4.3.6 Im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Vorbringen – fehlerhafte Ermessensausübung – Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK
Art. 12 (6) Satz 1 VOBK sieht zwei Kriterien vor, die die Zulassung eines Antrags rechtfertigen können: eine ermessensfehlerhafte Entscheidung oder Umstände der Beschwerdesache (T 726/20). Siehe auch T 1017/20. In den nachfolgend zusammengefassten Fällen prüften die Kammern im Anschluss an die Feststellung, dass die Nichtzulassung durch die Einspruchsabteilung nicht ermessensfehlerhaft war, ob eine Zulassung durch die Umstände der Beschwerdesache gerechtfertigt war.
In T 1017/20 war erörtert worden, ob ein früherer Hauptantrag den Erfordernissen des Art. 100 b) EPÜ genügte, was von der Einspruchsabteilung verneint worden war, woraufhin ein geänderter Hauptantrag eingereicht worden war. Die Kammer entschied, dass in dieser besonderen Situation die Prima-facie-Erfüllung der Kriterien des Art. 100 b) EPÜ durch den Hauptantrag im Beschwerdeverfahren Teil der Umstände der Beschwerdesache war, die bei der Anwendung des Art. 12 (6) VOBK zu berücksichtigen sind. Da der Hauptantrag jedoch prima facie nicht die in der mündlichen Verhandlung erörterten Fragen löste, ließ die Kammer diesen nicht zu.
In T 1589/21 reichte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) als Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Kammer Anträge, die im Einspruchsverfahren nicht zugelassen worden waren, erneut ein. Er argumentierte, dass seine Situation sich geändert habe, weil die Beschwerdekammer die Frage der Erweiterung des Gegenstands anders beurteile als die Einspruchsabteilung. Die Kammer fand dieses Argument nicht überzeugend, hatte sie in ihrer vorläufigen Einschätzung doch lediglich dem Beschwerdegegner in dieser Frage zugestimmt. Dieser hatte die Erweiterung des Gegenstands bereits in seiner Einspruchsbegründung beanstandet, und später erneut in seiner Beschwerdeerwiderung.
In T 500/20 erkannte die Kammer keinen offenkundigen Fehler der Einspruchsabteilung in ihrer Ermessensausübung bezüglich der Zulassung von E18, das im Beschwerdeverfahren erneut eingereicht wurde. Die Kammer merkte außerdem an, dass der vorliegende Gegenstand, d. h. die fraglichen Ansprüche, unverändert war, und kam in ihrer vorläufigen Einschätzung zu dem Schluss, dass offensichtlich keine neuen Umstände vorlagen, die die Zulassung des fraglichen neuen Dokuments in diesem Stadium rechtfertigen könnten. Da diese Schlussfolgerung nicht angefochten wurde, wurde E18 nicht zum Beschwerdeverfahren zugelassen.
In T 1556/20 stellte die Kammer fest, dass sie keinen Fehler in der Ermessensausübung der Einspruchsabteilung bei der Nichtzulassung verspätet eingereichter Anträge erkennen konnte, und erklärte sodann, dass die Umstände der Beschwerdesache keine anderen als die im Verfahren vor der Einspruchsabteilung waren, da die strittigen Fragen nach wie vor dieselben waren. Die Kammer entschied daher, die betreffenden Anträge nach Art. 12 (6) VOBK nicht zum Verfahren zuzulassen.
In der Sache T 290/20 hatte der Einsprechende das Dokument D6 nach dem von der Einspruchsabteilung gemäß R. 116 EPÜ festgesetzten Zeitpunkt und weniger als vier Wochen vor der mündlichen Verhandlung eingereicht, und zwar nach eigener Aussage als Reaktion auf die verspätete Einreichung des (einen einzigen unabhängigen Verfahrensanspruch umfassenden) Hilfsantrags 4 durch den Patentinhaber. Die Einspruchsabteilung hatte D6 nicht zugelassen, weil es ihrer Auffassung nach früher hätte vorgelegt werden können und nicht relevanter war als andere bereits im Verfahren befindliche Dokumente. Die Beschwerdekammer dagegen ließ D6 zum Verfahren zu. Die Einreichung des Hilfsantrags 4 kurz vor der mündlichen Einspruchsverhandlung und die vom Patentinhaber vorgebrachten Argumente zur Stützung des erfinderischen Charakters von Anspruch 1 dieses Antrags stellten eine Änderung des Verlaufs des Einspruchsverfahrens dar, die die Einreichung eines neuen Dokuments durch den Einsprechenden als Reaktion darauf rechtfertigte.