D. Erfinderische Tätigkeit
5. "Could-would approach" (Naheliegen)
Bei der Beurteilung der Frage, ob die beanspruchte Erfindung angesichts des nächstliegenden Stands der Technik und der objektiven technischen Aufgabe für die Fachperson naheliegend gewesen wäre, wenden die Beschwerdekammern den "could would approach" an (s. dazu auch EPÜ Richtlinien G‑VII, 5.3 – Stand April 2025). Danach ist es nicht ausschlaggebend, ob eine Fachperson den Gegenstand des Streitpatents hätte ausführen können, sondern vielmehr, ob er es in der Erwartung auf eine Lösung der zugrunde liegenden technischen Aufgabe bzw. in der Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch getan hätte (T 2/83, ABl. 1984, 265; T 90/84; T 7/86, ABl. 1988, 381; T 200/94; T 885/97, T 1148/15). Bei der Beurteilung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand eine naheliegende Lösung für eine objektive technische Aufgabe darstellt, ist danach zu fragen, ob die Fachperson in der Erwartung, die Aufgabe zu lösen, die Lehre der nächstliegenden Entgegenhaltung angesichts anderer Lehren des Stands der Technik so abgewandelt hätte, dass sie zu der beanspruchten Erfindung gelangt wäre (T 1014/07, T 867/13). Die Antwort auf die Frage hängt vom Ergebnis ab, das die Fachperson erhalten möchte (T 939/92, ABl. 1996, 309; s. z. B. auch T 1249/20). Es kommt somit nicht darauf an, ob die Fachperson durch Modifikation des Stands der Technik zur Erfindung hätte gelangen können; zu fragen ist vielmehr, ob sie in Erwartung der tatsächlich erzielten Vorteile, d. h. im Lichte der bestehenden technischen Aufgabe, so vorgegangen wäre, weil dem Stand der Technik Anregungen für die Erfindung zu entnehmen waren (T 219/87, T 455/94, T 414/98, T 2197/19).
In T 1014/07 stellte die Kammer fest, dass danach zu fragen ist, ob die Fachperson eine bestimmte Änderung vorgenommen hätte – und nicht, ob sie sie hätte vornehmen können – und dass zur Beantwortung dieser Frage nach schlüssigen, Gründen auf der Grundlage von konkreten Beweisen zu suchen ist, die die Fachperson bewogen hätten, auf die eine bzw. auf die andere Weise vorzugehen. In T 1045/12 befand die Kammer (unter Verweis auf T 1014/07), dass ihre Entscheidung, da sie auf die Vorveröffentlichungen D4 und D3 gestützt war, auf "konkreten Beweisen" beruhte.
Wenn eine Erfindung erst einmal gemacht worden sei, lasse sich häufig aufzeigen, dass eine Fachperson durch Kombination verschiedener Teile des Stands der Technik zu ihr hätte gelangen können; solche Überlegungen müssten aber außer Acht gelassen werden, da sie das Ergebnis einer Ex-post-facto-Analyse seien (T 564/89).
Nach T 939/92 (ABl. 1996, 309) hängt die Antwort auf die Frage, was eine Fachperson im Lichte des Stands der Technik getan hätte, in hohem Maße davon ab, welches technische Ergebnis sie sich zum Ziel gesetzt hatte bzw. welches Ergebnis sie erreichen wollte. Mit anderen Worten, es ist nicht davon auszugehen, dass die Durchschnittsfachperson etwas ohne konkreten technischen Grund und aus reiner Neugier tut, sondern dass sie einen bestimmten technischen Zweck verfolgt (s. auch T 28/20, T 2029/21).
In T 2197/11 befand die Kammer, dass die Auswahl eines potenziell weniger vorteilhaften, zerkleinerten L-Carnitin-Fumarats kein erfinderisches Zutun erfordert, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, lediglich um die Inkaufnahme eindeutig vorhersehbarer Nachteile handelt. Es gehört zur Routinearbeit einer Fachperson, unter den gegebenen Umständen zu entscheiden, ob der potenzielle Vorteil gegenüber den potenziellen Nachteilen überwiegt und welche der potenziellen Nachteile akzeptabel sind. Erfinderische Fähigkeiten sind in dieser Hinsicht nicht erforderlich.
