5. Deutlichkeit und Vollständigkeit der Offenbarung
5.2. Aufzeigen mindestens eines Wegs zur Ausführung der Erfindung
Eine Erfindung ist im Prinzip ausreichend offenbart, wenn der Fachperson mindestens ein Weg zu ihrer Ausführung eindeutig aufgezeigt wird (T 292/85, ABl. 1989, 275).
Die Offenbarung eines Wegs zur Ausführung der Erfindung ist nur dann ausreichend, wenn die Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich nachgearbeitet werden kann (T 409/91, ABl. 1994, 653; s. auch T 1173/00, ABl. 2004, 16, Nr. 3.2 der Gründe; T 2172/15, T 2046/19, T 867/21 (s. Schlagwort), T 174/21, T 1298/21 (ein Versuchsaufbau ist ausreichend im Gegensatz zu T 149/21), T 552/22).
Bei der Prüfung der ausreichenden Offenbarung (Art. 100 b) und 83 EPÜ) muss die Kammer überzeugt sein, dass die Fachperson erstens der Patentschrift mindestens einen Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung entnehmen und sie zweitens im gesamten beanspruchten Bereich ausführen kann. Ist sie nicht davon überzeugt, dass die erste Voraussetzung erfüllt und eine Ausführungsmöglichkeit aufgezeigt ist, so braucht sie die zweite Voraussetzung nicht zu prüfen (T 792/00, Schlagwort).
Insofern mag die Offenbarung eines Weges ausreichen, allerdings eben nur unter der Bedingung, dass dieser eine Weg auch – zusammen mit dem allgemeinen Fachwissen – den gesamten beanspruchten Bereich abdeckt (T 867/21).
Die Frage, ob die Offenbarung eines einzigen Wegs zur Ausführung der Erfindung ausreicht, um einer Fachperson die Ausführung der Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich zu ermöglichen, ist jedoch eine Tatfrage, die von Fall zu Fall anhand der vorliegenden Beweismittel und nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit zu entscheiden ist (T 409/91, ABl. 1994, 653, Nr. 3.5 der Gründe; T 2038/19 als jüngeres Beispiel).
Der Beitrag der Entscheidung T 292/85 (ABl. 1989, 275) zu den möglichen Varianten eines funktionell definierten Merkmals (s. hierzu insbesondere Kapitel II.C.5.4 a) wird in der darauffolgenden Rechtsprechung zusammengefasst und angewandt, beispielsweise in den folgenden Entscheidungen, die weitere Einzelheiten zum Thema liefern: T 238/88 (ABl. 1992, 709, Nr. 4.1 der Gründe: "So ist wenigstens ein Weg zur Ausführung der Erfindung im Einzelnen anzugeben. In der Offenbarung müssen keine besonderen Hinweise darauf enthalten sein, wie alle denkbaren Varianten zu erzielen sind, solange ..."), T 60/89 (ABl. 1992, 268, Nr. 2.2.7 der Gründe, gekürzter Auszug: "es ... nicht erforderlich ist, daß jede einzelne Variante ausführbar ist"), T 19/90 (ABl. 1990, 476, Krebsmaus, IV. Absatz zu "übereinstimmende Linie" und Nrn. 3.3, 3.7, 3.8 der Gründe), T 354/97, T 1173/00 (ABl. 2004, 16, Nr. 3.2 der Gründe mit Verweis auf T 409/91; T 435/91; T 292/85 und T 612/92), T 986/21 ("…und es keine besonderen Hinweise braucht, wie alle denkbaren Varianten … zu erzielen sind").
Die Kammer in T 740/90 hielt den Verweis auf T 292/85 für nicht zielführend, da die Erfindung in T 740/90 nicht funktionell, sondern durch Parameter definiert war. Sie war daher klar definiert und das Vorliegen möglicher Varianten betraf lediglich die zur Herstellung der anspruchsgemäßen Hefen notwendigen Ausgangsprodukte. Das EPÜ verlangt nicht die Beschreibung mehrerer erfindungsgemäßer Ausführungsformen (R. 27 (1) e) EPÜ 1973). Die einzig relevante Frage im Sinne des Art. 83 EPÜ ist, ob die Beschreibung ein Herstellungsverfahren einer anspruchsgemäßen Hefe umfasst, das die Fachperson nacharbeiten kann.
