4.2.2 Zeugenaussagen und schriftliche Erklärungen
In T 1191/97 konnte die Kritik des Beschwerdeführers an der Beweiswürdigung der ersten Instanz die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht ernsthaft erschüttern. Die Tatsache, dass die strittigen Vorgänge lange zurückliegen, erkläre gewisse Ungenauigkeiten in den Angaben des Zeugen. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge seine Verpflichtung, nach bester Erinnerung auszusagen, verletzt haben könnte, seien allerdings nicht ersichtlich.
In T 61/07 stellte die Kammer klar, dass die Frage des von der Beschwerdegegnerin in Zweifel gezogenen Erinnerungsvermögens (23 Jahre zurückliegender Sachverhalt) nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen, sondern die Glaubhaftigkeit seiner Aussage betreffe. Die Kammer sah allerdings keinen Anlass, an der Glaubhaftigkeit zu zweifeln. Die Tatsache allein, dass die Zeugen sich jeder für sich vor ihrer Einvernahme mit einem dritten Zeugen getroffen haben, kann nicht automatisch als eine Einflussnahme auf ihr Gedächtnisvermögen betrachtet werden. Kurz bevor eine Partei eine Vorbenutzung geltend macht, wird normalerweise im Voraus sondiert, an was sich der Zeuge tatsächlich erinnern kann. Eine solche Besprechung mit dem potenziellen Zeugen impliziert nicht automatisch, dass die entsprechende Partei bzw. einer ihrer Mitarbeiter während dieses Gesprächs Einfluss auf sein Erinnerungsvermögen ausübt.
Unter den Umständen der Sache T 918/11 befand die Kammer die Begründung der angefochtenen Entscheidung für nicht stichhaltig, die da lautete, dass "die bloße Erklärung eines Zeugen in Zusammenhang mit Tatsachen, die zwischen 1992 und 1997 stattfanden, d. h. mindestens 14 Jahre zurückliegen, nicht ausreicht, um die Einzelheiten der Vorbenutzung nachzuweisen".
In T 905/94 stellte die Kammer fest, dass die Aussage eines Zeugen nicht dadurch glaubhafter wird, dass er sie drei Jahre früher gemacht hat als andere Zeugen.
In T 1604/22 handelte es sich nach Auffassung der Kammer bei D6a und D6d um eidesstattliche Versicherungen, d. h. unter Eid getätigte Aussagen, denen ein hoher Beweiswert beizumessen ist, sofern sie nicht durch andere Beweismittel in Zweifel gezogen werden. Die Tatsache, dass die eidesstattlichen Versicherungen von jemandem anders geschrieben worden sein könnten, z. B. durch den Vertreter des Beschwerdegegners, ist der Kammer zufolge unerheblich, da die Verfasser die Erklärungen in den eidesstattlichen Versicherungen durch ihre Unterschrift bestätigten. Die Kammer war davon überzeugt, dass das Beweismittel daher ausreichend war, und hielt die vom Beschwerdeführer behaupteten Ungereimtheiten und Zweifel für nicht überzeugend. Dass die Ereignisse sich bereits vor langer Zeit zugetragen hatten, konnte einige Ungenauigkeiten in den Aussagen der Zeugen erklären, ohne jedoch ihre Glaubhaftigkeit an sich infrage zu stellen. Die Beschwerdeführer zogen die Glaubhaftigkeit der Zeugen auch nicht explizit in Zweifel.
Zur Glaubwürdigkeit von Zeugen stellte die Kammer in T 1210/05 fest, dass jemand nicht unbedingt unlauter sein muss, um die Unwahrheit zu sagen. Eine Person könne sich in ehrlicher Absicht bei der Erinnerung an ein Ereignis täuschen, vor allem wenn das Ereignis einige Zeit zurückliege.
