6.3. Auswahl aus Parameterbereichen
6.3.2 Bereichsüberlappung und mehrfache Auswahl
Bei Erfindungen aus Parameterbereichen, die sich mit im Stand der Technik offenbarten Bereichen überschneiden, oder aus Mehrfachauswahlen (z. B. mit Teilbereichen, sich überlappenden Bereichen und/oder Auswahl(en) aus einer oder mehreren Listen) wird die Neuheit nicht durch getrennte Betrachtung der verschiedenen Parameter und ihrer Art, Bereiche oder Werte beurteilt. Sofern der beanspruchte Gegenstand nicht ausdrücklich im Stand der Technik offenbart ist, wird die Neuheit anerkannt, es sei denn, es gibt im Stand der Technik einen Hinweis auf die bestimmte beanspruchte Kombination.
Dies wurde in T 653/93 festgestellt, wo der Beschwerdeführer behauptete, das Verfahren gemäß Anspruch 1 sei neu, da es sich auf eine Kombination von drei Verfahrensmerkmalen mit ausgewählten Bereichen und Produktmerkmalen mit bestimmten Begrenzungen beziehe und diese Kombination im angezogenen bekannten Dokument nicht offenbart sei. Die Beschwerdekammer hob hervor, dass bei solchen Sachverhalten die Frage der Neuheit nicht durch eine gesonderte Betrachtung der einzelnen Parameterbereiche beantwortet werden könne. Nach Auffassung der Kammer wäre diese Vorgehensweise künstlich und ungerechtfertigt, da nicht die spezifizierten Bereiche der drei entsprechenden Parameter oder ihre Agglomeration Gegenstand des Anspruchs 1 seien, sondern die Gruppe der durch die Kombination dieser drei Bereiche definierten Verfahren, die im Vergleich zu der in der Entgegenhaltung offenbarten ziemlich klein sei. Demzufolge sei die hier beanspruchte Gruppe von Verfahren, die durch die Kombination von drei spezifischen Verfahrensparametern gekennzeichnet seien, nicht ausdrücklich im bekannten Dokument, das keinen Hinweis auf die bestimmte Bereichskombination enthielt, offenbart worden und könne somit als Ergebnis einer "mehrfachen (hier dreifachen) Auswahl" bezeichnet werden. Die Neuheit der technischen Lehre des Anspruchs 1 sei durch Versuchsdaten belegt worden, die zeigten, dass man die mit den beanspruchten Verfahren hergestellten Produkte nicht mit den Verfahren hätte gewinnen können, die den beanspruchten zwar nahekämen, aber dennoch außerhalb ihres Bereichs lägen. Demzufolge werde der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht als im entsprechenden Dokument des Stands der Technik offenbart angesehen (s. auch T 1095/18). Die Kammer grenzte die Sachlage im vorliegenden Fall von T 198/84 (Auswahl aus einem Zahlenbereich von nur einem einzigen Parameter) und T 666/89 (eindeutige Lehre im Stand der Technik in Bezug auf die beanspruchte bestimmte Merkmalskombination) ab.
In T 929/00 betonte die Kammer, dass der Fall, in dem ein Überlappungsbereich mit dem Stand der Technik nur durch eine Kombination verschiedener Auswahlen aus einer Vielzahl von Listen konstruiert werden konnte, von dem Fall zu unterscheiden ist, in dem der beanspruchte Gegenstand eine einzige Auswahl – eines Teilbereichs – aus dem Stand der Technik darstellt (siehe dazu Kapitel I.C.6.3.1 oben). Die Kammer betonte, dass für die Beurteilung der Neuheit nur relevant ist, was sich unmittelbar und eindeutig aus einer Vorveröffentlichung herleiten lässt, sei es ausdrücklich oder durch notwendige Implikation. Nach Prüfung der vorliegenden Vorveröffentlichung einschließlich aller darin angeführten Beispiele kam die Kammer zu dem Schluss, dass dieses Dokument keinen Hinweis enthielt, der die Fachperson zwangsläufig dazu veranlasst hätte, die ausdrücklich offenbarten Zusammensetzungen zu ändern, um zu dem beanspruchten Gegenstand zu gelangen.
In T 261/15 überschnitt sich die beanspruchte Zusammensetzung mit der generischen Zusammensetzung der in D1 offenbarten Perlitschiene. Da die verschiedenen Legierungselemente miteinander interagieren, um Niederschläge und feste Lösungen zu bilden, waren die Bereiche ihres Gehalts nicht isoliert, sondern in Kombination zu betrachten. Der Überschneidungsbereich bei der Zusammensetzung von D1 war demnach eng. Die bevorzugten Bereiche für einige Elemente (z. B. C) zu berücksichtigen, sie dagegen für andere Elemente (z. B. S, bei dem sich der bevorzugte Bereich nicht mit dem beanspruchten Bereich überlappte) außer Acht zu lassen, kam einer Rosinenpickerei innerhalb von D1 gleich, die eine neue Merkmalskombination ergab. Siehe auch T 2623/19 für ein weiteres Beispiel bezüglich eines Anspruchs auf eine Stahlsorte.
