4.3.7 Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen wäre oder dort nicht mehr aufrechterhalten wurde – Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK
(i) In Reaktion auf in einem frühen Verfahrensstadium eingereichte Anträge des Patentinhabers
Die Kammern haben wiederholt entschieden, dass ein neuer Einwand gegen Ansprüche wie erteilt oder gegen mit der Erwiderung auf die Einspruchsschrift eingereichte Ansprüche bereits im Einspruchsverfahren vorzubringen gewesen wäre. Die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung vorher erhobene andere Einwände des Einsprechenden zurückwies, wurde nicht als überraschende Verfahrensentwicklung angesehen, die ein Vorbringen erst in der Beschwerde rechtfertigen könnte (s. z. B. T 2917/19, T 523/20).
In T 2917/19 berief sich der Beschwerdeführer auf die Dokumente D6 bis D11 (mit der Beschwerdebegründung vorgelegte Patente und Patentanmeldungen) als Nachweis für das allgemeine Fachwissen sowie als Sekundärdokumente für einen Angriff auf die erfinderische Tätigkeit. Die Kammer erklärte, dass Patente und Patentanmeldungen in der Regel keine Ermittlung des allgemeinen Fachwissens erlauben. Insofern diese Dokumente als Sekundärdokumente (D6 bis D10) angezogen wurden, würden sie nach Auffassung der Kammer einen neuen Sachverhalt eröffnen. Die betroffenen Ansprüche seien jedoch die des erteilten Patents. Die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung den erfinderischen Charakter anerkannt hatte, kann nicht als überraschende Verfahrensentwicklung angesehen werden und eröffnet nicht die Möglichkeit zur Erwiderung durch Einreichung neuer Dokumente. Das Dokument D11 (ein das allgemeine Fachwissen widerspiegelndes Handbuch) dagegen wurde von der Kammer berücksichtigt. Es ähnelte dem bereits im Verfahren befindlichen Dokument D2, war aber aktueller und ergänzte daher den Inhalt von D2.
In T 186/20 wurden die Druckschriften E18 und E19 zur Stützung der Argumentation des Beschwerdeführers (Einsprechenden) betreffend die erfinderische Tätigkeit von Merkmalen eingereicht, die bereits im erteilten Anspruch 1 vorhanden waren, sodass nach Ansicht der Kammer keine Umstände ersichtlich waren, die die Einreichung der Druckschriften E18 und E19 erst mit der Beschwerdebegründung rechtfertigen würden.
Für weitere Beispiele siehe T 557/21 (Einwand gegen den erteilten Anspruch 1, Zulassung nicht durch die Umstände gerechtfertigt), T 3280/19 (neue Einwände gegen den Hauptantrag, der dem Patent in der erteilten Fassung entsprach, die zudem nicht prima facie neuheitsschädlich waren), T 186/21 (neue Einwände der Gegenstandserweiterung, die auf eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung und Mehrfachauswahl abstellten).
(ii) In Reaktion auf bis zum letztmöglichen Zeitpunkt nach R. 116 EPÜ eingereichte Anträge des Patentinhabers
Ob vom Einsprechenden erwartet werden konnte, auf bis zum letztmöglichen Zeitpunkt nach R. 116 EPÜ eingereichte Anträge des Patentinhabers noch im Einspruchsverfahren zu reagieren, wurde von den Kammern (teilweise aufgrund der jeweiligen Umstände des Einzelfalls) unterschiedlich entschieden.
In T 1520/20 hatte die Kammer über die Zulässigkeit eines erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Angriffs auf die erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 zu entscheiden. Hinsichtlich der Frage, ob dieser Angriff bereits früher hätten eingereicht werden können, wies die Kammer darauf hin, dass der mit der Beschwerdebegründung eingereichte Hilfsantrag 4 identisch mit dem in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrag 1 war und dieser wiederum den Gegenstand eines vormaligen Hilfsantrags umfasste, der zum gemäß R. 116 EPÜ bestimmten letztmöglichen Zeitpunkt (zwei Monate vor dem Verhandlungstermin) eingereicht worden war. Der Einsprechende habe daher mehrere Wochen Zeit gehabt, diesbezügliche Angriffe vorzubereiten.
