3.4. Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
3.4.3 In der ersten Instanz zugelassenes Vorbringen – Teil des Beschwerdeverfahrens
In mehreren Entscheidungen stellte sich die Frage, inwieweit die Zulassung von Dokumenten, Anträgen in der ersten Instanz von den Kammern überprüft werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammern ist es bei einer angefochtenen Ermessensentscheidung der ersten Instanz nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte (s. oben Kapitel V.A.3.4.1 b)).
In mehreren Entscheidungen wurde festgestellt, dass das EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür bietet, im Beschwerdeverfahren Unterlagen (Dokumente, Anträge oder Beweismittel) auszuschließen, die im erstinstanzlichen Verfahren korrekt zugelassen worden sind, insbesondere wenn die angefochtene Entscheidung auf sie gestützt ist (T 1852/11, T 1201/14, T 1227/14, T 525/15, T 1348/16, T 852/17, T 2049/16, T 1525/17, T 110/18, T 1861/22, T 2037/22). Angesichts des eigentlichen Ziels des Beschwerdeverfahrens, nämlich die angefochtene Entscheidung gemäß Art. 12 (2) VOBK gerichtlich zu überprüfen, sind solche Unterlagen automatisch Teil des Beschwerdeverfahrens (T 617/16, T 487/16, T 2603/18). In T 1206/19 befand die Kammer, dass nur im Fall eines wesentlichen Verfahrensmangels ein von der erstinstanzlichen Abteilung zugelassenes Dokument wieder ausgeschlossen werden kann; dies würde in der Regel zu einer direkten Zurückverweisung führen (anders als in T 960/15). In T 1193/21 fasste die Kammer in einem obiter dictum verschiedene Entscheidungen zu dieser Frage zusammen.
In T 2049/16 hatte die Einspruchsabteilung D20, das vom Einsprechenden einen Monat vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden war, zum Verfahren zugelassen, weil sie es prima facie für relevant hielt. Es wurde argumentiert, dass die Einspruchsabteilung das Dokument nicht hätte zulassen dürfen, weil seine verspätete Einreichung einen taktischen Verfahrensmissbrauch darstelle. Die Kammer war jedoch nicht überzeugt, dass das Verhalten des Einsprechenden als Verfahrensmissbrauch angesehen werden konnte. Sie prüfte, ob die Zulassung im Beschwerdeverfahren zurückgenommen werden könnte, doch war ihr keine explizite Rechtsgrundlage bekannt, die es ermöglichen würde, rückwirkend Beweismittel auszuschließen, die in das Verfahren zugelassen worden waren und über die die erstinstanzliche Abteilung entschieden hatte.
In T 572/14 erklärte die Kammer, dass sie das Vorbringen eines Beteiligten im Beschwerdeverfahren nur auf Grundlage des Art. 114 (2) EPÜ und der Art. 12 (4) und 13 VOBK 2007 für unzulässig befinden und damit außer Acht lassen könne. Da das Dokument (21) jedoch von der Einspruchsabteilung zugelassen worden und damit Teil des Einspruchsverfahrens gewesen sei, könne es nach Art. 12 (4) VOBK 2007 nicht vom Beschwerdeverfahren ausgeschlossen werden (s. auch T 467/08).
In T 1227/14 wies die Kammer darauf hin, dass einer Beschwerdekammer nicht die Möglichkeit gegeben ist, ein Vorbringen, das die Einspruchsabteilung unter Wahrung ihres Ermessenspielraums ins Einspruchsverfahren zugelassen hat, im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen.
In T 104/17 war für die Kammer nicht unmittelbar erkennbar, auf welcher Rechtsgrundlage im Beschwerdeverfahren eine rückwirkende Nichtzulassung einzelner im Einspruchsverfahren zugelassener und der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegender Dokumente erfolgen könnte. Solche Dokumente sind gemäß Art. 12 (1) a) VOBK als Bestandteil der angefochtenen Entscheidung grundsätzlich auch Bestandteil des Beschwerdeverfahrens. Eine rückwirkende Nichtzulassung scheint auch aus Art. 114 (2) EPÜ nicht herleitbar. Hat die Prüfungs- oder Einspruchsabteilung ein womöglich spät eingereichtes Dokument zugelassen und damit in der Entscheidung auch berücksichtigt, kann diese Tatsache nicht ohne Aufhebung der gesamten Entscheidung und Zurückverweisung für eine erneute Entscheidung aus dem Verfahren herausgenommen oder anderweitig getilgt werden.
