4.3.5 Unvollständiges Vorbringen in Beschwerdebegründung oder Erwiderung – Substantiierungserfordernis – Artikel 12 (3) und (5) VOBK
(i) Erforderliches Maß an Substantiierung
Gemäß Art. 12 (3) VOBK muss der Beschwerdeführer (Einsprechende) deutlich angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die Entscheidung aufzuheben, und er muss hierzu ausdrücklich alle geltend gemachten Tatsachen, Einwände und Beweismittel im Einzelnen anführen. Ein lediglich pauschaler Angriff der angefochtenen Entscheidung oder ein pauschaler Hinweis auf das Vorbringen im Einspruchsverfahren wird dem nicht gerecht (T 2796/17).
Mit anderen Worten müssen zur Substantiierung eines von der Einspruchsabteilung für nicht überzeugend erachteten Einwands im Beschwerdeverfahren konkrete Gründe angeführt werden, warum die diesen Einwand betreffende Feststellung und Begründung in der angefochtenen Entscheidung angeblich inkorrekt waren. Dabei können Argumente, die bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht wurden, wiederaufgegriffen werden, müssen aber in den Kontext der angefochtenen Entscheidung gestellt werden (T 2117/18 in Anwendung des im Wesentlichen identischen Art. 12 (2) VOBK 2007; siehe auch T 557/21, T 1079/22, T 266/23).
Der Beteiligte muss zur Stützung des angeblichen Einwands eine logische und strukturierte Argumentationskette vorbringen (z. B. T 1217/17, T 2883/19, T 2649/22).
In T 2253/16 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) in seiner Beschwerdebegründung die Behauptung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu gegenüber dem Gegenstand von D4 sei, lediglich damit begründet, dass die angefochtene Entscheidung bezüglich eines Merkmals in sich nicht schlüssig sei. Die Kammer merkte an, dass eine Analyse des Dokuments D4 fehlte, aus der hervorginge, wo der Beschwerdeführer welche Anspruchsmerkmale offenbart sah. Sie betonte, dass die Beschwerdebegründung gemäß Art. 12 (3) VOBK das vollständige Beschwerdevorbringen des Beschwerdeführers enthalten muss. Sie könne insoweit auch nicht ohne Weiteres auf das Vorbringen im Einspruchsverfahren zurückgreifen, da dieses ausweislich des Art. 12 (3) VOBK nicht automatisch Teil des Beschwerdevorbringens ist. Daran ändere ein unspezifischer Verweis auf die Einspruchsschrift nichts, da Art. 12 (3) VOBK erfordere, dass ausdrücklich alle Tatsachen und Einwände anzuführen sind.
Für weitere Fälle einer unzureichenden Substantiierung eines Einwands siehe z. B. T 2227/15 (im Hinblick auf Art. 12 (2) VOBK 2007, der, wie die Kammer feststellte, Art. 12 (3) VOBK entspricht), T 565/16, T 1617/20 und T 186/20. In allen diesen Fällen fehlte eine Begründung, warum die Gründe und Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung unzutreffend sein sollten.
In T 1695/21 hingegen sah die Kammer die Substantiierung eines Einwands nach Art. 84 EPÜ als ausreichend an, da der Gegenstand dieses Einwands aus den spezifischen Punkten der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, auf die verwiesen wurde, im Wesentlichen erkennbar war.
Zu pauschalen Verweisen auf unerwidertes Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren (Einwände gegen Hilfsantrag 3) siehe aber auch T 108/20.
(ii) Fehlendes Vorbringen zu Hilfsanträgen aus dem Einspruchsverfahren, die nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung sind
Gemäß der Entscheidung der Kammer in T 664/20 muss die Beschwerdebegründung eines Beschwerdeführers (Einsprechenden) das vollständige Vorbringen bezüglich sämtlicher vor der Einspruchsabteilung anhängigen Anträge enthalten, auch derjenigen, die nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung waren. Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer Druckschriften aus einer zusätzlichen Recherche erst vorgelegt, nachdem der Patentinhaber Anträge, die bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden waren, über die Letztere jedoch nicht entschieden hatte, erneut eingereicht hatte. Daher ließ die Kammer besagte Druckschriften in Anwendung von Art. 12 (3) und 13 (1) VOBK nicht zu.
