1. Rechtlicher Status der Beschwerdekammern des EPA
1.5. Wesen der Rechtsprechung der Beschwerdekammern – keine bindenden Präzedenzfälle
Für ihre Entscheidungen über Überprüfungsanträge stellte die Große Beschwerdekammer in R 14/11 fest, dass diese wie Beschwerdekammerentscheidungen nicht die Rechtsnatur haben, einen Präzedenzfall in dem Sinne zu schaffen, dass die Kammer aufzeigen müsste, inwiefern eine spätere Entscheidung von einer früheren abweicht, damit die spätere Entscheidung rechtlich begründet ist. Unter Bezugnahme auf R 11/08 erläuterte die Große Beschwerdekammer, dass solche Unterschiede normal sind und der Nutzen von Rechtsprechung nicht auf ähnliche oder identische Fakten beschränkt ist, sondern in den Grundsätzen und Leitlinien (beispielsweise in der Auslegung von Rechtsvorschriften) zu finden ist, die unabhängig davon, ob die Fakten ähnlich sind oder nicht, früheren Fällen entnommen werden können.
In G 3/19 (ABl. 2020, A119) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass eine bestimmte Auslegung einer Rechtsvorschrift niemals in Stein gemeißelt ist, weil sich die Bedeutung der Vorschrift im Laufe der Zeit ändern oder weiterentwickeln kann. Dieser Aspekt ist der laufenden Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung immanent, und kommt im Kontext der Rechtsprechung der Beschwerdekammern in Art. 21 VOBK zum Ausdruck, wonach eine Kammer, die von einer früheren Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer abweichen will, die Große Beschwerdekammer mit der Frage befassen muss. Eine solche neue Vorlage wäre sinnlos, wenn es keine Möglichkeit gäbe – nicht einmal eine theoretische –, dass die Große Beschwerdekammer ihre frühere Beurteilung der Rechtsfrage revidiert.
In T 844/18 erklärte die Kammer zur Auslegung des Begriffs "jedermann" (Pariser Verbandsübereinkunft), dass es keine EPA- oder nationale Rechtsprechung gebe, in der die Auslegung der Beschwerdeführer klar und eindeutig angewandt würde. Generell müsse es für eine Änderung der ständigen Rechtsprechung und Praxis eine hohe Hürde geben, weil eine Änderung disruptive Auswirkungen haben könnte. Den Beschwerdeführern stehe eine mehr als hundertjährige Rechtsprechung und Praxis in Bezug auf den "Alle Anmelder"-Ansatz gegenüber, deren Korrektheit sie widerlegen müssten. Dies sei eine gewaltige Aufgabe (Nr. 53 der Gründe). Die Fortsetzung bewährter und rational begründeter Praktiken sei als Aspekt der Rechtssicherheit zu betrachten (Nr. 86 der Gründe).