4.2.3 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten – Artikel 13 (1) und (2) VOBK
(i) Neue Verteidigung vs. weitere Ausführung bereits vorliegender Argumente
In T 1108/16 argumentierte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) gegen den in der Beschwerdebegründung erhobenen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erst nach Erhalt der Mitteilung gemäß Art. 15 (1) VOBK, indem er erläuterte, warum eine Zusammenschau der betreffenden Druckschriften nicht in naheliegender Weise zur Merkmalskombination des Patentanspruches 1 des Hauptantrages führen könne. Hinsichtlich der Zulässigkeit dieses späten Vorbringens machte er geltend, dass es als eine selbstverständliche Weiterentwicklung von Argumenten aus der Beschwerde-erwiderung anzusehen sei, die bereits eine detaillierte Analyse des Inhalts der betreffenden Schriften enthalten habe. Daraus sei die grundsätzliche Inkompatibilität der Lehren dieser Schriften direkt zu entnehmen gewesen. Die Kammer hingegen betonte, dass insbesondere im kontradiktorischen Einspruchsbeschwerdeverfahren die Kammer grundsätzlich an das jeweilige Beteiligtenvorbringen als Grundlage für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage gebunden ist. Laut der Kammer ist – und kann – es daher nicht ihre Aufgabe sein, Argumente, die ein Beteiligter zur Verteidigung des erteilten Patents nicht formuliert hat, von Amts wegen aus dem Vorbringen selbst zu konstruieren und damit ins Verfahren einzuführen. Im vorliegenden Fall wurde das neue Vorbringen daher als Änderung angesehen.
(ii) Behauptungen mit neuen Tatsachenelementen
In T 2803/18 entschied die Kammer gemäß Art. 13 (2) VOBK, die Behauptung des Beschwerdegegners (Patentinhabers) über ein unterscheidendes Merkmal nicht zu berücksichtigen. Der Einwand, dass das Merkmal in D2 nicht offenbart sei, führte ein neues Tatsachenelement in das Verfahren ein und stellte daher eine Änderung des Beschwerdevorbringens des Beschwerdegegners dar. Siehe auch T 791/17.
In T 121/20 berief sich der Beschwerdegegner (Patentinhaber) erstmalig im Beschwerdeverfahren auf eine andere Auslegung eines bestimmten Begriffs in den Ansprüchen, um den Einwand zu entkräften, Anspruch 1 des Hauptantrags umfasse eine ursprünglich nicht offenbarte Ausführungsform. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass dieses neue Argument zwar im Rahmen desselben Einwands und derselben Merkmale vorgebracht worden war, jedoch auf eine neue Auslegung des Anspruchs hinauslief, die sich auf neue Tatsachen (andere Absätze in der Beschreibung) stützte und somit das Vorbringen des Beschwerdegegners änderte.
In T 203/20 war der Hilfsantrag 9 mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden, allerdings machte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) erst in der mündlichen Verhandlung geltend, dass dem beanspruchten Gegenstand die vom Patent beanspruchte Priorität zukomme. Die Kammer war der Ansicht, dass dieses Vorbringen sowohl neue Tatsachenbehauptungen als auch neue rechtliche Argumente enthielt und eine Änderung des Vorbringens des Patentinhabers darstellte.
In T 19/20 wurde eine neue Verteidigungslinie gegen einen Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebracht. Während der Beschwerdegegner (Patentinhaber) zuvor argumentiert hatte, dass es sich bei dem gestrichenen Teil um ein hinzugefügtes, nicht offenbartes Merkmal ohne technische Bedeutung handele, machte er in der mündlichen Verhandlung geltend, dass die Streichung eines Merkmals den Umfang des Anspruchs 1 nicht ändere, da dieser angesichts der Beschreibung implizit durch dieses Merkmal begrenzt sei. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass diese neue Verteidigungslinie neue rechtliche und technische Fragen aufwarf und somit eine Änderung des rechtlichen und faktischen Rahmens der Beschwerde darstellte.
Mit der Frage, ob eine neue Verteidigung eine neue Tatsachenbehauptung enthielt und somit eine Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten darstellte, befasste sich z. B. auch T 1303/18 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.2.3 p).
(iii) Neue experimentelle Daten
In T 2271/17 argumentierte der Beschwerdegegner (Patentinhaber), dass die verspätet eingereichten Versuchsdaten voll und ganz mit seinem im schriftlichen Beschwerdeverfahren bereits dargelegten Standpunkt zur erfinderischen Tätigkeit übereinstimmten und daher keine Änderung seines Vorbringens darstellten. Die Kammer stellte jedoch klar, dass der Beschwerdegegner mit dem Argument, die Versuchsdaten belegten eine spezifische Wirkung, darauf hinwies, dass die Daten für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe relevant waren. Folglich konnte die Einreichung der Versuchsdaten nur als eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegners verstanden werden.
(iv) Verspätete Substantiierung einer Verteidigung
In T 2752/19 vertrat die Kammer die Auffassung, dass das neue Vorbringen des Beschwerdeführers (Anmelders) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer über eine bloße Verfeinerung der in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Argumente hinausging. In seinem anfänglichen Vorbringen hatte der Beschwerdeführer ohne weitere Substantiierung argumentiert, dass D2 die kombinierten Merkmale des Anspruchs 1 des einzigen Antrags weder offenbart noch nahegelegt habe. Die neue Argumentation stellte somit eine Änderung des Beschwerdevorbringens des Beschwerdeführers dar.