In T 2603/18 hatte die Kammer in Frage gestellt, inwieweit die Zulassung der D23 im Einspruchsverfahren von ihr überprüft werden kann. Die Kammer stellte fest, dass D23 Teil der dieser Beschwerde zugrundeliegenden Entscheidung geworden war, da sich die angefochtene Entscheidung auf D23 stützte, und daher schon allein deshalb im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen war. Andernfalls wäre eine (vollständige) Überprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht möglich (s. auch T 26/13, T 1568/12, T 487/16). Eine Überprüfung der Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung konnte daher im vorliegenden Fall nicht zum Ausschluss der D23 führen. Sie wies darauf hin, dass einige Kammern gleichwohl prüfen, ob die Zulassungsentscheidung der Einspruchsabteilung ermessensfehlerhaft war, wenn dies von einer Partei gerügt wird (vgl. T 1652/08, T 572/14, T 2197/11, T 960/15).
In T 467/15 stellte die Kammer fest, dass nur die Nichtzulassung von Tatsachen, Beweismitteln oder Anträgen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können, aber nicht vorgebracht worden sind, oder dort nicht zugelassen worden sind, in Art. 12 (4) VOBK 2007 ausdrücklich in das Ermessen der Kammer gestellt wird. Daraus folgt, dass der Beschwerdekammer nicht die Möglichkeit gegeben ist, ein Vorbringen, das die Einspruchsabteilung unter Wahrung ihres Ermessensspielraums ins Einspruchsverfahren zugelassen hat, im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen. Es erscheint fraglich, ob die Entscheidung, einen Antrag zuzulassen, im Beschwerdeverfahren gleichwohl im Hinblick auf das Vorliegen von Ermessensfehlern zu überprüfen ist (eine entsprechende Prüfung im Hinblick auf zugelassene Dokumente wurde z.B. vorgenommen in: T 572/14, T 1227/14, T 2197/11, T 1652/08, T 1209/05), wenn eine der Parteien dies begehrt, oder ob auch eine solche Prüfung nicht zu erfolgen hat (vgl. T 26/13 unter Hinweis auf T 1852/11), weil ein zugelassener Antrag, der die Grundlage der angefochtenen Entscheidung bildet, selbst bei ermessensfehlerhafter Zulassung seitens der Einspruchsabteilung im Beschwerdeverfahren nicht mehr vom Verfahren ausgeschlossen werden könnte.
In T 487/16 beantragte der Beschwerdeführer, D7 vom Beschwerdeverfahren auszuschließen. Die Kammer wies darauf hin, dass D7 Gegenstand des Einspruchsverfahrens und Grundlage der Entscheidung und damit auch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war (Art. 12 (2) VOBK). In Anbetracht des vorrangigen Ziels des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, und angesichts des Hauptantrags des Beschwerdeführers, das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten, was eine Überprüfung der Entscheidung in Bezug auf die unter anderem auf der Grundlage von D7 gezogenen Schlussfolgerungen erforderte, sah die Kammer keine Rechtsgrundlage für einen Verfahrensausschluss. Die Kammer bestätigte damit die unter der VOBK 2007 entwickelte Rechtsprechung (vgl. T 26/13, T 1568/12, T 2603/18). Der Vollständigkeit halber fügte sie hinzu, dass auch Art. 12 (4) VOBK 2007 keine Grundlage dafür bieten würde, D7 vom Beschwerdeverfahren auszuschließen, weil es von der Einspruchsabteilung zugelassen worden war.
Auch in T 858/17 hinterfragte die Kammer, ob es überhaupt in ihrem Ermessen steht, einen Antrag vom Beschwerdeverfahren auszuschließen, den die Einspruchsabteilung bereits zugelassen hatte und der zum Gegenstand der angefochtenen Entscheidung gemacht worden war (Art. 12 (2) VOBK; s. auch T 1227/14). Selbst unter der Annahme, dass sie befugt war, etwas aus dem Beschwerdeverfahren auszuschließen, was die Einspruchsabteilung zugelassen hatte, und unter Berücksichtigung der Entscheidung G 7/93 sah die Kammer im vorliegenden Fall keinen Grund, den Hauptantrag vom Beschwerdeverfahren auszuschließen.
In T 467/08 wies die Kammer den Antrag zurück, die Ergebnisse der im Einspruchsverfahren vorgelegten Vergleichsversuche im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen, und stellte fest, dass weder das EPÜ selbst noch die VOBK eine solche Entscheidung vorsähen. Die Beschwerdekammern könnten lediglich eine im vorangegangenen Einspruchsverfahren getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zulassung bzw. Nichtzulassung von verspäteten Ausführungen, Dokumenten und Anträgen überprüfen oder selbst über die Zulassung von im Beschwerdeverfahren eingereichten Ausführungen, Dokumenten und Anträgen entscheiden.
