4.3.7 Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen wäre oder dort nicht mehr aufrechterhalten wurde – Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK
(i) Ersetzte Anträge
Das Ersetzen eines früher eingereichten Antrags durch eine neue Fassung führt de facto zur Zurücknahme des früheren Antrags (T 1897/20, T 687/20, T 541/20).
In T 1897/20 erklärte die Kammer, dass es nach Art. 12 (2) VOBK maßgeblich ist, auf welchen Anträgen die angefochtene Entscheidung beruht und nicht zu welchen Anträgen die Prüfungsabteilung dem Anmelder ihre Auffassung mitgeteilt hat. Indem der Anmelder in seiner Erwiderung auf die der Ladung beigefügte vorläufige Auffassung der Prüfungsabteilung frühere Fassungen der Ansprüche ersetzt hatte, hatte er auf die Möglichkeit verzichtet, eine begründete Entscheidung über diese Anträge zu erhalten. Folglich ließ die Kammer die diesen früheren Anträgen entsprechenden Hilfsanträge nicht zum Beschwerdeverfahren zu.
Auch die Kammer in T 687/20 akzeptierte nicht das Argument des Beschwerdeführers (Patentinhabers), dass er seinen Antrag nicht "aktiv zurückgenommen" habe. Der betreffende Antrag war im Lauf der mündlichen Verhandlung durch eine neue Fassung ersetzt worden. Die Erklärung der Einspruchsabteilung in der Niederschrift drückte eine vorläufige Auffassung aus. Durch das Ersetzen der früheren Fassung hatte der Beschwerdeführer der ersten Instanz die Möglichkeit genommen, über diese zu entscheiden. Siehe auch T 1094/22, wo alle vorangegangenen Anträge in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung durch einen neuen Hauptantrag ersetzt wurden.
Siehe auch Kapitel V.A.4.2.2 d), in dem jüngere Entscheidungen zusammengefasst sind, die sich mit der vergleichbaren Frage befassen, wann Vorbringen "in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, […] aufrechterhalten" wurden im Sinne des Art. 12 (4) VOBK.
(ii) Einwand nicht aufrechterhalten
In T 2137/22 entschied die Kammer, dass der auf das Dokument D1 gestützte Einwand des Beschwerdegegners eine Änderung seines Vorbringens im Sinne des Art. 12 (4) VOBK darstellte, denn er war in dem zu der angefochtenen Entscheidung führenden Verfahren nicht aufrechterhalten worden. Auf die Frage des Vorsitzenden der Einspruchsabteilung nach dem nächstliegenden Stand der Technik hatte der Einsprechende nämlich ausschließlich auf andere Schriftstücke verwiesen. Da der Einwand nicht aufrechterhalten worden war, kam Art. 12 (6) Satz 2 VOBK als lex specialis zu Art. 12 (4) VOBK zur Anwendung, und die Zulassung von D1 war nach Auffassung der Kammer nicht durch die Umstände gerechtfertigt.
Ein weiteres Beispiel ist T 266/23 (in der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vermerkte Zurücknahme).
(iii) Gegenbespiele: für aufrechterhalten befundenes Vorbringen
In T 19/20 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) im Einspruchsverfahren einen Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ gegen den Hauptantrag geltend gemacht. Die Kammer befand, dass dieser Einwand – auch wenn nicht ausdrücklich wiederholt – gegenüber niederrangigeren Anträgen aufrechterhalten worden war, die sich vom Hauptantrag durch Änderungen ohne Bezug zu diesem Einwand unterschieden. Die Erklärung des Beschwerdeführers vor der Einspruchsabteilung, dass er keine Einwände nach Art. 123 (3) EPÜ gegen den Hilfsantrag 2 (den späteren Hauptantrag im Beschwerdeverfahren) habe, war so zu verstehen, dass er keine weiteren Einwände hatte. Nach Auffassung der Kammer war somit die Voraussetzung des Art. 12 (6) Satz 2 VOBK ("nicht mehr aufrechterhalten") nicht gegeben.