4. Unterbrechung des Verfahrens (Regel 142 EPÜ)
4.8. Folgen einer Unterbrechung des Verfahrens (Regel 142 (4) EPÜ)
Nach R. 142 (4) Satz 1 EPÜ (R. 90 (4) Satz 1 EPÜ 1973) beginnen die am Tag der Unterbrechung für den Anmelder oder Patentinhaber laufenden Fristen an dem Tag von Neuem zu laufen, an dem das Verfahren wiederaufgenommen wird. In R. 142 (4) EPÜ sind zwei Ausnahmen dazu enthalten, nämlich die Frist zur Stellung des Prüfungsantrags und die Frist für die Entrichtung der Jahresgebühren. R. 142 (4) EPÜ sieht jedoch keine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Unterbrechung aller Fristen vor. In diesem Absatz soll lediglich die Berechnung der Fristen bei Wiederaufnahme des Verfahrens geregelt werden (J 7/83, ABl. 1984, 211).
In T 1389/18 wies die Kammer darauf hin, dass eine Wiederaufnahme des Verfahrens lediglich ex nunc erfolgen kann (mit Verweis auf J 9/06).
In J 10/19 führte die Juristische Beschwerdekammer in ihrem Orientierungssatz aus, dass die Feststellung der Unterbrechung eines Verfahrens wegen der Insolvenz eines Patent(mit)inhabers zwar regelmäßig rückwirkend erfolgt, aber nur mit Wirkung ex nunc aufgehoben werden kann. Eine rückwirkende Aufhebung kommt auch nicht im Einzelfall unter Abwägung der betroffenen Interessen in Betracht. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Rechtsfrage, die allgemein zu beantworten ist. In ähnlicher Weise entschied sie auch in J 9/21, wo sie befand, dass eine Feststellung der Rechtsabteilung über eine Verfahrensunterbrechung nicht rückwirkend aufgehoben werden kann, auch dann nicht, wenn sie fälschlicherweise ergangen ist. In der von der Juristischen Beschwerdekammer angeführten Rechtsprechung wird dies unter anderem damit begründet, dass Fristen, die laut der Feststellung der Rechtsabteilung ausgesetzt sind, aus Sicht der Beteiligten verkürzt oder rückwirkend abgelaufen sein könnten (J 10/19) und dass Mitglieder der Öffentlichkeit darauf vertrauen dürfen, dass die im Europäischen Patentregister angegebenen Tage der Verfahrensunterbrechung und wiederaufnahme korrekt sind (J 10/19).
In J 7/83 (ABl. 1984, 211) führte die Juristische Beschwerdekammer aus, dass eine Unterbrechung des europäischen Patenterteilungsverfahrens aufgrund eines gerichtlichen Vergleichsverfahrens (R. 90 (1) b) EPÜ 1973) den Ablauf der in Art. 94 (2) EPÜ 1973 festgesetzten Frist für die Entrichtung der Prüfungsgebühr von dem gerichtlich festgesetzten Zeitpunkt der Einstellung der Zahlungen bis zu dem Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Erteilungsverfahrens (R. 90 (2) EPÜ 1973) hemme. Die Frist laufe dann für die verbliebene Zeit, mindestens jedoch für die in R. 90 (4) EPÜ 1973 vorgesehene Zeit von zwei Monaten weiter. In J 902/87 (ABl. 1988, 323) wies die Juristische Beschwerdekammer darauf hin, dass diese Auslegung nicht auf die Jahresgebühren angewandt werden könne, für die im EPÜ 1973 keine Zahlungsfrist, sondern nur der Fälligkeitszeitpunkt festgesetzt sei. Unter diesen Umständen sei die einzige Frist, die im Zusammenhang mit den Jahresgebühren gehemmt werden könne, die in Art. 86 EPÜ 1973 vorgesehene Frist von sechs Monaten für die Entrichtung der Jahresgebühr mit Zuschlagsgebühr; R. 90 (4) EPÜ 1973 sei so auszulegen, dass der Zeitpunkt der Entrichtung der Jahresgebühren, die während der Geschäftsunfähigkeit des Vertreters oder des Anmelders fällig geworden seien, auf den Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens verschoben werde.
In T 854/12 stellte die Kammer Folgendes fest: Wenn ein Unterbrechungstatbestand nach Überzeugung der Kammer vorliegt, werden nicht nur die laufenden Fristen gehemmt (R. 142 (4) EPÜ), sondern die Kammer ist auch daran gehindert, eine mündliche Verhandlung durchzuführen oder eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu erlassen.
In T 1389/18 entschied die Kammer, dass eine während der Unterbrechung stattgefundene mündliche Verhandlung und eine in der Verhandlung verkündete Entscheidung der Einspruchsabteilung rückwirkend als nicht existent betrachtet werden müssen. Folglich waren auch die Beschwerden vor der Kammer gegenstandslos, sodass das Beschwerdeverfahren ohne Entscheidung in der Sache beendet werden musste (s. auch J 10/19, Nr. 6 der Gründe). Die Kammer in T 967/18 bekräftigte erneut, dass im Falle einer Unterbrechung des Einspruchsverfahrens nach R. 142 (1) b) EPÜ, von den Beteiligten oder dem zuständigen EPA-Organ während der Unterbrechung vorgenommene Handlungen als unwirksam gelten. Außerdem ist eine Beschwerde gegen eine während der Unterbrechung ergangene Entscheidung unzulässig, denn diese betreffe keinen wirksamen, einer gerichtlichen Überprüfung unterziehbaren Gegenstand.
Mitteilungen und Entscheidungen des EPA, die in der Zeit zwischen dem Tag der Unterbrechung und dem Tag der Wiederaufnahme ergangen sind, sind gegenstandslos und sind nach Wiederaufnahme des Verfahrens erneut zuzustellen (T 54/17).
In T 956/19 betonte die Kammer, dass R. 142 (4) EPÜ nicht auf Fristen – wie die Einspruchsfrist nach Art. 99 (1) EPÜ – anwendbar ist, welche weder vom Anmelder noch vom Patentinhaber einzuhalten sind. Hierfür spricht schon der Wortlaut der R. 142 EPÜ. Da die Handlungsunfähigkeit anderer Verfahrensbeteiligter keinen Grund für eine Unterbrechung darstellt, bleiben Fristen, die diesen Verfahrensbeteiligten gegenüber laufen, bei der Anwendung von R. 142 (4) EPÜ außer Betracht.
In J 12/19 erläuterte die Juristische Beschwerdekammer, dass die Verfahren vor der Rechtsabteilung betreffend die Unterbrechung und die Wiederaufnahme des Einspruchsverfahrens vor der Einspruchsabteilung ein Zwischenstadium in Bezug auf das Einspruchsverfahren sind. Wird das Einspruchsverfahren unterbrochen und beabsichtigt die Rechtsabteilung, es wieder aufzunehmen, oder lehnt sie es ab, das Verfahren wieder aufzunehmen, so hat das Ergebnis des zwischenzeitlichen Wiederaufnahmeverfahrens unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Einsprechenden. Jede in einem solchen Verfahren getroffene Entscheidung kann die Rechtsstellung des Einsprechenden (nachteilig) beeinflussen. Vom Einsprechenden konnte nicht verlangt werden, dass er seine Rechte erst später im wieder aufgenommenen Haupt(einspruchs)verfahren verteidigt. Dies würde das Verfahren verzögern und könnte zusätzliche Kosten verursachen. Nach Auffassung der Juristischer Beschwerdekammer war der Einsprechende (Beschwerdeführer) daher Beteiligter des Wiederaufnahmeverfahrens.