In T 867/13 führte die Kammer Folgendes aus: Was die mit der objektiven technischen Aufgabe betraute Fachperson ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik tun oder nicht tun würde, hängt nicht nur von der Offenbarung im nächstliegenden Stand der Technik ab, sondern auch vom Stand der Technik auf dem betreffenden technischen Gebiet (s. auch T 3016/18).
In T 1126/09 wies die Kammer darauf hin, dass nach dem "could/would approach" im Einzelfall bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu prüfen ist, inwieweit die Fachperson, ausgehend von dem nächstkommenden Stand der Technik, und unter Berücksichtigung der Wirkung der Unterscheidungsmerkmale gegenüber diesem Stand der Technik bzw. der daraus ableitbaren objektiven Aufgabe, eine Veranlassung dafür hatte, weiteren Stand der Technik heranzuziehen und dessen Lehre auf das Verfahren/ die Vorrichtung des nächstkommenden Standes der Technik anzuwenden, oder, anders ausgedrückt, ob ein auf eine Kombination der Lehren der angesprochenen Entgegenhaltungen hinweisender Anhaltspunkt ersichtlich ist.
Die technische Möglichkeit und das Fehlen von Hindernissen sind nur notwendige Voraussetzungen für die Ausführbarkeit, sind aber nicht hinreichend, um das für die Fachperson tatsächlich Realisierbare nahezulegen (T 61/90). Die Tatsache, dass die Fachperson die einem technischen Mittel innewohnenden Eigenschaften kannte, sodass sie theoretisch die Möglichkeit hatte, dieses Mittel in einer herkömmlichen Vorrichtung einzusetzen, besagt lediglich, dass die Möglichkeit bestand, das technische Mittel auf solche Weise zu verwenden, d. h., dass die Fachperson es hätte verwenden können. Soll jedoch aufgezeigt werden, dass diese theoretische Möglichkeit auch eine technische Maßnahme war, deren Anwendung für die Fachperson naheliegend war, so muss gezeigt werden, dass im Stand der Technik ein Anhaltspunkt dafür erkennbar war, das bekannte Mittel und die herkömmliche Vorrichtung zur Erreichung des angestrebten technischen Ziels miteinander zu kombinieren, d. h., dass die Fachperson eine solche Kombination tatsächlich vorgenommen hätte. Ob ein solcher technischer Beweggrund vorliegt, hängt von den bekannten Eigenschaften nicht nur des Mittels, sondern auch der Vorrichtung ab (T 203/93, T 280/95). Dass die Fachperson theoretisch die Möglichkeit hatte die Erfindung zu realisieren bedeutet nur, dass sie die notwendigen Mittel hätte verwenden können. Soll jedoch aufgezeigt werden, dass die Fachperson dies tatsächlich gemacht hätte, muss im Stand der Technik ein Anhaltspunkt erkennbar sein, der die Fachperson veranlasst hätte die Mittel auch so einzusetzen (T 1317/08).
In T 905/17 hatte die Einspruchsabteilung eine Argumentationslinie zurückgewiesen, da es im Dokument D4 keinen "Hinweis darauf gibt, die Auskleidung (3) wegzulassen und anschließend im Stand der Technik nach geeigneten Materialien für die dann der Korrosion ausgesetzten Druckbewehrungen (5, 6) zu suchen". Die Kammer fand diese Begründung nicht überzeugend. Die Fachperson, die von einem Element aus dem Stand der Technik ausgeht und ein bestimmtes Problem zu lösen hat, braucht nicht unbedingt einen mit diesem Element zusammenhängenden "Hinweis". Sonst wäre es nie möglich, ausgehend von einem offenkundig vorbenutztem Objekt, das in der Regel von keinerlei Hinweisen begleitet ist, mangelnde erfinderische Tätigkeit festzustellen. In Ermangelung eines Hinweises könnte die Fachperson ausgehend von ihrem allgemeinen Fachwissen oder von Dokumenten aus dem Stand der Technik, die ausdrücklich eine Lösung für die sich stellende Aufgabe lehren, trotzdem die zu dem beanspruchten Gegenstand führenden Schritte ergreifen.
