H. Auslegung des EPÜ
4. Auslegung der verschiedenen Sprachfassungen des EPÜ
Gemäß Art. 177 EPÜ sind alle drei Sprachfassungen des EPÜ gleichermaßen authentisch und bilden eine Urschrift.
In J 8/95 wurde festgestellt, dass, selbst wenn bei einer Bestimmung in einer Sprache eine Abweichung von den beiden anderen Fassungen festzustellen wäre, sich daraus – ungeachtet der aktuellen Verfahrenssprache – keine andere Rechtsfolge ableiten ließe als aus den anderen beiden Fassungen. Eine Abweichung im Wortlaut in einer Sprache wäre nur insoweit zu berücksichtigen, als sie ein Element der Auslegung bilden könnte. Jedoch war im betreffenden Fall die fragliche Bestimmung auch in der angeblich abweichenden Fassung in ihrem Zusammenhang zweifellos so zu verstehen wie die Fassungen in den anderen beiden Amtssprachen, sodass alle drei Fassungen der Bestimmung inhaltlich übereinstimmten (s. auch T 2321/08).
Die Kammer in der Sache T 1914/12 merkte an, dass Art. 114 (1) EPÜ – wenn auch nur in der englischen Fassung – "Tatsachen, Beweismittel und Argumente" ("facts, evidence and arguments") unterschied, sodass der Gesetzgeber hier drei verschiedene Kategorien sehen müsse. Geht man von Art. 114 EPÜ in der englischen Fassung aus, die den gesetzgeberischen Willen wohl am präzisesten ausdrückt, ist laut der Kammer festzuhalten, dass man Argumente von Tatsachen und Beweismitteln unterscheiden muss und dass sich das in Art. 114 (2) EPÜ verankerte Ermessen nicht auf verspätet vorgebrachte Argumente erstreckt.
In der Stellungnahme G 1/18 stellte die Große Beschwerdekammer einige Unterschiede im Wortlaut des ersten Satzes von Art. 108 EPÜ in den drei Sprachfassungen fest. Die englische Fassung beginnt mit "Notice of appeal", wohingegen die französische und deutsche Version auf "le recours" bzw. "die Beschwerde" statt auf "l‘acte de recours" bzw. "die Beschwerdeschrift" abstellen. Hieraus lässt sich keine gesetzgeberische Absicht ableiten. Die Erstfassungen des ersten Satzes von Art. 108 EPÜ 1973, nun EPÜ 2000, waren ausschließlich auf Französisch und Deutsch abgefasst worden und verwendeten die Begriffe "recours" bzw. "Beschwerde". Ungeachtet der Sprachversion besagt der erste Satz des Artikels, dass eine Beschwerde durch die Einreichung der Beschwerdeschrift innerhalb einer Frist von zwei Monaten und in Einklang mit den Bedingungen der Ausführungsordnung eingeleitet wird. Im Nachfolgenden sind „eingereichte Beschwerdeschrift" und „eingelegte Beschwerde" – ebenso wie "nicht eingereichte Beschwerdeschrift" und "nicht eingelegte Beschwerde" als synonym zu verstehen (s. Nr. IV .1 (1) der Gründe).
Die Kammer in T 844/18 erinnerte daran, dass nach Art. 33 (4) Wiener Übereinkommen bei einem Bedeutungsunterschied zwischen zwei oder mehr gleichermaßen authentischen Wortlauten diejenige Bedeutung zugrunde gelegt wird, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt. Die Kammer stellte fest, dass zur Auslegung des Begriffs "any person" in der englischen Fassung von Art. 87 (1) EPÜ der gleichlautende Rechtsbegriff in Art. 4A PVÜ ausgelegt werden musste, wobei die Auslegung in beiden Verträgen dieselbe sein musste. Dies warf bestimmte sprachliche Fragen auf, die es zu beachten galt: die authentische Fassung der PVÜ ist die französische; das EPÜ ist in deutscher, englischer und französischer Sprache abgefasst, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist.