7.1. Deutlichkeit und Vollständigkeit der Offenbarung
7.1.2 Ein Weg zur Ausführung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich
Für eine hinreichende Offenbarung (Art. 100 b) und 83 EPÜ) muss die Kammer überzeugt sein, dass die Fachperson erstens der Patentschrift zumindest einen Weg zur praktischen Ausführung der beanspruchten Erfindung entnehmen und sie zweitens im gesamten beanspruchten Bereich ausführen kann. Ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass die erste Voraussetzung erfüllt und eine Ausführungsmöglichkeit aufgezeigt ist, so braucht sie die zweite Voraussetzung nicht zu berücksichtigen (T 792/00, Stichwort).
Zu diesem Grundsatz s. z. B. T 811/01, T 1241/03, T 364/06; s. auch T 1727/12, "Biogen sufficiency"; zum letztgenannten Begriff s. auch T 1845/14, wonach "die sogenannte Biogen insufficiency", wie in T 1727/12 angemerkt, nicht Teil der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist.
Der Schutzbereich des Patents soll durch den technischen Beitrag zum Stand der Technik begründet sein (T 612/92; wieder aufgegriffen in T 2038/19 unter Verweis auf T 435/91 (ABl. 1995, 188)). Der erforderliche Umfang der Offenbarung wird in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung des Kerns der Erfindung untersucht (T 694/92, ABl. 1997, 408). Ob die Offenbarung eines Wegs zur praktischen Ausführung der Erfindung ausreicht, um die Fachperson in die Lage zu versetzen, die Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich auszuführen, ist eine Tatfrage, die auf der Grundlage der verfügbaren Beweismittel und unter Abwägung der Wahrscheinlichkeiten im Einzelfall zu beantworten ist (T 2038/19).
In T 292/85 (ABl. 1989, 275) betraf die fragliche Erfindung ein rekombinantes Plasmid, das ein homologes Regulon, heterologe DNS und ein oder mehrere Terminationscodons zur Expression eines funktionellen heterologen Polypeptids in isolierbarer Form in Bakterien enthielt. Die Anmeldung wurde von der Prüfungsabteilung mit der Begründung zurückgewiesen, dass nicht alle Ausführungsarten, die unter die weite funktionelle Anspruchsfassung fielen, zugänglich seien. Die Kammer stellte jedoch fest, dass es unerheblich ist, ob einige Varianten verfügbar sind oder nicht, solange geeignete Varianten bekannt sind, die dieselbe Wirkung haben.
Nach der Entscheidung T 740/90, die den Beitrag von T 292/85 zusammenfasst, betraf T 292/85 eine Erfindung, bei der ein funktionell definiertes Merkmal so geartet war, dass entweder einige bestimmte Varianten nicht verfügbar waren oder bestimmte andere, nicht spezifizierte Varianten ungeeignet waren. Die Beschwerdekammer entschied, dass die Offenbarung ausreichend ist, solange der Fachperson aufgrund der Offenbarung der Erfindung oder ihres allgemeinen Fachwissens geeignete Varianten bekannt sind, die für die Erfindung dieselbe Wirkung haben. Die Kammer in T 292/85 wies jedoch darauf hin, dass die Offenbarung keine besonderen Hinweise darauf zu enthalten braucht, wie alle denkbaren Varianten der Komponenten, die unter die funktionelle Funktion fallen, zu erzielen sind. Die Erfindung in T 740/90 war nicht funktionell, sondern durch Parameter definiert. Sie war in klarer Weise definiert, und mögliche Varianten gab es nur bei den Ausgangsstoffen, die zur Herstellung der unter den Anspruch fallenden Hefen benötigt wurden. Das EPÜ verlangt nicht, dass mehrere Ausführungsformen der Erfindung beschrieben werden (R. 27 (1) e) EPÜ). Die einzige Frage, die es nach Art. 83 EPÜ zu beantworten galt, war die, ob die Beschreibung ein von der Fachperson ausführbares Verfahren zur Herstellung einer Hefe, wie sie im Anspruch definiert ist, enthält.
