5.3. Ablehnungsgründe nach Artikel 24 (3) EPÜ
5.3.1 Äußerung einer vorläufigen Auffassung
In T 241/98 vom 22. März 1999 date: 1999-03-22 wies die Beschwerdekammer darauf hin, dass die Meinungsbildung zu den wichtigsten Aufgaben einer Kammer zählt. Die Äußerung einer vorläufigen Auffassung ist vor diesem Hintergrund zu sehen und daher nicht als parteiisch anzusehen (s. auch T 355/13, T 2175/15 vom 23. Juni 2023 date: 2023-06-23 und Kapitel III.J.6.2.3).
In T 355/13 entschied die Kammer, dass eine vorläufige Meinung per se kein ausreichender Grund für eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit darstellt. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die Anlage zum Bescheid in allen Teilen sofort erkennbar und eindeutig als ausschließlich vorläufige, nichtbindende Meinung formuliert sei. Dies gehe nicht nur aus dem einleitenden Wortlaut, wonach "die nachfolgenden Anmerkungen keineswegs die endgültige Entscheidung der Kammer vorwegnähmen", sondern auch aus Formulierungen im gesamten Text hervor. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Anlage zum Bescheid die bezüglich der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit vorgebrachten Behauptungen im vorliegenden Fall nicht ausreichend stützte.
In T 2440/16 vom 17. Mai 2022 date: 2022-05-17 stellte die Kammer fest, dass ein Spruchkörper nicht generell verpflichtet ist, in der mündlichen Verhandlung Erklärungen oder Begründungen für die vorläufige oder für die (nach Erörterung und Beratung) abschließende Auffassung der Kammer zu geben. Das Fehlen einer solchen Begründung kann daher in der Regel keine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Das Festhalten an einer vorläufigen Ansicht nach Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung und anschließender Beratung ist ebenfalls nicht geeignet, eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Es liegt in der Natur eines jeden Verfahrens, dass der Spruchkörper nach Erörterung der Sach- und Rechtslage und anschließender Beratung eine (Zwischen-) Entscheidung treffen muss.
In T 2175/15 vom 1. April 2022 date: 2022-04-01 (Zwischenentscheidung) stellte die Kammer fest, dass auch lediglich vorläufige, unverbindliche Meinungen Gegenstand eines Ablehnungsantrags sein können (hier der Ladungsbescheid, in welchem die Kammer u. a. Zweifel an der Zulässigkeit des ersten Ablehnungsantrags äußerte). Der Ablehnungsgrund der Besorgnis der Befangenheit existiert nicht erst, wenn eine Beteiligte durch die Entscheidung der Kammer beschwert wurde (s. auch T 49/15, T 1677/11). Vorläufige Aussagen in Ladungsbescheiden, die sich auf die durch einen Fall aufgeworfenen Fragen beziehen, bieten grundsätzlich keinen Anlass für eine Ablehnung, wenn die vorläufigen Aussagen: einen Beteiligten nicht bevorzugen, etwa indem sie Hinweise geben, die nicht von Art. 114 (1) EPÜ gedeckt sind; sachlich gehalten sind, also nicht etwa abwertende Bemerkungen im Hinblick auf einen Beteiligten oder dessen Vertreter enthalten; und nicht eine Rechtsanwendung darstellen, welche so grob falsch ist, dass sie den Schluss auf Willkür zulässt. Die Ersatzkammer in T 2175/15 vom 23 Juni 2023 date: 2023-06-23 merkte aber hinsichtlich des drittgenannten Kriteriums (grob falsche und damit willkürliche Rechtsanwendung) an, dass letztlich immer die konkreten Umstände des Einzelfalls entscheidend sein müssen und stets festzustellen ist, ob eine solche willkürliche Rechtsanwendung die berechtigte Befürchtung zulässt, dass sie Ausdruck gerade von Voreingenommenheit gegenüber einem Beteiligten ist. Eine grob falsche Rechtsanwendung könne auch auf andere Gründe als auf Voreingenommenheit gegenüber einem Beteiligten zurückzuführen sein, etwa die schlichte Überzeugung der Kammer von der Richtigkeit der tatsächlich grob falschen Rechtsansicht. So sei es auch denkbar, dass sich solche grob falschen Rechtsansichten im selben Verfahren bei beiden Beteiligten auswirken. In einer solchen Konstellation scheine ein Schluss auf die Voreingenommenheit der Kammer gegenüber einem Beteiligten schwierig.
Die Objektivität des vorläufigen Bescheids wurde darüber hinaus in R 2/12 vom 26. September 2012 date: 2012-09-26 geprüft und bestätigt. Hier befand die Kammer, dass "der Bescheid selbst keinerlei plakativen Behauptungen enthält oder derart unverblümt, extrem oder einseitig formuliert ist, dass er die Fähigkeit des betroffenen Mitglieds, den anhängigen Antrag ergebnisoffen und unvoreingenommen zu bearbeiten, infrage stellt."
Siehe auch dieses Kapitel III.J.6.2.3.