Die bloße Tatsache, dass nur ein Weg zur Ausführung der Erfindung aufgezeigt wird, gibt an sich noch keinen Anlass dazu, der Anmeldung ihren Anspruch auf breiter gefasste Ansprüche abzusprechen (T 242/92; vgl. auch T 19/90, Nr. 3.3 der Gründe "Nur wenn ernsthafte ... Zweifel bestehen"). Vorliegend gab es keinerlei konkrete Beweise, dass die Fachperson die besondere Lehre der Beschreibung durch Anwendung routinemäßiger Verfahren nicht auf ein breiteres Feld ausdehnen kann. In Anbetracht des Beitrags zum Stand der Technik durch den Anmelder war es in diesem Fall mangels guter Gründe ungerechtfertigt, die Ansprüche auf die beispielhaft spezifizierte Ausführungsform zu beschränken (Ex-parte-Fall T 242/92, von der Kammer untersuchte Einwände zu Art. 84 und Art. 83 EPÜ).
In T 2046/19 argumentierten sowohl die Einspruchsabteilung als auch der Beschwerdegegner (Patentinhaber), dass das Kriterium der ausreichenden Offenbarung bereits dadurch erfüllt war, dass das Beispiel einen Weg zur Ausführung der Erfindung offenbarte. Die Kammer teilte diese Auffassung nicht: Sie deutete die ständige Rechtsprechung dahingehend, dass die Fachperson der Beschreibung im beanspruchten Bereich bei zumutbarem Aufwand funktionierende Ausführungsformen entnehmen können muss. Weitere technische Einzelheiten und Beispiele können zur Stützung von Ansprüchen breiten Umfangs erforderlich sein (wie im vorliegenden Fall, wo das gewünschte Ergebnis nur als Desideratum oder als zu erzielendes Ergebnis definiert war). Daher ist außerdem zu berücksichtigen, ob die Offenbarung des Patents die Fachperson in die Lage versetzt, die Erfindung ohne unzumutbaren Aufwand über den gesamten beanspruchten Bereich auszuführen.
In T 500/20 befand die Kammer Angriffe auf den Offenbarungsgehalt einer beanspruchten Erfindung, in der es nicht um einen Bereich von Parameterwerten oder Zusammensetzungen geht, hinsichtlich einer unzureichenden Offenbarung über die gesamte Breite des Anspruchs für nicht zielführend, weshalb sie verworfen werden können. Dies gilt insbesondere, wenn eine Erfindung sich auf eine breit definierte Lehre richtet, die anhand grundsätzlicher struktureller oder funktioneller Merkmale einer Vorrichtung bzw. eines Verfahrens beschrieben wird. Hier genügt in der Regel ein detailliertes Beispiel oder eine detaillierte Ausführungsform, um zu veranschaulichen, wie das Konzept in der Praxis verwirklicht werden kann, sodass die jeweilige Fachperson die zugrunde liegenden Prinzipien insofern versteht, als sie die beanspruchte Erfindung mithilfe ihres allgemeinen Fachwissens ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeiten kann (s. die im Detail in diesem Kapitel II.C.5.4 d) erörterten Entscheidungen).
In T 149/21 stimmte die Kammer zu, dass das Streitpatent wenigstens einen Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung im Einzelnen angebe und somit zumindest R. 42 (1) e) EPÜ erfülle. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern müsse jedoch die Ausführbarkeit der beanspruchten Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich gegeben sein. Demnach sei die Angabe wenigstens eines Weges zur Ausführung der beanspruchten Erfindung zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Erfüllung des Erfordernisses von Art. 83 EPÜ.
In T 1298/21 war ein einziger Versuchsaufbau ausreichend; anders im Fall T 149/21, wo das beanspruchte Verfahren ausdrücklich selbst ungeplante Ereignisse identifizieren und lösen können musste ("unplanmäßige Walzpause aufgrund eines Störfalls").
In T 1809/17 brachte der Einsprechende vor, Anspruch 1 sei nicht hinreichend offenbart, weil nicht alle wesentlichen Merkmale definiert seien. Laut Kammer sei hierbei aber nicht maßgeblich, ob der unabhängige Anspruch alle wesentlichen Merkmale definiere, sondern ob die gesamte Patentschrift der Fachperson wenigstens ein gangbares Ausführungsbeispiel aufzeige, wie die in Anspruch 1 definierte Erfindung umsetzbar sei.