In T 351/20 hingegen wurden zwei Druckschriften zugelassen, die mit der Beschwerdebegründung zur Stützung von Argumentationslinien eingereicht worden waren, die bereits Gegenstand des Einspruchsverfahrens waren und sich auf ein Merkmal bezogen, das zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingeführt worden war. Ähnlich entschied auch die Kammer in T 1578/20, wo die aus der Beschreibung übernommenen Merkmale ebenfalls erst zwei Monate vor der mündlichen Einspruchsverhandlung eingeführt worden waren.
In T 2035/16 ging es um einen Fall, in dem der letztmögliche Zeitpunkt für die Einreichung von Schriftsätzen gemäß R. 116 (1) EPÜ auf einen Monat vor der mündlichen Verhandlung festgelegt worden war. Der Patentinhaber reichte kurz vor diesem Datum Hilfsantrag II ein, den er in seiner Beschwerdeerwiderung erneut einreichte. In seiner Replik brachte der Einsprechende erstmals einen Angriff auf die erfinderische Tätigkeit von Hilfsantrag II ausgehend von Druckschrift D25 vor. Die Kammer war der Auffassung, dass der Einsprechende D25 nicht schon vor der Einspruchsabteilung hätte einreichen können, da die verbleibende Zeit vor der mündlichen Verhandlung zu knapp war, um das Dokument zu finden und in seinem Vortrag zu berücksichtigen. Zudem stellte die Replik der Kammer zufolge die erste Gelegenheit für den Einsprechenden dar, auf diesen Antrag einzugehen, da er nicht Gegenstand der Entscheidung der Einspruchsabteilung gewesen war und erst Teil des Beschwerdeverfahrens wurde, als er vom Patentinhaber erneut eingereicht wurde. (Eine andere Sicht zu letzterer Frage wurde jedoch in der Entscheidung T 664/20 vertreten, die in Kapitel V.A.4.3.5 c) (ii) zusammengefasst ist.)
(iii) In Reaktion auf Verteidigung oder Bestreiten des Patentinhabers während des schriftlichen Verfahrens
Auch aus der Verteidigung oder dem Bestreiten des Pateninhabers im Laufe des schriftlichen Verfahrens vor der Einspruchsabteilung kann sich für den Einsprechenden die Notwendigkeit ergeben, bereits im Einspruchsverfahren mit weiterem Vorbringen zu reagieren.
In T 1279/20 reichte der Beschwerdeführer (Einsprechende) F18 erst mit seiner Beschwerdebegründung ein. F18 betraf die Relevanz der Beispiele in einem vom Einsprechenden angezogenen Sekundärdokument (F14) für die erfinderische Tätigkeit. Deren Relevanz hatte der Patentinhaber jedoch bereits in seiner Erwiderung auf die Einspruchsschrift bestritten. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass dieses Beweismittel bereits im Einspruchsverfahren für eine Bewertung durch die Einspruchsabteilung hätte eingereicht werden müssen.
Ein Gegenbeispiel findet sich aber in T 1729/22. Da der Patentinhaber erstmals zum gemäß R. 116 (1) EPÜ festgelegten Zeitpunkt eine bestimmte technische Wirkung geltend gemacht hatte, die dann erstmals in der mündlichen Verhandlung diskutiert wurde, sah die Kammer die Beschwerdebegründung als die erste mögliche Gelegenheit für den Einsprechenden an, Beweismittel zu dieser Frage einzureichen.
(iv) In Reaktion auf Vorbringen in einem sehr späten Verfahrensstadium
T 1362/20 und T 186/20 betreffen Einwände bzw. Beweismittel, die mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, und zwar in Reaktion auf Anspruchsänderungen in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung, die neue, der Beschreibung entnommene Anspruchsmerkmale umfassten.
In T 186/20 wurden die Druckschriften E17 und E20 erst mit der Beschwerdebegründung eingereicht, u.a. in Bezug auf ein Merkmal, das erst in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung in den betreffenden Anspruch aufgenommen worden war. Zudem war dieses Merkmal aus der Beschreibung übernommen worden. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass weder E17 noch E20 während der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung hätten vorgebracht werden können.