Im ähnlich gelagerten Fall T 386/94 (ABl. 1996, 658) enthielt die Patentschrift ein technisch ausführliches Beispiel für die Expression von Präprochymosin und seinen Reifungsformen in E. coli. Zugleich wurde die Möglichkeit angedeutet, die besagten Proteine in Mikroorganismen ganz allgemein zu exprimieren. Die Kammer hielt die Erfindung für ausreichend offenbart, da ein Weg zur Ausführung der Erfindung deutlich aufgezeigt wurde und der Stand der Technik nicht darauf hinwies, dass man Fremdgene nicht in anderen Organismen als E.coli exprimieren könnte. Die in T 292/85 (ABl. 1989, 275) dargelegten Grundsätze wurden auch in T 984/00 (wo die Erfindung auf die Nutzung der T-Region des Agrobakteriums ohne die Gene der T-Region von Ti-Plasmiden des Wild-Typs gerichtet war, um die schädlichen Wirkungen dieser Gene auf die Zielpflanze auszuschalten) und in T 309/06 angewandt (wo der Beschwerdeführer eine neue Gruppe von Enzymen (Phospholipasen A1) mit nützlichen Eigenschaften offenbart hatte und die Kammer zugelassen hatte, dass der Beschwerdeführer die Enzyme unabhängig von deren Ursprung beanspruchte).
Für den Umfang der für eine ausreichende Offenbarung erforderlichen technischen Angaben kommt es darauf an, welche Korrelation besteht zwischen der Sachlage im Einzelfall und verschiedenen allgemeinen Parametern, beispielsweise dem Gebiet der Technik, dem auf diesem Gebiet der Technik für die Ausführung einer bestimmten schriftlichen Offenbarung durchschnittlich erforderlichen Aufwand, dem Zeitpunkt der Offenbarung und dem einschlägigen allgemeinen Fachwissen oder dem Umfang der in einem Dokument offenbarten zuverlässigen technischen Einzelheiten (s. T 158/91; T 694/92, ABl. 1997, 408; T 639/95; T 36/00; T 1466/05; T 2220/14).
Wie in T 2172/15 ausgeführt, setzt eine ausreichende Offenbarung voraus, dass sie die Fachperson in die Lage versetzt, im Wesentlichen alle in den Schutzbereich der Ansprüche fallenden Ausführungsarten nachzuarbeiten. Dieser Grundsatz gilt bei allen – wie auch immer definierten – Erfindungen; es spielt also keine Rolle, ob die Erfindung durch ihre Funktion definiert wird oder nicht. In T 2172/15 machte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) im Rahmen einer anderen Argumentationslinie geltend, dass die Rechtsprechung zu allgemeinen Ansprüchen festgestellt habe, dass nicht jede von einer allgemeinen Gruppe von Verbindungen abgedeckte Ausführungsform oder Variante auf ihre Ausführbarkeit hin geprüft werden müsse. Entscheidend sei vielmehr, dass das Patent eine verallgemeinerungsfähige technische Lehre enthalte. Die Kammer stellte fest, dass Anspruch 1 nicht auf eine Reihe oder allgemeine Gruppe von Verbindungen beschränkt ist, die in einem Dunkelextensionsschritt zu verwenden sind, sondern ausdrücklich die Verwendung eines einzelnen Nucleotidmonomers mit bestimmten funktionellen Eigenschaften erwähnt, einschließlich der Fähigkeit, mit drei Nucleotidarten Paarungen einzugehen. Keines der verfügbaren Dokumente, auch nicht das Patent, offenbart jedoch ein solches Monomer oder eine Lehre für dessen Herstellung. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners (Patentinhabers) fehlt es an einer verallgemeinerungsfähigen technischen Lehre.
Siehe auch Kapitel II.C.5.4.