9. Beweisfragen
9.2. Folge einer schwachen bzw. einer starken Vermutung hinsichtlich der ausreichenden Offenbarung
In T 63/06 (s. Leitsatz) räumte die Kammer ein, dass im Allgemeinen der Einsprechende die Beweislast in Bezug auf unzureichende Offenbarung trägt. Werden im Patent allerdings keinerlei Angaben dazu gemacht, wie ein Merkmal der Erfindung in die Praxis umgesetzt werden kann, so besteht nur eine schwache Vermutung, dass die Erfindung hinreichend offenbart ist. In einem solchen Fall kann der Einsprechende sich seiner Beweispflicht entledigen, indem er glaubhaft macht, dass das allgemeine Fachwissen es der Fachperson nicht ermöglichen würde, dieses Merkmal in die Praxis umzusetzen. Dann trägt der Patentinhaber die Beweislast für die gegenteilige Behauptung, dass das allgemeine Fachwissen die Fachperson durchaus zur Ausführung der Erfindung befähigen würde. Wie im vorherigen Abschnitt dargelegt; siehe den Beitrag von T 1076/21 zur Zusammenfassung und zum Verständnis der Rechtsprechung in T 63/06 und der damit verbundenen Problematik.
In T 1171/16 stellte die Kammer klar, dass T 63/06 nicht zu dem Schluss kam, dass es für eine Verlagerung der Beweislast erforderlich sei, dass das Patent keine Angaben dazu enthält, wie ein Merkmal der Erfindung auszuführen ist.
Die Kammer in T 61/21 befand, dass die Frage, ob eine starke oder schwache Vermutung hinsichtlich der ausreichenden Offenbarung besteht, anhand der Tatsachenlage des Einzelfalls beantwortet werden muss.
Die Entscheidung T 2176/21 verwies kurz auf ein Grundprinzip, an das in T 1076/21 erinnert wurde, und befasste sich dann mit dem Umfang anderer Grundsätze, insbesondere aus T 63/06. Der Mangel an ausreichender Offenbarung ist grundsätzlich vom Beschwerdeführer als Einsprechendem nachzuweisen (siehe T 1076/21). Auch das Vorliegen einer schwachen Vermutung im Sinne der T 63/06 muss begründet und der Anknüpfungspunkt gegebenenfalls bewiesen werden. Es ist der T 63/06 nicht zu entnehmen, dass das Fehlen eines Beispiels automatisch eine schwache Vermutung bedingt und dass jede schwache Vermutung automatisch widerlegt wäre. Der Beschwerdeführer hat schon nicht dargelegt und ggfs. nachgewiesen, aufgrund welcher konkreten Umstände im vorliegenden Fall von einer schwachen Vermutung der ausreichenden Offenbarung auszugehen ist und wodurch diese in einem zweiten Schritt ggfs. widerlegt wäre, noch ist es ersichtlich.
Zur Veranschaulichung der Anwendung von T 63/06 siehe beispielsweise T 338/10, der zufolge die begründeten Argumente des Einsprechenden die Beweislast umkehren, im selben Sinne auch T 518/10. Vgl. auch T 792/00, Nrn. 9 ff. der Gründe (Beweislast bei hypothetischem Versuchsprotokoll). S. auch T 491/08; T 347/15; T 1845/17 (mehrdeutiger Parameter); T 2218/16 (Gentherapie für Motoneuronerkrankungen – scAAV9-Vektor) einschließlich detaillierter Gründe.
In T 59/18 argumentierten die Beschwerdegegner (Einsprechenden) überzeugend, dass der Begriff "Relaxationsrate" mit der vom Beschwerdeführer beabsichtigten Bedeutung nicht in Lehrbüchern zu finden sei und kein allgemeines Fachwissen darstelle, liegt die Beweislast für die Feststellung der ausreichenden Offenbarung eindeutig beim Beschwerdeführer/Patentinhaber.
