4.5.2 Überprüfung von Ermessensentscheidungen durch die Kammern
Das durch Art. 114 EPÜ eingeräumte Ermessen impliziert notwendigerweise, dass das erstinstanzliche Organ des EPA bei der Ermessensausübung einen gewissen Freiraum hat. Eine Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat. (T 640/91, ABl. 1994, 918; G 7/93, ABl. 1994, 775; s. auch Kapitel V.A.3.4.). Dieser Grundsatz gilt auch im Zusammenhang mit Entscheidungen der Einspruchsabteilung zur Zulassung (T 1209/05, T 1652/08, T 1852/11, T 2513/11) bzw. Nichtzulassung (T 1485/08, T 1652/08, T 1253/09, T 1568/12, T 1883/12, T 1271/13, T 1690/15, T 1711/16) von verspätetem Vorbringen. Es ist nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte (T 75/11, T 2685/19, T 1522/21; s. allerdings die Sache T 544/12, in der die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung nicht ausreichend begründet hat). Insbesondere sollte die Kammer nicht in eine solche Ermessensentscheidung eingreifen, nur weil sie selbst unter den gleichen Umständen anders entschieden hätte (T 960/15).
Dieses Ermessen muss pflichtgemäß nach Anhörung der Beteiligten – auf Antrag auch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung – ausgeübt werden (T 281/00).
In T 435/20 befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung nach falschen Kriterien entschieden und die Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit und der Gleichbehandlung der Beteiligten missachtet hatte. So kann erstens nach Auffassung der Kammer die bloße Tatsache, dass die vorläufige Einschätzung der Einspruchsabteilung zugunsten eines Beteiligten ausfiel, für sich genommen nicht die Nichtzulassung weiterer Unterlagen dieses Beteiligten, die innerhalb der von der Einspruchsabteilung gesetzten Frist für die Einreichung von Schriftsätzen nach R. 116 (1) EPÜ eingereicht wurden, rechtfertigen. Zweitens gelten, wie die Kammer betonte, vom zugelassenen Vertreter eines Beteiligten vorgetragene Argumente nicht als Beweismittel im Sinne des Art. 117 (1) EPÜ und können folglich ein unterschiedliches Gewicht haben, je nachdem, ob sie durch weitere Beweismittel untermauert werden. Die Einspruchsabteilung irrte daher, als sie die zusammen mit stützenden Dokumenten eingereichte Erklärung D81 und die Argumentation des Vertreters für äquivalent erachtete und diese Tatsache als Rechtfertigung dafür ansah, die Dokumente D81 bis D90 nicht zuzulassen. Darüber hinaus wurden die Dokumente D81 bis D90 als direkte und unmittelbare Antwort auf neue Beweismittel eingereicht, die der Beschwerdeführer am letzten Tag der Einreichungsfrist nach R. 116 EPÜ vorgelegt hatte. Mit der Zulassung dieser spät eingereichten Beweismittel zum Verfahren einerseits und der Nichtzulassung der von den Beschwerdegegnern in unmittelbarer Reaktion eingereichten Schriftsätze D81 bis D90 andererseits habe die Einspruchsabteilung die Grundsätze der Verfahrensfairness und der Gleichbehandlung der Beteiligten missachtet.
In T 879/21 war die Kammer der Ansicht, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen, die verspätet eingereichten Unterlagen nicht zuzulassen, nach fehlerhaften Kriterien ausgeübt hatte. Die Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung, D15 bis D17 seien nicht prima facie relevant, weil die Behauptung, dass die beanspruchten Verbundstoffe und Schaumstoffe nicht herstellbar seien, und die Einwände mangelnder Offenbarung, Neuheit und erfinderischer Tätigkeit "bereits in der Einspruchsschrift vorgebracht wurden", war nicht vertretbar. Mit dieser Begründung hatte die Einspruchsabteilung die Prima-facie-Relevanz dieser Dokumente de facto nicht geprüft. Nach Auffassung der Kammer würde ein Beteiligter bei Anwendung dieses Ansatzes das Recht verlieren, dass neue Beweismittel berücksichtigt werden, die einen in der Einspruchsschrift vorgebrachten Angriff stützen, ungeachtet ihrer Prima-facie-Relevanz für den Ausgang des Verfahrens.
Siehe insbesondere auch Kapitel V.A.3.4.1 "Grundsätze zur Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen".