4.3.4 Ermessen nach Artikel 12 (4) VOBK
Gemäß der nicht erschöpfenden Liste von Kriterien in Art. 12 (4) Satz 5 VOBKberücksichtigt die Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens insbesondere die Komplexität der Änderung, ihre Eignung zur Behandlung der Fragestellungen, die zur angefochtenen Entscheidung führten, und das Gebot der Verfahrensökonomie.
Als weiteres Kriterium haben die Kammern herangezogen, ob das Beschwerdevorbringen früher hätte vorgetragen werden sollen oder ob es – im Gegenteil – bei frühestmöglicher Gelegenheit eingereicht worden ist, d. h. ob es als gerechtfertigte Reaktion auf späte Entwicklungen im Verfahren angesehen werden kann, die zu der angefochtenen Entscheidung geführt haben. Siehe z. B. T 121/20, T 864/20, T 3240/19 und T 3248/19, die sich in diesen Zusammenhang teilweise auf Art. 12 (6) VOBK berufen, sowie T 73/20, in der außerdem auf Art. 12 (4) Satz 3 VOBK verwiesen wird, nach dem der Beteiligte unter anderem zu begründen hat, warum die Änderung im Beschwerdeverfahren erfolgt.
Zu den weiteren Gesichtspunkten, die von den Kammern bei ihrer Ermessensausübung berücksichtigt wurden, gehört die Frage, ob das Vorbringen der Beteiligten dem vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, Rechnung trägt (s. z. B. T 1963/20) sowie – wenn auch nicht mit gleichem Gewicht wie die in Art. 12 (4) VOBK aufgeführten Kriterien – ob es sachgerecht erscheint, dass die Behandlung einer Entgegenhaltung in etwaige spätere Nichtigkeitsverfahren verschoben würde (T 1657/20).
Auch wenn die in diesem Abschnitt zusammengefassten Entscheidungen unter einem der genannten Kriterien aufgeführt sind, ist die Beurteilung der Kammern doch häufig auf eine Gesamtschau mehrerer Gesichtspunkte gestützt. Siehe z. B. T 3240/19, T 3248/19, T 121/20, T 868/20, T 869/20, T 1516/20, T 1617/20, T 1821/20.
Ob der Ausschluss von Vorbringen, das Teil des Beschwerdeverfahrens gemäß Art. 12 (2) VOBK ist, im Ermessen der Kammer liegt, ist umstritten. In zahlreichen Entscheidungen haben die Kammern die Auffassung vertreten, dass es keine Rechtsgrundlage für den Ausschluss von Vorbringen (wie etwa Dokumenten des Stands der Techik), das von der Einspruchsabteilung zum Verfahren zugelassen worden ist, aus dem Beschwerdeverfahren gibt (s. z. B. T 617/16, T 2337/16, T 449/21). In anderen Entscheidungen wurde die Überprüfbarkeit solcher Ermessensentscheidungen durch die Kammern bejaht, wenngleich nur in begrenztem Umfang (s. z. B. T 2055/20 mit Verweis auf RBK, 10. Aufl. 2022, V.A.3.4.1 b), und auf G 7/93, ABl. 1994, 775).