In T 2119/14 (unüblicher Parameter) erklärte die Kammer unter Verweis auf T 63/06, es resultiere ein unzumutbarer Aufwand aus der nahezu unendlichen Anzahl von Beschichtungszusammensetzungen, die unter die strukturelle Definition des Anspruchs 1 fielen, und der festgestellten fehlenden Lehre des Streitpatents dahin gehend, wie die Komponenten der Beschichtungszusammensetzung in geeigneter und einfacher Weise ausgewählt werden können, um das Erfordernis des unüblichen Parameters von Anspruch 1 zu erfüllen. Infolgedessen obliege der Nachweis dafür, dass die Herstellung der Beschichtungszusammensetzungen über den gesamten Schutzbereich für die Fachperson keinen unzumutbaren Arbeitsaufwand bedeute, dem Patentinhaber (hier Beschwerdeführer).
In T 2401/19 stellte die Kammer fest, dass, wenn im Patent keine Angaben dazu gemacht werden, wie ein Merkmal der Erfindung in die Praxis umgesetzt werden kann, nur eine schwache Vermutung besteht, dass die Erfindung ausreichend offenbart ist. In einem solchen Fall könne der Einsprechende seiner Beweislast dadurch genügen, dass er glaubhaft macht, dass das allgemeine Fachwissen es der Fachperson nicht ermöglichen würde, dieses Merkmal in die Praxis umzusetzen.
In T 557/22 befand die Kammer, dass der Beschwerdeführer (Einsprechende) zu Recht darauf hingewiesen hatte, dass die Beschreibung keine Lehre enthielt, wie der Parameteranforderung zu genügen sei. Die Beschreibung lieferte der Fachperson keine Hinweise für die Auswahl der Monomere und ihrer relativen Mengen. Sie enthielt nicht einmal ein Beispiel dafür. Der Beschwerdegegner erbrachte auch keinen Nachweis dafür, dass die Parameter auf dem technischen Gebiet üblich waren oder dass der Fachperson geeignete allgemeine Fachkenntnisse zugänglich waren, um die Lücke zu füllen. Die Kammer entschied, dass aufgrund des Fehlens einer Lehre in der Beschreibung bezüglich der Messung des ungewöhnlichen Parameters, der Mittel zur Erreichung des im betreffenden Anspruch definierten Parameterwerts und eines Beispiels, das die Bedingung erfüllt, eine schwache Vermutung bestand, dass die in Anspruch 5 definierte Erfindung ausreichend offenbart war (und umgekehrt eine starke Vermutung für eine unzureichende Offenbarung). Selbst wenn man der Sichtweise des Beschwerdegegners folgte, dass der in Anspruch 5 definierte Parameter leicht messbar sei, bedeute dies nicht, dass die Fachperson in der Lage wäre zu bestimmen, welche Schritte unternommen werden müssen, um die Parameteranforderungen zu erfüllen. Das Argument des Beschwerdegegners, die Beschreibung enthalte eine Fülle von Lehren für die Ausführung der Erfindung, möge zwar auf den unabhängigen Anspruch 1 zutreffen, auf den Anspruch 5 Bezug nahm, jedoch nicht auf die durch den Inhalt von Anspruch 5 definierte Erfindung. Die Behauptung des Beschwerdegegners, es habe an einem erfolgreichen Einwand gemangelt, sei nicht überzeugend. Im vorliegenden Fall ergäben sich die ernsthaften Zweifel aus dem Umstand, dass die Beschreibung überhaupt keine Lehre enthielt und keine weiteren Hinweise oder Beweise lieferte, was die Fachperson tun würde, um diese zusätzliche Bedingung mit einem angemessenen Experimentieraufwand zu erfüllen.
Für ein weiteres Beispiel einer nachprüfbaren Tatsache, die Zweifel an der ausreichenden Offenbarung aufwirft, siehe T 2038/19 (wasserabsorbierende Harzpartikel), wo T 63/06 angewandt wurde.