Ähnlich verhielt es sich in T 1362/20, wo die Kammer den Klarheitseinwand zuließ, den der Beschwerdeführer erstmals mit der Beschwerdebegründung gegen ein bestimmtes Merkmal, das bereits in den in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträgen enthalten war, erhoben hatte. Die Kammer hob hervor, dass diese spät eingereichten Hilfsanträge der Beschreibung entnommene Merkmale umfassten und der Einsprechende jeweils nur etwa eine halbe Stunde Zeit hatte, sich mit ihnen zu befassen. Nach Auffassung der Kammer wäre es in diesem Zeitrahmen zwar möglich gewesen, einen Klarheitsmangel zu erkennen und einen Einwand zu erheben, jedoch konnte dies nicht vom Einsprechenden verlangt werden im Sinne des Art. 12 (6) Satz 2 VOBK. Da die Änderungen der Beschreibung entnommen waren und im Einspruchsverfahren zu einem sehr späten Zeitpunkt noch zum Verfahren zugelassen wurden, entsprach es dem Gebot der Fairness, neue Einwände gegen die geänderten Ansprüche noch zuzulassen, sofern diese Einwände bei erster Gelegenheit im Beschwerdeverfahren erhoben wurden.
Nicht zugelassen wurde hingegen in T 1520/20 ein erst in der Beschwerde vorgebrachter neuer Angriff auf einen Anspruchssatz. Der entsprechende Hilfsantrag war zwar im Einspruchsverfahren erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden, umfasste aber den Gegenstand eines vormaligen Hilfsantrags, der zum gemäß R. 116 EPÜ bestimmten letztmöglichen Zeitpunkt eingereicht worden war.
In T 1085/20 ließ die Kammer eine Druckschrift (D6) zu, die in der Beschwerde vom Beschwerdegegner (Einsprechenden) in Reaktion auf eine neue Verteidigungslinie des Patentinhabers in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgebracht wurde. Die Druckschrift beschrieb Versuche zur Nacharbeitung eines Beispiels aus einem Dokument des Stands der Technik, die belegen sollten, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags durch dieses Beispiel vorweggenommen wurde. Die Erklärung zielte darauf ab, den Inhalt einer ersten Erklärung zu erhärten, die als Reaktion auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden war. Der Patentinhaber hatte erst in der mündlichen Verhandlung auf diese erste Erklärung reagiert. Die Kammer erachtete daher die Einreichung von D6 zusammen mit der Beschwerdeerwiderung als eine rechtzeitige Reaktion.
In T 2973/19 befand die Kammer, dass die Einsprechenden nicht von der Tatsache überrascht sein konnten, dass ein Anspruchsmerkmal – hier ein bestimmter Begriff –, dessen Weglassung sie erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung beanstandet hatten, dem strittigen Anspruch später in einem in dieser Verhandlung eingereichten Hilfsantrag hinzugefügt wurde. Dies allein konnte nicht die verspätete Einreichung von Dokumenten in Reaktion auf den neuen Antrag rechtfertigen, der diesen Begriff enthielt.
(v) Nicht zwangsläufig bei der Zulassung zu berücksichtigen: Prima-facie-Relevanz, Unkenntnis von Stand der Technik, erschwerter Zugang
Wie in T 576/18 mit Verweis auf T 724/08 hervorgehoben, spielt es in Fällen, in denen Einwände/Beweismittel bereits im Einspruchsverfahren vorzubringen gewesen wären, für die Zulassung (hier nach Art. 12 (4) VOBK 2007) nicht zwangsläufig eine Rolle, ob diese prima facie relevant sind. Die Kammer verwies darauf, dass Prima-facie-Relevanz weder in der VOBK 2007 noch in der VOBK (in der derzeit gültigen Fassung) als zu berücksichtigender Gesichtspunkt aufgeführt ist. Weitere Entscheidungen, in denen die Kammern hervorhoben, dass Prima-facie-Relevanz bei der Zulassungsentscheidung nach Art. 12 (6) Satz 2 VOBK kein zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist, sind im nachstehenden Kapitel V.A.4.3.7 r) (ii) aufgeführt (T 1522/21 und T 765/20).
