3. Nächstliegender Stand der Technik
3.2. Ansätze zur Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik
Der nächstliegende Stand der Technik ist nach Ansicht der Kammer in T 24/81 (ABI. 1983, 133) aus der Sicht der Fachperson am Tag vor dem wirksamen Anmelde- oder Prioritätstag der beanspruchten Erfindung zu beurteilen (s. T 772/94; T 971/95; s. auch EPÜ Richtlinien G‑VII, 5.1 – Stand April 2025).
In T 1212/01 stellte die Kammer fest, dass die Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik kein subjektiver, sondern ein objektiver Vorgang ist. Sie stützt sich auf einen objektiven Vergleich des Gegenstands, der Ziele und Merkmale der verschiedenen Teile des Stands der Technik durch die Durchschnittsfachperson und hat zum Ergebnis, dass aus diesen Teilen einer als nächstliegender Stand der Technik ermittelt wird.
In T 2759/17 hob die Kammer jedoch zwei unterschiedliche Ansätze in der Rechtsprechung in Bezug auf die Wahl des Ausgangspunkts hervor. In einem ersten Ansatz ist es das Entscheidungsorgan, das den nächstliegenden Stand der Technik auswählt (s. z. B. T 1241/18, T 1450/16, T 855/15). Bei einem zweiten Ansatz kommt die Fachperson bereits dann ins Spiel, wenn die Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik ausgewählt wird (s. z. B. auch T 254/86, T 2148/14).
In T 1450/16 stimmte die Kammer nicht darin überein, dass gemäß dem maßgebenden Aufgabe-Lösungs-Ansatz die Fachperson damit betraut werden könne, den nächstliegenden Stand der Technik oder einen geeigneten Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auszuwählen. Das würde bedeuten, dass dieselbe (fiktive) Person, die das Naheliegen eines bestimmten beanspruchten Gegenstands beurteilt, von vornherein ihr "favorisiertes" Dokument aus dem Stand der Technik ausgewählt hätte, um diese Beurteilung durchzuführen, was ferner implizieren würde, dass diese Fachperson sich die objektive Aufgabe selbst stellen könnte. Nach Ansicht der Kammer widerspricht dies jedoch dem Ziel des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, eine objektive Methode zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bereitzustellen und soweit wie möglich eine unzulässige rückschauende Analyse zu vermeiden. Die Kammer, die den Schlussfolgerungen aus T 422/93 folgte, vertritt somit die Ansicht, dass die Fachperson nach Art. 56 EPÜ erst ins Spiel kommt, wenn die objektive technische Aufgabe gegenüber dem gewählten "nächstliegenden Stand der Technik" bereits formuliert worden ist.
Erst dann können das einschlägige Fachgebiet der fiktiven Fachperson und der Umfang dieses Fachgebiets angemessen definiert werden (s. Kapitel I.D.8.1). Deshalb kann die Auswahl des nächstliegenden Stands der Technik im ersten Schritt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes nicht von der "Fachperson" vorgenommen werden. Diese Auswahl ist vielmehr vom zuständigen Entscheidungsorgan (dessen Mitglieder nicht mit der fiktiven Fachperson gleichgesetzt werden können: T 1462/14; s. auch Kapitel I.D.8.1.1), auf der Grundlage der etablierten Kriterien zu treffen, um eine rückschauende Analyse zu vermeiden.
In T 154/17 bestätigte die Kammer, dass die Wahl eines Ausgangspunkts der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dient und somit nicht von der Fachperson, sondern von dem Organ ausgewählt wird, das aus den nach Art. 56 EPÜ zulässigen Offenbarungen des Stands der Technik über die erfinderische Tätigkeit entscheidet. Die fiktive Fachperson steige erst nach Bestimmung der objektiven technischen Aufgabe in das Szenario des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes ein. Welche Lehre die Fachperson oder das Team, das die objektive technische Aufgabe lösen will, aus dem Ausgangspunkt und etwaigen ergänzenden Offenbarungen des Stands der Technik abgeleitet hätte, ist dann vor dem maßgeblichen Stichtag aus ihrer Sicht zu beurteilen. Auf diese Weise werde die Offensichtlichkeit unter Vermeidung von Rückschau beurteilt.
