4.4. Nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereichte Einwendungen Dritter
4.4.1 Allgemeines
Grundsätzlich können Einwendungen Dritter nach Ablauf der Einspruchsfrist, also auch erst im mehrseitigen Beschwerdeverfahren erhoben werden, denn Art. 115 EPÜ setzt hierfür keine Frist. Obwohl in Art. 114 (2) EPÜ verspätetes Vorbringen nur auf Verfahrensbeteiligte Anwendung findet, wird nach ständiger Rechtsprechung ein Vorbringen (d. h. Tatsachen und Beweismittel) aus Einwendungen unbeteiligter Dritter, welches erst nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgelegt wurde, fiktiv ebenso als "verspätet" behandelt. So kann Art. 115 EPÜ nicht der Ausweitung von Rechten Dritter, ganz zu Schweigen gegenüber Verfahrensbeteiligten, dienen. Mit anderen Worten ist der in Art. 114 (1) EPÜ verankerte Grundsatz der Amtsermittlung bei Einwendungen Dritter nach Ablauf der Frist gemäß Art. 99 (1) EPÜ unter der Fiktion der Verspätung auszuüben, d.h. die Einwendungen unterliegen den in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien der Ermessensausübung für die Zulassung von verspätetem Vorbringen nach Art. 114 (2) EPÜ. T 1756/11 mit Verweis auf T 580/89 date: 1991-08-29, T 951/91, G 9/91 und G 10/91; s. auch T 402/12, T 1216/12, T 1528/13, T 1285/15, T 1574/17, T 2913/19, T 972/22.
Da in der VOBK einige Kriterien für die Ausübung dieses Ermessens im Hinblick auf das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten im Beschwerdeverfahren aufgestellt wurden, müssen diese Kriterien nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern auch für Einwendungen Dritter gelten. Siehe z. B. T 2255/15, T 1779/17, T 2391/18, T 1321/19, T 2913/19, T 2342/19.
Unbeschadet der rechtlichen Stellung des Dritten verliert im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren das Gewicht des Grundsatzes der Amtsermittlung aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren seine juristische Tragweite, insbesondere im Inter-partes-Verfahren (G 9/91 und G 10/91, ABl. 1993, 408, 420). Siehe Kapitel V.A.3.3. "Sachverhaltsprüfung – Anwendungsrahmen von Artikel 114 EPÜ im Beschwerdeverfahren".
In T 301/95 vom 28. März 2000 date: 2000-03-28 wurde die angebliche offenkundige Vorbenutzung nach Ablauf der Einspruchsfrist, also verspätet, von einem Dritten geltend gemacht. Gemäß Art. 114 (2) EPÜ lag es im Ermessen der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer, dieses verspätete Vorbringen zu berücksichtigen, wobei bei der Entscheidung über eine derartige Berücksichtigung die Relevanz des verspätet genannten Standes der Technik das wichtigste Kriterium darstellte. Die Einwendungen wurden nicht berücksichtigt.
Gemäß T 923/10 liegt es im Ermessen der Kammern, solche Einwendungen zu berücksichtigen oder nicht. Beim Ausüben ihres Ermessens wenden die Kammern normalerweise dieselben Kriterien an wie bei der Entscheidung über die Zulässigkeit von verspätetem Vorbringen der Parteien nach Art. 114 (2) EPÜ und nach der VOBK. Eines dieser Kriterien ist die Relevanz des Vorbringens (s. z. B. T 1137/98, T 390/07, T 544/12). Insbesondere ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Beschwerdeverfahren bei verspätetem Vorbringen als wesentlichem Kriterium der Frage nachzugehen, ob das Vorbringen prima facie hoch relevant ist, d. h. eine Änderung des Verfahrensausgangs erwarten lässt (T 1216/12, T 2342/19, T 1321/19). In T 1348/11 fügte die Kammer hinzu, dass dem Vorbringen eines Dritten kein höherer Stellenwert eingeräumt werden darf als dem Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten, für den Art. 114 (2) EPÜ gilt (T 1574/17, T 1427/21).