skilled person having regard to some piece of prior art will find something to be obvious cannot be rebutted on the basis of what the application says. In particular, the application cannot be invoked to limit the prior art under consideration or the expertise of the skilled person (their "art") on the basis of the stated "field of the invention". That essentially any piece of prior art can be considered in an inventive step analysis has been stated several times in the case law. The definite articles in the phrase "the person skilled in the art" in Art. 56 EPC are not meant to limit the relevant "arts". Any successful rebuttal of an inventive step objection must address the obviousness argument directly, without reference to the application.
It is a matter of efficiency when assessing inventive step to consider only persons skilled in arts related to the claimed invention, and, consequently, only prior art which such a person may have regard to. The board considered that a person skilled in some art may well have regard to prior art from a field which is not, in a narrow sense, their "own field". It is reasonable to assume, for instance, that persons skilled in one field will typically keep themselves informed about developments in related fields, and in this sense have regard to prior art in related fields. The board disagreed with T 646/22 and held that in principle, all problems which the skilled person would have addressed (or been asked to address) based on the prior art alone are valid ones. In the present case, the board assumed a person skilled in liveness detection methods. Such a person was, generally, interested in improving, or finding alternatives to, known liveness detection methods, based on the knowledge that known methods have known pitfalls. Liveness detection for authentication and authentication were closely related technical areas. The board noted that it was typical to try adapting developments in neighbouring fields to the own area of interest. It was certainly common practice in image processing, in particular when the images were of the same type. Thus, in the board's judgement, the person skilled in the art in liveness detection would have regard to D1 and would have reason to adapt its solution to liveness detection in a way leading to the invention according to claim 1 of the main request before the examining division. The current requests differed from that request ("quality parameter").
Finally, the board noted that during examination a relatively large number of documents were cited, some of them concerned with liveness detection, but were not discussed in the decision. A positive decision on inventive step could not be issued before at least these documents have been discussed (Remittal).
- T 1078/23
In ex parte case T 1078/23, the decision of the examining division refused the European patent application for, at least, lack of inventive step; the examining division considered prior-art document D1 "to be the prior art closest to the subject-matter of claim 1". The appellant submitted that document D1 failed to disclose at least feature (c) of claim 1. So, document D1 – in spite of belonging to the same technical field as the present application – was not an appropriate starting point; the skilled person would rather choose document D5.
In the board’s view, the appellant's argumentation was not convincing. First, the board considered, in agreement with T 787/17, T 967/97, T 1112/19, T 449/23, and contrary to e.g. T 2057/12, T 2759/17 or the conclusions drawn in the first-instance decision of the Unified Patent Court UPC_CFI_1/2023 of the Central Division Munich (point 8.6), that no specific justification for the choice of a starting point for the assessment of inventive step is necessary if inventive step is to be denied, since the claimed subject-matter must be inventive over any state of the art according to Art. 56 EPC. Moreover, it is not the task of the skilled person, who is the person qualified to solve the underlying objective technical problem according to the problem-solution approach, to "choose a document as the closest prior art" (see e.g. T 1450/16). Selection criteria such as the "intended purpose" of the claimed subject-matter thus constitute merely a matter of efficiency for the deciding body.
The board added that a selected starting point might indeed turn out to not be suitable for denying inventive step if, for example, the resulting objective technical problem formulated on the basis of that starting point was an unrealistic or artificial one. But this did not mean that a starting point was to be disqualified as unsuitable right from the outset. Nor was it relevant in that context whether other pieces of prior art, such as document D5, were "relatively closer" to the claimed subject-matter, as argued by the appellant.
Document D1 belonged to the application's technical field; specifically it disclosed features (a) and (b). The fact that D1 did not disclose feature (c), did however not preclude it from being an appropriate starting point for the assessment of inventive step.