Siehe auch T 980/19 date: 2021-10-19 und T 2964/18 (beide betreffend Art. 12 (4) VOBK 2007), in denen die Kammern der in T 724/08 vertretenen Auffassung gefolgt sind, dass es keine Relevanz hat, ob bestimmte Offenbarungen schwer auffindbar sind. Ähnlich T 1309/21, der zufolge die bloße Unkenntnis von Dokumenten als Grund für eine Zulassung im Beschwerdeverfahren nicht ausreicht; das vergebliche Bemühen, diese rechtzeitig von einer Drittfirma zu erhalten, war nicht nachgewiesen worden.
- T 0883/23
In T 883/23 the board had to consider the admittance of document A35 – a poster describing the protocol of the clinical trial of example 3 of the patent – which was for the first time filed by the appellant opponent 1 with the statement of grounds of appeal and thus represented an amendment to the appellant’s case. Its admittance was therefore at the board's discretion under Art. 12(4) and (6), second sentence, RPBA.
A35 had been published between the filing of the priority applications P4 and P5 and was presented by the opponents as an alternative starting point for the inventive step assessment, because it presented more information than the previously filed document D6 relating to the same clinical trial.
The board held that, in view of the primary object of the appeal proceedings to review the decision under appeal in a judicial manner (Art. 12(2) RPBA), it was the responsibility of the opponents to file the evidence regarding the prior art on which they intended to rely for their arguments against the maintenance of the patent as granted or as amended according to any of the requests filed by the patent proprietor during the first-instance proceedings.
The board did not accept the opponent’s argument that A35 had been particularly hard to retrieve. A35 had been obtainable from the USPTO following the filing of the Information Disclosure Statements for a US patent application of the patentee in 2019. The patent proprietor had filed its main request with the reply to the notices of opposition of 7 December 2021. The oral proceedings before the opposition division had been held on 24 January 2023. After the filing of the patent proprietor's main request, the opponents had thus more than a year to file A35 during the first-instance proceedings. In the board’s view, document A35 could and should therefore have been filed during the first-instance proceedings.
The board was also not persuaded by the opponent’s argument that, in line with the considerations in T 1472/22, the theoretical possibility of the retrieval and filing of A35 at an earlier stage of the proceedings did not justify the rejection of its admittance under Art. 12(4) and (6) RPBA. The board pointed out that, in the case of T 1472/22, the decision was based on an auxiliary request filed by the patent proprietor during the oral proceedings before the opposition division. Thus, the opponent had no cause prior to these oral proceedings to file its evidence of a public prior use directed against the subject-matter of this auxiliary request. The board’s conclusion in that decision referred to the theoretical possibility to anticipate amendments in auxiliary requests that had not yet been filed by the patent proprietor, whereas, in the case in hand, the main request had already been filed with the reply to the notices of opposition.
The board then assessed whether the circumstances of the appeal case justified the admittance of A35 into the appeal proceedings (Art. 12(6), second sentence, RPBA). Replying to an argument of the opponents, the board did not see how its conclusion (different from the opposition division), that claim 1 of the main request did not enjoy the claimed priorities, could in any way justify the late filing of A35, given the fact that the opponents had challenged the priority claim during the first-instance proceedings. The board also explained that in view of its considerations in points 2.2. to 2.3 of the Reasons (which are based on the primary object of the appeal procedure), neither the explanation provided for the late filing of A35 (difficulties to retrieve the document) nor the assertion that the patent proprietor was already aware of its publication justified the admittance of A35. Likewise, the asserted prima facie relevance of A35 claimed by the opponents did not suffice as a justification for its admittance in the appeal proceedings. The board also noted in this regard that the opponents' argument appeared inconsistent with their claim that A35 did not dramatically alter the assessment of inventive step..
The board did therefore not admit A35 into the appeal proceedings under Art. 12(6), second sentence, RPBA.