Eine andere Ansicht vertrat die Kammer in T 2035/16. In einer ähnlichen Situation gelangte sie zu der Auffassung, dass die Replik für den Einsprechenden die erste Gelegenheit darstellte, auf die Einführung des Hilfsantrags ins Beschwerdeverfahren zu reagieren. Zwar war derselbe Antrag bereits im Einspruchsverfahren gestellt worden, doch war er nicht Gegenstand der Entscheidung der Einspruchsabteilung und nicht Teil des Beschwerdeverfahrens, bis der Patentinhaber ihn erneut einbrachte.
(iii) Kein Erfordernis zur Behandlung aller abhängigen Ansprüche
In T 750/18 erklärte die Kammer, dass der in Art. 12 (2) VOBK 2007 geforderte vollständige Sachvortrag nicht bedeutet, dass Beschwerdeführer (Einsprechende), die die Aufrechterhaltung eines Patents in der erteilten Fassung oder in geändertem Umfang anfechten, Einwände gegen alle abhängigen Ansprüche vorbringen müssen. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) muss deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Einwände gegen einen von der Einspruchsabteilung für gewährbar befundenen unabhängigen Anspruch reichen daher zur Erfüllung dieses Erfordernisses aus.
(iv) Verteidigung – Bezugnahme auf Vorbringen vor der ersten Instanz
In der Sache T 503/20, in der der Beschwerdegegner (Patentinhaber) eine behauptete offenkundige Vorbenutzung bestritt, entschied die Kammer, den Teil des Vorbringens in der Beschwerdeerwiderung, der lediglich pauschal auf Vorbringen im Einspruchsverfahren Bezug nahm, unberücksichtigt zu lassen. Dies begründete sie insbesondere damit, dass es insoweit vollkommen an einer Auseinandersetzung mit der Entscheidung fehlte, als diese im Einzelnen ausgeführt hatte, warum sie die offenkundige Vorbenutzung für nachgewiesen erachtete und welche patentgemäßen Merkmale sie in ihr offenbart sah. Die bloße Bezugnahme auf das Einspruchsvorbringen kann eine sachgerechte Begründung im Beschwerdeverfahren nicht ersetzen; vielmehr ist die in Art. 12 (3) VOBK (weiterhin) geforderte Vollständigkeit des Beschwerdevorbringens bereits deshalb geboten, weil es nicht Aufgabe der Kammer sein kann, nachzuforschen, welche der Argumente aus dem Einspruchsverfahren im Lichte der angefochtenen Entscheidung und den darin getroffenen Feststellungen weiterhin relevant bleiben können (so bereits T 1792/17 zur VOBK 2007). Ebenso wenig ließ die Kammer die in einen späteren Beschwerdeschriftsatz integrierten Auszüge aus der Einspruchserwiderung und aus der Replik im Einspruchsverfahren zu, weil damit lediglich die Argumente aus diesen früheren Schriftsätzen wörtlich wiederholt wurden, ohne dass der Patentinhaber sich mit den Feststellungen der Einspruchsabteilung näher befasst hätte. Wie bereits in T 1041/21 festgehalten, besteht kein Unterschied, ob verwiesen wird oder diese ohne Anpassung an den Fall nochmal eingereicht werden.
(v) Unvollständige Vorbereitung des Falls
In J 3/20 machte der Beschwerdeführer den Grundsatz des Vertrauensschutzes erstmals während der mündlichen Verhandlung vor der Juristischen Beschwerdekammer geltend und gab an, dass er dem Inhalt einer Mitteilung in einem Parallelfall vertraut hätte, die er allerdings bereits 2016 erhalten hatte. Die Juristische Beschwerdekammer hob hervor, dass die Bedingung in Art. 12 (3) Satz 1 VOBK eine vollständige Vorbereitung unter Berücksichtigung aller verfügbaren maßgeblichen Dokumente verlangt. Somit war nach Ansicht der Kammer nicht ersichtlich, warum der Beschwerdeführer die neue Verteidigung und die zugrunde liegenden Tatsachen erst so spät im Verfahren vorgelegt und damit gegen Grundsätze der Verfahrensökonomie verstoßen hatte.
(vi) Wirksamkeit der Einreichung nicht substantiierter Anträge
Zur Zulassung nicht substantiierter neuer Einwände siehe T 321/21 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.2.3 h)).