H. Auslegung des EPÜ
3. Ausführungsvorschriften
In T 39/93 (ABl. 1997, 134) stellte die Kammer fest, dass die Wirkung eines Artikels des EPÜ, dessen richtige Auslegung die Große Beschwerdekammer in einer Entscheidung festgestellt hat, nicht durch eine neu gefasste Regel der Ausführungsordnung, deren Wirkung in Widerspruch zu dieser Auslegung steht, aufgehoben werden kann. Nach Art. 164 (2) EPÜ 1973 gehen nämlich im Fall mangelnder Übereinstimmung zwischen den Vorschriften des Übereinkommens (Artikel des EPÜ) und denen der Ausführungsordnung die Vorschriften des Übereinkommens vor (s. auch T 885/93; T 83/05 date: 2007-05-22, ABl. 2007, 644; G 2/07).
In T 991/04 vom 22. November 2005 date: 2005-11-22 führte die Kammer aus, dass die Tatsache, dass durch einen Artikel des EPÜ vorgeschriebene Erfordernisse durch die Ausführungsordnung spezifiziert werden müssen, keinen Widerspruch schaffe. Sie befand, dass die Diplomatische Konferenz von München (1973) als Gesetzgeber des europäischen Patentsystems die ersten Fassungen des EPÜ 1973 und der Ausführungsordnung als rechtliche Einheit entworfen habe, die auf konsistente Weise zu betrachten sei. In dieser Hinsicht diene die Ausführungsordnung der authentischen Interpretation des EPÜ 1973. Der Kammer zufolge liege die Auslegung von Rechtsbegriffen aufgrund der rechtsprechenden Funktion der Beschwerdekammern in deren Zuständigkeit, sofern nicht die Ausführungsordnung des EPÜ eine authentische Auslegung innerhalb des vom EPÜ vorgegebenen Rahmens vorsehe. Dies ergebe sich aus der Tatsache, dass die Beschwerdekammern gemäß Art. 23 (3) EPÜ 1973 nicht nur an das EPÜ, sondern auch an die Ausführungsordnung als Teil des EPÜ gebunden seien.
Die Große Beschwerdekammer stellte in G 2/07 fest, dass die Ausführungsordnung detaillierter regeln soll, wie die Artikel des EPÜ anzuwenden sind, und nichts im Übereinkommen lässt darauf schließen, dass dies nicht genauso für die Artikel gelten sollte, in denen es um materielles Patentrecht geht. Die Grenzen der dem Verwaltungsrat mittels der Ausführungsordnung zukommenden gesetzgeberischen Befugnisse lassen sich Art. 164 (2) EPÜ entnehmen. Danach gehen bei mangelnder Übereinstimmung zwischen Vorschriften des Übereinkommens und Vorschriften der Ausführungsordnung die Vorschriften des Übereinkommens vor. Die Große Beschwerdekammer verwies auf die Entscheidung G 2/93 (ABl. 1995, 275), wonach R. 28 EPÜ 1973 sicherstellen soll, dass Art. 83 EPÜ 1973 umgesetzt werden kann, und zumindest teilweise materiellrechtlicher Natur ist. Des Weiteren zog die Große Beschwerdekammer auch in ihrer Entscheidung G 2/06 (Nrn. 12 und 13 der Gründe) die Befugnis des Verwaltungsrats nicht in Zweifel, materiellrechtliche Bestimmungen in der Ausführungsordnung festzulegen. Die Große Beschwerdekammer stellte daher in G 2/07 fest, dass der Gesetzgeber befugt ist, in der Ausführungsordnung Bestimmungen zu materiellrechtlichen Fragen zu erlassen. Jedoch muss eine Regel, die keine eigene Entstehungsgeschichte hat, so klar gefasst sein, dass der Anwender erkennt, wie der Gesetzgeber den Artikel im Lichte dieser Regel ausgelegt sehen wollte. Dies trifft auf R. 26 (5) EPÜ allerdings nicht zu. Die Regel liefert keine verwertbaren Anhaltspunkte dafür, wie der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" in Art. 53 b) EPÜ auszulegen ist, sodass dieser Begriff eigenständig ausgelegt werden muss. Dies obliegt der Großen Beschwerdekammer.