In T 555/18 stellte die Kammer fest, dass, wenn das einzige Merkmal, das die Erfindung vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheidet, ein Bereich eines unüblichen Parameters ist, die Beurteilung des Naheliegens durch die Tatsache beeinträchtigt werden kann, dass solche Parameter per definitionem selten im relevanten Stand der Technik beschrieben werden. Die Kammer schlussfolgerte, dass unter solchen Umständen ein ähnlicher Ansatz wie der in T 131/03 und T 740/01 vorgeschlagene angewendet werden soll, um über die Frage des Naheliegens zu entscheiden. Insbesondere soll, sobald festgestellt wurde, dass es für die Fachperson naheläge, die zugrunde liegende technische Aufgabe auf eine Weise zu lösen, von der angenommen werden kann, dass sie von Natur aus zu Werten innerhalb oder nahe dem beanspruchten Bereich führt, der Patentinhaber die Beweislast dafür tragen, dass die Umsetzung solcher Lösungen nicht zum beanspruchten Parameterbereich führt. Näheres zur Umkehr der Beweislast in Bezug auf unübliche Parameter enthält das Kapitel III.G.5.2.2 d).
In T 894/19 erklärte die Kammer, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Merkmalkonfiguration bloß eine naheliegende und somit nicht erfinderische Auswahl aus einer Reihe bekannter und gleichartiger Möglichkeiten darstellt, der "could-would approach" in der Regel nicht anwendbar ist (s. auch T 1968/08 und T 12/07). Zur Betrachtung aller – gleichermaßen naheliegenden – Lösungen reicht es ihrer Auffassung nach aus, dass die Fachperson die betreffenden Lösungen ohne erfinderisches Zutun erkennen kann. Ein gesonderter Hinweis ist dann nicht erforderlich.
In T 3255/19 befand die Kammer, dass die Fachperson keine angemessene Erfolgserwartung hatte, dass der Asparaginase-Ersatz aus Dokument D8 durch eine Asparaginase aus Erwinia chrysanthemi, die eine 90-prozentige Identität mit der Aminosäuresequenz von SEQ ID NO: 1 aufweist, ein therapeutisch aktives Konjugat ergibt. Das gegenteilige Argument des Beschwerdeführers berücksichtigt nicht die Unvorhersehbarkeit der Aktivität des Enzyms nach der Pegylierung.
In T 1231/20 befand die Kammer, dass, sobald ein überzeugendes Argument dafür vorgebracht worden ist, warum die beanspruchte Erfindung für die Fachperson naheliegend – d. h. eine offensichtliche Lösung für eine objektive technische Aufgabe, die vernünftigerweise erwartet werden kann – gewesen wäre – die Bestimmung einer anderen, spezifischeren ("subjektiven") technischen Aufgabe, für die die beanspruchte Erfindung als Lösung nicht naheliegend erscheine, nicht ausreicht, um die Feststellung des Naheliegens zu entkräften.