In T 1525/17 hatte die Einspruchsabteilung bei der Sachprüfung der erfinderischen Tätigkeit die verspätet eingereichten Entgegenhaltungen E5 und E6 unter allen Gesichtspunkten berücksichtigt. Sie hatte dann aber E5 und E6 nicht in das Verfahren zugelassen. Die Kammer stellte fest, dass es in sich widersprüchlich ist, verspätet eingereichte Dokumente einerseits bei einer eingehenden Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zugrunde zu legen, damit also in der Sache zu berücksichtigen, und andererseits zu erklären, diese würden nicht in das Verfahren zugelassen. Der Umstand, dass eine Prüfung in der Sache stattgefunden hat, führt regelmäßig dazu, dass diese auch im Beschwerdeverfahren von der Kammer vollumfänglich überprüfbar ist bzw. dass der Kammer jedenfalls eine Nichtzulassung nach Art. 12 (4) VOBK 2007 verwehrt ist, die sich auf den Umstand einer vermeintlichen, in Wahrheit aber im Selbstwiderspruch stehenden und daher ermessensfehlerhaften Nichtzulassung durch die Vorinstanz stützt (s. T 2324/14 und T 2026/15).
In T 346/16 hielt die Kammer es ebenfalls für erforderlich, die Unterlagen bei der Überprüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich Neuheit und erfinderischer Tätigkeit zu berücksichtigen, da sie trotz der ausdrücklichen Nichtzulassung durch die Einspruchsabteilung de facto Teil der Begründung der angefochtenen Entscheidung waren.
- T 0989/23
In T 989/23 auxiliary request 17, filed with the statement of grounds of appeal, had first been filed in the opposition proceedings on the final date set under R. 116 EPC. The opposition division had decided that this auxiliary request was not open for examination as to its admissibility since it had been filed within the set time limit. Auxiliary request 17 was not considered by the opposition division since a higher-ranking auxiliary request was found allowable. The appellant-opponent requested that auxiliary request 17 not be admitted into the appeal proceedings, arguing that the division had misunderstood its discretionary powers.
In view of the line of case law holding that submissions admitted by the opposition division could not be excluded from consideration on appeal (e.g. T 487/16, T 1768/17, T 617/16, T 26/13, T 989/23, T 1568/12, T 2603/18, T 3201/19) the board first addressed the extent of its power of review. It explained that like an opposition division's decision to disregard late-filed submissions, a decision to admit such submissions into the opposition proceedings was a discretionary procedural decision which formed part of the opposition division's final decision on the merits of an opposition. A decision to admit late-filed submissions adversely affected the party contesting their admittance (in view of a possible adverse decision on appeal based on the admitted submissions, T 1549/07). Therefore, a board had the power to review an opposition division's procedural decision to take into consideration submissions filed late in opposition proceedings. Otherwise, the parties' right to a judicial review of an essential part of the opposition division's decision would be denied. Moreover, on appeal, a board would be compelled to accept a legal and factual framework, even if it is based on an erroneous exercise of discretion. As a consequence, requests, facts or evidence that had been admitted into opposition proceedings could be disregarded on appeal if the opposition division's decision suffered from an error in the use of discretion (T 1209/05, T 1652/08, T 1852/11, T 2197/11, T 572/14, T 341/15, T 326/22, T 776/17). The board thus had the power and duty to review the opposition division's decision to admit auxiliary request 17 into the opposition proceedings.
The board held that the filing of requests for amendment of the patent was governed by Art. 123(1) EPC, which gave the opposition division the discretionary power not to admit new requests for amendment (e.g. T 755/96, OJ 2000, 174; T 980/08, T 1178/08, T 966/17, R 6/19, T 256/19, R 11/20). The exercise of this discretion had to take account of the following: In inter-partes proceedings, each party had to be given equal opportunity to present their case and a fair chance to respond to new matter raised by the other party or parties or by the opposition division. Both the opposition division and the parties had to observe the principle of good faith (T 669/90, OJ 1992, 739; T 201/92). To expedite the proceedings and implement the principle of fairness towards the other party or parties, each party had to submit all facts, evidence, arguments and requests for amendments relevant to their case as early and completely as possible (T 326/87, OJ 1992, 522; T 430/89; T 951/91, OJ 1995, 202). This case law had been developed mainly in the context of Art. 114(2) EPC, pertaining to facts and evidence. Nevertheless, in view of the principles set out above, the rationale of this case law also applied to a patent proprietor's requests for amendment of the patent (e.g. T 582/08). Whether amended sets of claims should be considered in opposition proceedings or not did not merely depend on their filing within the time limit under R. 116 EPC, but also on the specific circumstances of the case (see also T 364/20). Consequently, the opposition division erred in denying that it had discretionary power to disregard auxiliary request 17. As a consequence, this procedural decision did not establish that auxiliary request 17 was "admissibly raised" in opposition proceedings.
The board agreed with the opponent that the filing of additional sets of amended claims (including auxiliary request 17) on 23 January 2023 was not a diligent and appropriate reaction to the opponent's submissions filed on 14 April 2022 and reiterated on 2 September 2022, or to the opposition division's communication of 30 May 2022. Since part of the defences submitted by the proprietor was not able to overcome the board’s conclusions on lack of inventive step and a later filed part raised new issues, the board did not admit auxiliary request 17 into the appeal proceedings.