6. Rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren
6.2. Aufforderung zur Stellungnahme gemäß Artikel 101 (1) EPÜ
Artikel 101 (1) EPÜ (Art. 101 (2) EPÜ 1973) verstärkt den in Art. 113 EPÜ festgelegten Grundsatz des rechtlichen Gehörs, indem die Einspruchsabteilung bei der Prüfung des Einspruchs die Beteiligten "so oft wie erforderlich" auffordert, innerhalb einer von ihr zu bestimmenden Frist eine Stellungnahme zu ihren Bescheiden oder zu den Schriftsätzen anderer Beteiligter einzureichen. Die an den Patentinhaber ergehenden Bescheide sind – soweit erforderlich – zu begründen; dabei sollen alle Gründe zusammengefasst werden, die der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen (R. 81 (3) EPÜ; R. 58 (3) EPÜ 1973).
Artikel 101 (1) EPÜ fordert nicht grundsätzlich, in allen Fällen die der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehenden Gründe in einem Bescheid mitzuteilen, sondern nur in den Fällen, in denen dies "erforderlich" ist. Ein derartiges "Erfordernis" kann sich nur im Hinblick auf eine weitere Sachaufklärung oder aufgrund der Vorschrift des Art. 113 (1) EPÜ ergeben. Die Einspruchsabteilung muss also nur dann einen Bescheid erlassen, wenn sie dies für erforderlich hält, um beispielsweise neue, noch nicht vorgebrachte sachliche oder rechtliche Gründe aufzugreifen oder etwa bestehende Unklarheiten aufzuzeigen. Zu der vorstehenden grundsätzlichen Überlegung trägt die R. 81 (3) EPÜ, welche lediglich Anweisungen bezüglich des Inhalts der ggf. zu erlassenden Bescheide gibt, nichts bei. Die Vorschriften des Art. 101 (1) EPÜ und der R. 81 (3) EPÜ können daher nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass eine Einspruchsabteilung vor der Beschlussfassung in jedem Fall mindestens einen Bescheid erlässt, es sei denn, eine solche Notwendigkeit ergibt sich aufgrund von Art. 113 (1) EPÜ (vgl. T 275/89, ABl. 1992, 126; T 538/89, T 682/89, T 532/91 und T 2120/18).
Das Fehlen mindestens eines Bescheids nach Art. 101 (1) EPÜ allein könne als solches nicht dazu dienen, eine behauptete Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 113 EPÜ (unverändert) zu substantiieren (T 774/97, T 781/08, T 802/12). So sieht die Rechtsprechung (vgl. T 165/93) auf der Grundlage von Art. 113 (1) EPÜ keine Notwendigkeit für die Einspruchsabteilung, ihre Meinung vor dem Widerruf des Patents in einem Bescheid darzulegen oder beim Patentinhaber nochmals nachzufragen, ob er an einem beschränkten Patent Interesse habe, soweit dieser trotz Unterrichtung über zusätzliche Einwände des Einsprechenden nicht reagiert, sondern seinen einzigen Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents mit den geänderten Ansprüchen beibehält. Ebenso wenig sei es nach Art. 113 (1) EPÜ erforderlich, einem Beteiligten wiederholt Gelegenheit zu geben, sich zum Vorbringen eines EPA-Organs zu äußern, wenn die entscheidenden Einwände gegen die streitige Verfahrenshandlung bestehen bleiben (vgl. T 161/82, ABl. 1984, 551; T 621/91).
In T 295/87 (ABl. 1990, 470) wurde ausgeführt, dass der Patentinhaber gemäß Art. 101 (2) und R. 57 (1) EPÜ 1973 (Art. 101 (1) und R. 79 (1) EPÜ) im Einspruchsverfahren berechtigt ist, zur Einspruchsschrift Stellung zu nehmen. Danach sind Stellungnahmen der Beteiligten nur insoweit zulässig, als sie von der Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer in Ausübung ihres Ermessens für notwendig und sachdienlich im Sinne des Art. 101 (2) und der R. 57 (3) EPÜ 1973 (Art. 101 (1) und R. 79 (3) EPÜ) erachtet werden. Nachdem die Einspruchsabteilung die Stellungnahme des Patentinhabers (und etwaige Änderungen) den übrigen Beteiligten mitgeteilt hat, fordert sie diese nur noch zur Stellungnahme auf, sofern sie dies "für sachdienlich erachtet". Es ist im Interesse einer reibungslosen und effizienten Abwicklung des Einspruchsverfahrens sicherlich äußerst wünschenswert und damit im Interesse der Öffentlichkeit, dass sich Stellungnahmen der Beteiligten auf das erforderliche und sachdienliche Maß beschränken. Dies wiederum setzt eine geeignete Kontrolle durch die Einspruchsabteilung voraus, um festzustellen, ob die Stellungnahmen der Beteiligten und auch die zu ihrer Stützung eingereichten Unterlagen zulässig sind. Inwieweit weitere Stellungnahmen der Beteiligten notwendig und sachdienlich sind, hängt natürlich von zahlreichen Faktoren, unter anderem vom Schwierigkeitsgrad der zu entscheidenden Fragen, ab und kann nur nach der Sachlage im Einzelfall entschieden werden.
In T 2120/18 hatte die Einspruchsabteilung in Ausübung ihrer Ermessens den Antrag des Patentinhabers auf Verlängerung der Frist zur Einreichung einer Stellungnahme zurückgewiesen. Die Kammer befand, dass ein möglicher Fehler bei der Ausübung des Ermessens, die Frist nicht zu verlängern, (lediglich) zur Folge hätte, dass verspätetes Vorbringen des Patentinhabers nicht unberücksichtigt bleiben könnte. Da sich der Patentinhaber im Einspruchsverfahren nicht äußerte, hatte das mögliche Fehlen einer schlüssigen Begründung der Einspruchsabteilung jedoch keine Auswirkungen. Die Kammer stellte fest, dass die Zurückweisung durch die Einspruchsabteilung des Antrags auf Verlängerung der in ihrer Mitteilung nach R. 79 (1) EPÜ gesetzten Frist das Einspruchsverfahren nicht beendet hatte. Da die Nichteinhaltung der Viermonatsfrist keine unmittelbare Rechtsfolge zum Nachteil des Patentinhabers nach sich zog und die Einspruchsabteilung erst elf Monate nach der Zurückweisung des Verlängerungsantrags über den Einspruch entschied, hatte der Inhaber noch weit über die Frist hinaus Gelegenheit, auf den Einspruch zu reagieren. Die Zurückweisung des Verlängerungsantrags durch die Einspruchsabteilung verletzte also nicht das rechtliche Gehör des Patentinhabers. Der Patentinhaber hätte damit rechnen müssen, dass die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung nach Ablauf der in der Mitteilung nach R. 79 (1) EPÜ angegebenen Viermonatsfrist erlassen würde (siehe Richtlinien E‑VII, 1.6 – Stand November 2016; nunmehr in EPÜ Richtlinien E‑VIII, 1.6 – Stand April 2025).
Zu Fällen, in denen eine Mitteilung für erforderlich erachtet wurde, s. dieses Kapitel IV.C.6.5. (T 293/88, T 120/96 und T 1056/98).