In T 149/22 war in der beanspruchten Erfindung die Zugabe von Phospholipase A in einen Kuchenteig vorgesehen, um so die verwendete Menge an Fett zu verringern und dabei gleichzeitig die resultierenden Eigenschaften des Kuchens zu bewahren. Die Kammer befand, dass die Argumente, wonach die Fachperson ohne erfinderische Tätigkeit zu der beanspruchten Lösung gelangt wäre, auf Rosinenpickerei basierten und eine übermäßig vereinfachte Auslegung der in den angeführten Dokumenten dargelegten Informationen darstellten. Man habe nicht davon ausgehen können, dass die Zutaten des Teigs dieselben Eigenschaften hätten und somit austauschbar waren; für den Fall der Verwendung eines anderen Enzyms in dem Teig war aufgrund der Komplexität des daraus resultierenden Systems keine vernünftige Vorhersage der Eigenschaften des daraus resultierenden Produkts möglich. Die Argumente des Einsprechenden waren somit durch einerückschauende Betrachtung belastet.
Die Kammer in T 1383/21 bestätigte, dass auch eine Mehrzahl unterschiedlicher Merkmale keine erfinderische Tätigkeit begründet, wenn sie jeweils für sich naheliegend sind, selbst wenn sie unabhängig voneinander zur Lösung derselben Aufgabe (hier zur Erhöhung des Wirkungsgrads der Vorrichtung) beitragen sollten.
- T 1865/22
In T 1865/22 the board determined that the objective technical problem was to provide an alternative stripping composition.
Considering obviousness, the board found that arbitrarily varying the concentrations of components in a composition, including changing the concentration of one component in favour or to the detriment of the other components, was routine for the skilled person. Such a measure did not involve an inventive step.
The respondent (patent proprietor) had also argued that the skilled person would not have reduced the amount of the coupling agent monoethylene glycol in example 2 of D7, because according to D7 high concentrations of the coupling agent were essential for the stripping composition to have an appropriate tolerance to water. Mainly because of this argument, the opposition division had acknowledged an inventive step based on D7 as the closest prior art.
The board stated that the mere fact that claimed subject-matter excluded a technical feature (here: the higher concentration of the coupling agent monoethylene glycol) disclosed in the closest prior art as being essential or advantageous for a technical effect (here: the advantageous effect of the higher concentration of the coupling agent monoethylene glycol on the tolerance to water) could not in itself establish the existence of an inventive step. Rather, in situations such as the present one, where the exclusion of the technical feature in question was the only feature distinguishing the claimed subject-matter from the closest prior art, it must be shown that the claimed subject-matter achieved said technical effect to an extent comparable to that of the closest prior art, even without this feature. Without such proof, the claimed subject-matter merely resulted in an obvious deterioration of the technical effect described in the closest prior art.
It followed that the subject-matter of claim 1 of the main request was not based on an inventive step over D7 alone and that the main request was not allowable.
At the oral proceedings before the board, the respondent had also submitted for the first time in the appeal proceedings that the distinguishing feature was associated with technical effects. The stripping composition (i) had a lower viscosity and, as a consequence of this, was easier to filter and (ii) caused less damage to the substrate upon incorporation of water during use. In other words, the stripping composition was more tolerant to water. The board decided not to admit these submissions (Art. 13(1) and (2) RPBA). The respondent's submissions at the oral proceedings constituted an amendment to its appeal case and there existed no exceptional circumstances in the case in hand (Art. 13(2) RPBA). The change of representative approximately three weeks before the oral proceedings does not qualify as an exceptional circumstance.
The board also noted that the respondent’s submission raised a complex issue. The application as filed did not mention anything about a reduction in viscosity or an improvement in filterability raised by the respondent in its submission. Against this background, the complex issue arose as to whether the respondent could rely on these effects at all for the assessment of inventive step (in light of G 2/21). In the board's view, this and a further complex issue also clearly spoke against the admittance of the respondent's submissions (Art. 13(1) RPBA).
Lastly, the respondent should have filed its submissions on the additional distinguishing feature "non-aqueous" and the two technical effects much earlier and not only at the oral proceedings before the board, i.e. at the latest possible stage of the appeal proceedings. Admitting these submissions would clearly have been contrary to procedural economy (Art. 13(1) RPBA).
In addition to the above, the board found that none of the auxiliary requests were allowable. The board ordered that the decision under appeal be set aside and that the patent be revoked.