In T 2759/17 stellte die Kammer in Bezug auf den ersten Ansatz, bei dem das Entscheidungsorgan den nächstliegenden Stand der Technik auswählt, fest, dass die Fachperson und ihre Erwartungen, Vorurteile, Kenntnisse und Fähigkeiten bei der Auswahl keine Rolle spielen, sondern erst später ins Spiel kommen, wenn die nächstliegende Lehre ermittelt und die Aufgabe formuliert worden ist. Bei diesem Ansatz ist es nicht möglich, eine technische Lehre mit der Begründung außer Acht zu lassen, dass die Fachperson sie nicht für den erfolgversprechendsten – oder zumindest für einen ansonsten realistischen – Ausgangspunkt gehalten hätte. Bei dem zweiten von der Kammer ermittelten Ansatz ist daher die technische Lehre zu bestimmen, von der die Fachperson realistischerweise als erfolgversprechendstes Sprungbrett zur Erfindung ausgehen würde (s. z. B. T 254/86, T 2148/14). Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass die Fachperson im Allgemeinen nach einer Offenbarung sucht, die in Bezug auf Zweck oder Wirkung dem betreffenden Patent entspricht oder zumindest ähnelt (s. z. B. T 710/97). Diesem Ansatz folgend kann ein Angriff auf erfinderische Tätigkeit mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass die Fachperson die spezifische Offenbarung, auf die sich der vorliegende Angriff stützt, realistischerweise nicht als Ausgangspunkt gewählt hätte (s. z. B. T 1307/12, T 2114/16).
In T 2759/17 war die Kammer fest davon überzeugt, dass nach ständiger Rechtsprechung die Fachperson von Anfang an der maßgebliche Bezugspunkt bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist. Die Feststellung, ob eine Erfindung erfinderisch ist, beinhaltet technische Überlegungen, die aus der Sicht der Fachperson angestellt werden müssen. Würde die Fachperson aus einem Teil der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ausgeschlossen werden, würde dies zu künstlichen und damit technisch bedeutungslosen Ergebnissen führen. Unter dieser Prämisse greift die Fachperson zumindest auf dem Gebiet der Chemie, um die es im vorliegenden Fall geht, in der Regel nicht willkürlich eine vorhandene Offenbarung aus dem Stand der Technik heraus und beginnt erst dann, darüber nachzudenken, auf welchem technischen Gebiet sie angewandt werden und welche Wirkung sie möglicherweise erzielen kann. Die Kammer stellte fest, dass der zweite Ansatz im Gegensatz zum ersten auf einem technisch sinnvollen und somit realistischen Szenario beruht. Genauer gesagt ist die Fachperson in der Regel mit einem bestimmten Zweck bzw. einer bestimmten Wirkung konfrontiert, die auf einem bestimmten technischen Gebiet erreicht werden soll. Vor diesem Hintergrund würde die Fachperson dann nach einer Offenbarung des Stands der Technik aus demselben technischen Gebiet suchen, die in Bezug auf Zweck und Wirkung der zu prüfenden Erfindung entspricht oder ihr ähnelt. Dies war nach Auffassung der Kammer mit dem "erfolgversprechendsten Sprungbrett" gemeint (s. Kapitel I.D.3.7.2). Durch die Anwendung dieses zweiten Ansatzes wird somit der Nachteil vermieden, bei der Wahl des Ausgangspunkts für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit eine rückschauende Betrachtungsweise einzunehmen.
Weitere Entscheidungen, in denen die Beschwerdekammern zumindest implizit darauf hinweisen, dass die Fachperson den nächstliegenden Stand der Technik auswählen kann, sind T 1841/11, T 2057/12, T 1248/13.
Siehe auch Kapitel I.D.8.1.2 "Der Punkt, am dem die Fachperson ins Spiel kommt"