In T 1132/22 folgte die Kammer der Argumentation aus T 261/15 und T 2623/19, wobei sie (unter Verweis auf T 1688/20) hervorhob, dass das bei der Beurteilung der Neuheit von Bereichen anzuwendende Kriterium der Goldstandard, also die Frage nach der unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung im Stand der Technik, sei. Sie stellte ferner fest, dass im Fall von mehreren Bereichen das Konzept des "ernsthaften in Betracht Ziehens", wie in T 26/85 beschrieben, nicht mit diesem Standard übereinstimme und ein Konzept sei, das zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gehöre (siehe auch T 989/22).
In T 1571/15 gab es nur wenig Überschneidung zwischen der beanspruchten Zusammensetzung und der breiten Zusammensetzung von D1. In D1 war ein bevorzugter Bereich für die Zusammensetzung offenbart, und es gab keinen Hinweis darauf, außerhalb dieses Bereichs zu arbeiten. Wie die Kammer ausführte, könnte die Fachperson ernsthaft in Betracht ziehen, im zentralen Abschnitt eines im Stand der Technik beschriebenen Bereichs zu arbeiten, wenn es keinen anderen Hinweis auf einen anderen Abschnitt gebe (z. B. in Form von Beispielen für bevorzugte Bereiche); dies treffe jedoch nicht mehr zu, wenn ein solcher Hinweis wie im vorliegenden Fall vorhanden und auf einen anderen Abschnitt gerichtet war.
In T 1834/13 behauptete der Beschwerdeführer, dass D7 für den Anspruch 1 neuheitsschädlich sei, weil darin alle Merkmale des Anspruchs 1 beschrieben seien und somit ein Ausführungsbeispiel zwar nicht ausdrücklich offenbart, aber doch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei (implizite Offenbarung). Die Kammer bejahte, dass es einen Bereich der Überlappung gab; jedoch waren in D7 die Bänder gemäß Anspruch 1 als Konzept enthalten, aber nicht direkt und unmissverständlich beschrieben. Der Gegenstand des Anspruchs 1 war eine bestimmte Kombination, die aus einer Mehrfachauswahl aus den in D7 vorgeschlagenen Alternativen hervorging, aber für die es in D7 keinen Anreiz gab. Die Entscheidungen T 198/84 und T 65/96 waren hier nicht anzuwenden, weil sie keine Mehrfachauswahl betreffen. Die frühere Rechtsprechung zur Neuheit von sich überlappenden Bereichen basierte auf dem Fall T 666/89 (ABl. 1993, 495) (weiter präzisiert in T 245/91), in dem sich überlappende Zahlenbereiche zu beurteilen waren. Das Patent betraf insbesondere ein Shampoo, das 8 % bis 25 % eines anionischen Tensids und 0,001 % bis 0,1 % eines kationischen Polymers enthielt. In einer früheren Patentanmeldung war eine Shampoo-Zusammensetzung mit 5 % bis 25 % eines anionischen Tensids und 0,1 % bis 5 % eines kationischen Polymers offenbart. Die Kammer verneinte die Neuheit. Sie war der Auffassung, dass zwischen der Neuheitsprüfung im Falle eines sogenannten "Überlappens" oder einer "Auswahl" und der in anderen Fällen kein grundlegender Unterschied bestehe, obwohl es bei Überschneidungen zur Überprüfung des ersten Ergebnisses einer Neuheitsprüfung hilfreich sein könne, wenn geklärt werde, ob eine bestimmte technische Wirkung mit dem betreffenden engen Bereich verbunden sei. Es sei jedoch darauf hinzuweisen, dass das Vorliegen einer besonderen Wirkung weder ein Neuheitserfordernis sei noch Neuheit verleihen könne. Es könne lediglich dazu beitragen, eine bereits festgestellte Neuheit zu bestätigen. Der Begriff "zugänglich" in Art. 54 (2) EPÜ 1973 gehe eindeutig über eine schriftliche oder zeichnerische Beschreibung hinaus und schließe auch die ausdrückliche oder implizite Vermittlung technischer Informationen auf andere Weise ein. Somit liege es auf der Hand, dass verborgene Sachverhalte – verborgen nicht in dem Sinne, dass sie absichtlich verheimlicht worden wären, sondern vielmehr, dass sie in einem Dokument versteckt enthalten seien – nicht als "zugänglich gemacht" im obigen Sinne gälten. Bei sich überschneidenden Bereichen physikalischer Parameter in einem Anspruch und im Stand der Technik sei es zur Feststellung dessen, was "verborgen" und was zugänglich gemacht sei, häufig zweckmäßig, danach zu fragen, ob es für die Fachperson schwierig wäre, die Lehre des Stands der Technik im Überschneidungsbereich anzuwenden. Wenn die Information in dem bekannten Dokument in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen der Fachperson ausreicht, um ihr die Ausführung der technischen Lehre zu ermöglichen, und vernünftigerweise angenommen werden kann, dass sie dies auch getan hätte, ist der betreffende Anspruch nicht neu. Mit vergleichbaren Überlegungen wurde die Neuheit des ausgewählten Bereichs in den Entscheidungen T 366/90 und T 565/90 eingehend geprüft.
Für weitere Entscheidungen im Anschluss an T 666/89, s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 9. Auflage 2022, Kapitel I.C.6.3.