4.2.3 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten – Artikel 13 (1) und (2) VOBK
(i) Erfordernis, neue Tatsachen rechtzeitig vorzutragen
In T 482/18 widersprach die Kammer der in T 1914/12 vertretenen der Auffassung, wonach die sich aus den im Verfahren befindlichen Patentdokumenten ergebenden Tatsachen (hier: Offenbarung des Begriffs "stabförmig" in der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht und Klarheit dieses Begriffs) ohne ausdrückliche Geltendmachung Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind. Eine derartige Auffassung widerspreche der Natur eines gerichtlichen Verfahrens, wie des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor den Beschwerdekammern des EPA, das auf Sachvortrag, also auf der Geltendmachung von Tatsachen, beruht. Zum Verständnis der Kammer des Begriffs "Argument", siehe Kapitel V.A.4.2.3 p). Siehe auch T 250/19 (wenngleich sich diese Entscheidung im Rahmen von Art. 12 (4) VOBK 2007 mit dieser Frage befasst).
Die Ansicht der Kammer in T 482/18 wurde von der Juristischen Beschwerdekammer in J 14/19 geteilt. Sie hob hervor, dass auf Grundlage von Art. 114 (2) EPÜ verspätetes Vorbringen, das ein Tatsachenelement enthält, unberücksichtigt bleiben könne. Nach ihrer Ansicht bedeutete der bloße Umstand, dass ein Beteiligter bereits ein bestimmtes Dokument in das Beschwerdeverfahren eingeführt hat, nicht, dass dessen gesamter Inhalt Teil seines Beschwerdevorbringens ist. Beruft er sich in seinem weiteren Vorbringen auf andere als die bisher herangezogenen Textstellen, kann dies eine Änderung des Beschwerdevorbringens bewirken. Die Kammer führte dazu weiter aus, sowohl eine neue Kombination von Tatsachenelementen als auch eine neue Kombination von Tatsachen- und Rechtselementen stelle grundsätzlich eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar. Von einer Änderung des Beschwerdevorbringens abzugrenzen sei die bloße Verfeinerung einer bereits bestehenden Argumentationslinie (wie in T 247/20; siehe die Zusammenfassung dieser Entscheidung in Kapitel V.A.4.2.3 l); zum Verständnis der Juristischen Beschwerdekammer des Begriffs "Argumente" im Sinne des Art. 12 (2) VOBK , siehe auch Kapitel V.A.4.2.3 p). Bestätigt z. B. in T 1161/20 (neue Tatsachenbehauptungen zur Frage, welche Teile von D15 die Anspruchsmerkmale offenbaren).
(ii) Neuer Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit
In T 1042/18 schloss sich die Kammer der Auffassung in J 14/19 an, wonach sowohl eine neue Kombination von Tatsachenelementen (z. B. die Wahl einer anderen Entgegenhaltung oder einer anderen Textstelle einer Entgegenhaltung als Ausgangspunkt für einen Einwand) als auch eine neue Kombination von Tatsachen- und Rechtselementen (z.B. die Bezugnahme auf ein Dokument oder eine Textstelle in einem anderen rechtlichen Zusammenhang) eine Änderung des Beschwerdevorbringens darstellt. Daher stellt, so die Kammer, ein in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer erstmals vorgetragener Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit ausgehend von einer Entgegenhaltung, die zuvor lediglich Gegenstand eines Neuheitseinwandes war, regelmäßig eine Änderung des Beschwerdevorbringens gemäß Art. 13 (2) VOBK dar. Siehe auch T 1851/21.
In T 2866/18 erklärte die Kammer, dass die Frage, ob sich neu erhobene Einwände gegen die erfinderische Tätigkeit in demselben "faktischen und rechtlichen Rahmen" bewegten wie frühere Neuheitseinwände, für die Bestimmung dessen, was eine Änderung des Beschwerdevorbringens darstellt, nicht entscheidend ist (siehe T 2360/17).
Weitere Entscheidungen in denen neue Einwände nach Art. 56 EPÜ auf der Grundlage von bereits im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen als Änderung des Beschwerdevorbringens angesehen wurden, sind T 2796/17 und T 557/21.
(iii) Neue Kombination von Dokumenten
In T 187/18 befand die Kammer, dass eine neue Kombination von Dokumenten (die schon im Rahmen des Angriffs des Beschwerdeführers auf die erfinderische Tätigkeit, aber in anderen Kombinationen angeführt worden waren) keine bloße Präzisierung einer zuvor geltend gemachten Argumentationslinie war, sondern eine Änderung des Vorbringens des Beteiligten.
(iv) Neuer Einwand der unzulässigen Erweiterung
In T 1707/16 erhob der Beschwerdeführer (Einsprechende) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erstmals im Einspruchs- bzw. Beschwerdeverfahren den Einwand, dass das strittige Merkmal in Anspruch 1 des Hauptantrags in Figur 9 nicht offenbart sei, während er zuvor argumentiert hatte, dass Anspruch 1 eine Zwischenverallgemeinerung enthalte, da das strittige Merkmal untrennbar mit den übrigen Merkmalen der Ausführungsform von Figur 9 verknüpft sei. Die Kammer war jedoch der Ansicht, dass die Frage, ob Figur 9 das betreffende Merkmal eindeutig offenbart oder nicht, den Rahmen der Diskussion in Bezug auf Art. 123 (2) EPÜ vollständig ändere und deshalb als Änderung des Vorbringens des Beteiligten anzusehen sei.