4.5.5 Zulassung neuer Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel
Die Bejahung von Prima-facie-Relevanz für sich allein wurde nicht als ausreichender Grund für eine Zulassung in diesem Verfahrensstadium angesehen (s. z. B. T 2113/17, T 187/18, T 482/18, T 1042/18, T 741/20, T 1305/21). Prima-facie-Relevanz wurde aber je nach den Umständen des Falles als ein möglicher Gesichtspunkt bei der Prüfung von Art. 13 (2) VOBK berücksichtigt (s. z. B. T 574/17, T 2391/18, T 463/19 und T 307/22).
In T 187/18 stellte die Kammer zunächst fest, dass die neue Angriffslinie des Beschwerdeführers (Einsprechenden) gegen Anspruch 1, die sich auf eine neue Kombination von Dokumenten stützte, eine Änderung des Vorbringens des Beteiligten darstellte. Sie verwies dann darauf, dass nach Art. 13 (2) VOBK durch stichhaltige Gründe gerechtfertigte außergewöhnliche Umstände vorliegen müssten und dass deshalb eine behauptete Prima-facie-Relevanz per se nicht zu berücksichtigen war. Da der Beschwerdeführer keine besonderen Gründe für die Änderung seines Vorbringens angab, ließ die Kammer diese neue Angriffslinie nicht zum Verfahren zu. Siehe auch T 1042/18 (in der die Kammer befand, dass die mögliche Prima-facie-Relevanz eines Beweismittels für sich allein genommen nicht hinreichend sei) und T 1876/18 (worin unterstrichen wurde, dass eine solche Auslegung der Erfordernisse des Art. 13 (2) VOBK die wahllose Zulassung jeglicher relevanter Beweismittel und Einwände selbst bei deren Einreichung im letzten Stadium des Verfahrens ermöglichen würde, was dem Grundsatz der Verfahrensökonomie zuwiderliefe); ähnlich T 1305/21.
In T 482/18 äußerte der Beschwerdeführer (Einsprechende) erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer Einwände gemäß Art. 123 (2) EPÜ und Art. 84 EPÜ gegen einen Begriff in den Ansprüchen des Hauptantrages (der mit dem Antrag identisch war, auf dessen Grundlage die Einspruchsabteilung das Patent aufrechterhalten hatte). Das Argument des Einsprechenden, gemäß Art. 114 (1) EPÜ 1973 habe die Kammer von Amts wegen die Erfordernisse der Art. 123 (2) EPÜ und Art. 84 EPÜ zu prüfen, wies die Kammer zurück. Auch sah sie in dem neuen Vorbringen nicht lediglich auf bereits im Verfahren befindlichen Tatsachen beruhende Argumente. Sie erläuterte ferner, dass das in Art. 13 (1) VOBK nicht genannte, aber von den Beschwerdekammern weiterhin grundsätzlich zu Recht herangezogene Kriterium der Prima-facie-Relevanz vorliegend im Hinblick auf den Verfahrensstand und die mangelnde Veranlassung neuen Vorbringens durch Äußerungen im Verfahren vor der Kammer nicht durchgreifen könne.
In T 574/17 bestätigte die Kammer, dass eine Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens gemäß Art. 13 (2) VOBK auch die in Art. 13 (1) VOBK genannten Kriterien heranziehen kann. Dieses Ermessen sei der Prüfung inhärent, ob "außergewöhnliche Umstände" vorliegen, und werde ferner durch den Begriff "grundsätzlich" ausgedrückt (T 172/17). Die Kammer stellte fest, dass die in Art. 13 (1) VOBK genannten Kriterien auch die Eignung der Änderung zur Lösung der aufgeworfenen Fragen umfassen. Im vorliegenden Fall ergab sich daraus die Frage, ob die neu erhobenen Einwände gegen den Hilfsantrag 14 prima facie erfolgreich sein würden. Die Kammer wies allerdings darauf hin, dass es keiner Beurteilung der Prima-facie-Relevanz eines Einwands bedarf, um zu dem Schluss zu gelangen, dass keine außergewöhnlichen Umstände nach Art. 13 (2) VOBK vorliegen (s. T 2787/17). Ob es angemessen ist, eine solche Prima-facie-Beurteilung durchzuführen, hängt von den besonderen Umständen des Falls ab. Charakteristisch für den vorliegenden Fall war, dass die Einspruchsabteilung das Patent in der erteilten Fassung aufrechterhalten hatte. Der Hilfsantrag 14 war nie geprüft worden und es war auch kein Einwand gegen ihn erhoben worden. In dieser besonderen Verfahrenssituation erachtete die Kammer es für angemessen, sich mit der (mangelnden) Prima-facie-Relevanz der beiden erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhobenen Einwände zu befassen. Sie erläuterte in diesem Zusammenhang, dass dem obiter dictum in G 10/91, Nr. 19 der Gründe, in vollem Umfang Genüge getan wird, wenn die Prima-facie-Relevanz eines Einwands im Kontext der Prüfung betrachtet wird, ob außergewöhnliche, die Zulassung des Einwands gemäß Art. 13 (2) VOBK rechtfertigende Umstände vorliegen.
In T 463/19 entschied die Kammer aufgrund der folgenden außergewöhnlichen Umstände, das von der Einsprechenden verspätet eingereichte Dokument E65a gemäß Art. 13 (1) und (2) VOBK im Verfahren zu berücksichtigen: Das Dokument war objektiv schwer auffindbar gewesen. Es war zweifellos nicht absichtlich zurückgehalten worden, sondern erstmals von einem Dritten in einem anderen Einspruchsverfahren entgegengehalten worden und dadurch der Einsprechenden bekannt geworden. Es gehörte nach Ansicht der Kammer prima facie zum Stand der Technik und war prima facie sehr relevant.