In T 2217/19 reichte der Beschwerdeführer (Einsprechende) in Bezug auf Neuheit mit dem Dokument HE2 eine Erklärung eines Erfinders von HE1 (europäisches Patent) ein, die 25 Jahre nach dem Prioritätsdatum von HE1 abgegeben worden war. Die Kammer stimmte zu, dass die vergangene Zeit durchaus ein relevantes Kriterium für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit und Genauigkeit besagter Aussage darstellen könnte, selbst wenn Letztere nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben wurde. Die Kammer betrachtete die reine Erinnerung an die Werte (ohne schriftlichen Beweis) als nicht ausreichend für einen klaren und eindeutigen Nachweis, dass die Zusammensetzungen von HE1 und insbesondere die des Beispiels 1 durch die wie in Anspruch 1 definierten Merkmale (i) und (ii) gekennzeichnet waren. Selbst unter der Annahme, dass sich die Erinnerung auf Archivdokumente stützte, hätte dies unter Angabe, um welche Art Dokumente es sich dabei handelte, zumindest in die Erklärung aufgenommen werden müssen. Mangels Erläuterung, woher die Daten in der Erklärung stammten, sowie jeglicher stützender Beweismittel konnten die Daten nicht als ausreichend belegt betrachtet werden. Bei dieser Schlussfolgerung wurde auch die Tatsache berücksichtigt, dass sich der angegebene Wert (für den Gelgehalt) an der Obergrenze der in Anspruch 1 genannten Spanne befand. Daher hätte selbst eine leichte Ungenauigkeit in der Erinnerung dazu führen können, dass der Gelgehalt inner- oder außerhalb des beanspruchten Bereichs gelegen hätte. Der Gegenstand von Anspruch 1 war daher neu gegenüber HE1.
In T 2517/22 ließ die Einspruchsabteilung das Angebot außer Acht, den Unterzeichner der eidesstattlichen Versicherung D2a als Zeugen zu der Frage zu hören, ob D2 zum Stand der Technik gehöre. Statt das angebotene Beweismittel anzunehmen, schien die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung auf allgemeine Annahmen zum menschlichen Erinnerungsvermögen an bereits gewisse Zeit (15 Jahre) zurückliegende Ereignisse gestützt zu haben. Unter Zugrundelegung solcher Annahmen ohne Anhörung des angebotenen Zeugen habe die Einspruchsabteilung Beweismittel bewertet, ohne sie zu prüfen. So habe sie nicht von vornherein eine ausreichend genaue Erinnerung an bestimmte, 15 Jahre zurückliegende Ereignisse ausschließen dürfen. (siehe auch diese Entscheidung in Kapitel III.G.3.3.4 "Fälschliche Ablehnung des Beweisangebots").
In T 483/17 (Vorbenutzung – lückenlos) hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) angezweifelt, dass sich der Zeuge in seiner eidesstattlichen Erklärung an sämtliche Details der vor über zehn Jahren erfolgten Lieferung erinnern könne, und hatte betont, dass der Beschwerdeführer, der die Erklärung offensichtlich vorformuliert habe, über mehr Informationen und Dokumente verfügen müsse, als er in diesem Verfahren vorzulegen bereit sei. Die Kammer war jedoch auch ohne die eidesstattliche Erklärung davon überzeugt, dass die Lieferung stattgefunden hatte. Etwaige "Unstimmigkeiten" in dieser Erklärung waren somit ohne Belang.
In T 2165/18 (s. auch nachstehende Zusammenfassung unter Kapitel III.G.4.3.4 c) "Archive und Internet-Veröffentlichungen") betreffend ein im Internet veröffentlichtes, nicht datiertes Handbuch entschied die Kammer abschließend, dass die Unklarheiten rund um dessen Veröffentlichungsdatum und die Software-Version, mit der es verteilt worden war, doch zu groß waren, als dass sie allein durch die Aussagen eines Zeugen hätten ausgeräumt werden können. Sie hielt es für wenig wahrscheinlich, dass sich ein Zeuge, auch wenn er der Autor des Handbuchs war, nach neun Jahren noch an den vollständigen Wortlaut erinnert. Die Kammer wies daher inhaltlich die Argumentation des Beschwerdegegners (Einsprechenden) zurück, der unter Berufung auf T 1798/14, T 2565/11 und T 918/11 vorgebracht hatte, dass die Aussage eines einzigen Zeugen als Beweis einer Vorbenutzung ausreichen und ein Zeuge gewisse Lücken in den behaupteten Tatsachen schließen könne. S. auch unten T 939/14.