In T 1063/18 befand die Kammer, dass R. 28 (2) EPÜ, wie sie durch Beschluss des Verwaltungsrats vom 29. Juni 2017 geändert wurde, im Widerspruch zu Art. 53 b) EPÜ steht, wie er von der Großen Beschwerdekammer in den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13 ausgelegt wurde. Da nach Art. 164 (2) EPÜ die Vorschriften des Übereinkommens vorgehen, sei der Verwaltungsrat im Lichte der Art. 33 (1) b) und 35 (3) EPÜ nicht befugt, das Übereinkommen (hier: Art. 53 b) EPÜ) zu ändern, indem er die Ausführungsordnung (hier: R. 28 (2) EPÜ) ändert. Daraufhin legte der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer Rechtsfragen zur Auslegung von Art. 164 (2) EPÜ und zur Beurteilung von R. 28 (2) EPÜ im Licht besagter Vorschrift vor. Die Große Beschwerdekammer urteilte in G 3/19, dass die Einführung von R. 28 (2) EPÜ – angesichts der eindeutigen gesetzgeberischen Absicht der Vertragsstaaten, wie sie im Verwaltungsrat vertreten sind, und in Anbetracht von Art. 31 (4) Wiener Übereinkommen – eine dynamische Auslegung von Art. 53 b) EPÜ erlaube und verlange. Die Große Beschwerdekammer befand, dass die Schlussfolgerung der vorlegenden Kammer darauf zu beruhen scheine, dass die Große Beschwerdekammer in G 2/12 eine definitive Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses getroffen habe, die nur durch eine förmliche Änderung des Art. 53 b) EPÜ selbst aufgehoben werden könne. Diese Sichtweise sei jedoch laut G 3/19 zu streng, wenn man bedenke, dass Art. 53 b) EPÜ auslegungsoffen sei. Zudem sei eine später erlassene Regel, die von einer bestimmten Auslegung eines Artikels des EPÜ durch eine Beschwerdekammer abweiche, nicht für sich genommen ultra vires (s. T 315/03). Bei einer dynamischen Auslegung der Bestimmung liege letztlich kein Widerspruch zwischen R. 28 (2) EPÜ und der neuen Auslegung von Art. 53 b) EPÜ vor. Im Gegensatz zur Auffassung der Kammer in T 1063/18 sei Art. 164 (2) EPÜ daher nicht relevant. Die in G 2/12 getroffene Auslegung von Art. 53 b) EPÜ sei auch nicht in Stein gemeißelt, sondern könne sich weiterentwickeln, und die Aufnahme der R. 28 (2) EPÜ, die von der Absicht der Vertragsstaaten zeuge, könne nicht außer Acht gelassen werden.
In J 5/23 merkte die Juristische Beschwerdekammer an, dass die Ausführungsordnung zum EPÜ 1973 Bestandteil des "Textes" des Übereinkommens oder zumindest des "Zusammenhangs" seien, der gemäß Art. 31 (2) Wiener Übereinkommen berücksichtigt werden müsse. Die Große Beschwerdekammer bestätigte, dass spätere Änderungen der Ausführungsordnung bei der Auslegung eines Artikels des EPÜ berücksichtigt werden müssen (s. G 2/12, Nr. VII.4 (1) der Gründe und G 3/19, Nrn. VI.5.2, VI.5.3 und XXIV der Gründe). In G 2/12, Nr. VII.4 (1) der Gründe verwies die Große Beschwerdekammer auf die Auslegungsmittel gemäß Art. 31 (3) Wiener Übereinkommen bezüglich, unter a), jedwede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder seine Anwendung und, unter b), jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht. Die Juristische Beschwerdekammer stellte ferner fest, dass die Auslegungsmittel, die bei der Auslegung gemäß Art. 31 (3) a) und b) Wiener Übereinkommen "gemeinsam mit dem Zusammenhang" verpflichtend berücksichtigt werden müssen, dasselbe Auslegungsgewicht hätten wie der "Zusammenhang" gemäß Art. 31 (2) Wiener Übereinkommen. Unabhängig davon, ob die Ausführungsordnung zum EPÜ 2000 und alle späteren Änderungen unter Art. 31 (2) oder unter Art. 31 (3) a) und b) Wiener Übereinkommen fielen, müssten sie daher bei einer systematischen Auslegung eines Artikels des EPÜ berücksichtigt werden.