5. Deutlichkeit und Vollständigkeit der Offenbarung
5.1. Allgemeine Grundsätze
Das europäische Patent muss hinreichend Angaben liefern, sodass eine Fachperson vor dem Hintergrund ihres allgemeinen Fachwissens die technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehen und ausführen kann. Gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern muss die Offenbarung einer Patentanmeldung oder eines Patentes die Fachperson in die Lage versetzen, die beanspruchte Erfindung am relevanten Tag der Patentanmeldung im ganzen beanspruchten Bereich mit Erfolg praktisch verwirklichen zu können. Ein einziges Ausführungsbeispiel kann eine ausreichende Offenbarung darstellen, wenn die angestrebte Wirkung ohne unzumutbaren Aufwand mit hinreichender Sicherheit über den gesamten beanspruchten Bereich erzielt werden kann. Gelegentliche Fehlschläge sowie die Unbrauchbarkeit einzelner Varianten sind unschädlich. Die Ausreichende Offenbarung ist eine Tatfrage, die von Fall zu Fall zu entscheiden ist. In jedem Fall muss die Durchschnittsfachperson in Kenntnis der fraglichen Offenbarung am Stichtag in der Lage sein, die beanspruchte Erfindung der innewohnenden technischen Lehre entsprechend praktisch zu verwirklichen und die beanspruchte Sache herzustellen (T 1173/00, ABl. 2004, 16, Nr. 3.2 der Gründe, wo die Rechtsprechung unter anderem in dieser Form unter Verweis auf die grundlegenden Entscheidungen T 409/91, Nrn. 2 und 3.5 der Gründe; T 435/91, Nr. 2.2.1 der Gründe; T 292/85, Nrn. 3.1.2 und 3.1.5 der Gründe; und T 612/92, Nrn. 12 und 13 der Gründe zusammengefasst wird).
Die Zusammenfassung der anwendbaren Rechtsprechung findet sich beispielsweise auch in den jüngeren Entscheidungen T 2046/19, T 867/21, T 1298/21, T 548/22, T 552/22, und T 1977/22 (Zusammenfassung und Analyse aller Grundsatzentscheidungen).
Das durch das Patent verliehene Monopol muss durch den technischen Beitrag der Erfindung begründet sein (T 409/91, ABl. 1994, 653; T 435/91, ABl. 1995, 188). Die Notwendigkeit eines angemessenen Schutzes ist sowohl für die Überlegungen zum Umfang der Ansprüche als auch für die Anforderungen an eine ausreichende Offenbarung maßgeblich (T 292/85, ABl. 1989, 275).
Wenn der Anmelder in der Beschreibung keine Einzelheiten des Herstellungsverfahrens angibt, damit die Erfindung nicht ohne Weiteres nachgeahmt werden kann, und die Fachperson dieses Informationsdefizit nicht durch ihren allgemeinen Wissensstand ausgleichen kann, gilt die Erfindung nicht als ausreichend offenbart (T 219/85, ABl. 1986, 376). Im Ex-parte-Verfahren T 219/85 ging es um ein Verfahren zur Bearbeitung eines Edelsteins, um auf einer seiner Facetten eine Inschrift anzubringen. Was das Verfahren und das Ergebnis vom Stand der Technik unterscheiden sollte, wurde durch die bloße Formulierung "unter solchen Bedingungen" zum Ausdruck gebracht. Andererseits erklärte die Kammer in T 2253/12, dass es bei allgemein bekannten technischen Einzelheiten, die erfindungsgemäß umzusetzen sind, keiner erschöpfenden Beschreibung bedarf, sofern eine Umsetzung keinen unzumutbaren Aufwand darstellt, da dies durchaus innerhalb der Kompetenz der Fachperson liegt (gebührende Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens der Fachperson).
Der vorliegende Kapitel II.C.5 ist auch im Lichte der Kapitel II.C.7. zum Bereich Biotechnologien zu lesen.
Vor dem Hintergrund des Nachstehenden ist anzumerken, dass sich zahlreiche Entscheidungen der jüngeren Rechtsprechung mit der Frage des Zusammenhangs zwischen dem Erfordernis des Aufzeigens von mindestens einem Ausführungsbeispiel und der Möglichkeit der Ausführung der Erfindung über ihren gesamten Schutzbereich auseinandersetzen mussten (z. B. T 2046/19, T 867/21, T 1298/21, T 548/22, T 552/22), wobei in einigen Fällen insbesondere die Rolle der Fachgebiete zu beleuchten war. Die Frage, ob das Fachgebiet einen Einfluss hat, wurde entsprechend in den nachfolgend in chronologischer Reihenfolge aufgeführten Entscheidungen erörtert und behandelt: T 2773/18, T 500/20, T 1983/19, T 149/21, T 447/22, T 174/21, T 748/19.