1.13. Offenbarung in den Zeichnungen
1.13.1 Allgemeines
Bei der Überprüfung der Stütze eines Merkmals in einer Abbildung sind die exakt selben Maßstäbe anzulegen wie für die Beschreibung: entscheidend ist, was die Fachperson der Abbildung unter Heranziehung ihres allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig entnehmen würde (T 2537/10, gestützt durch T 2027/18). Siehe auch T 730/19.
Aus der Rechtsprechung in T 169/83 (ABl. 1985, 193), die oft zitiert wird, T 523/88 und T 818/93 geht hervor, dass es nach dem EPÜ durchaus zulässig ist, Ansprüchen durch Änderungen Merkmale hinzuzufügen, die aus den Zeichnungen entnommen wurden, sofern diese Merkmale bezüglich Funktion und Struktur für die Fachperson unmittelbar, vollständig und eindeutig aus den Zeichnungen ersichtlich sind und keinerlei Widersprüche mit den übrigen Offenbarungsstellen bestehen. Außerdem darf kein Verzicht ausgesprochen worden sein.
In T 169/83 (ABl. 1985, 193), T 465/88 und T 308/90 wurde festgestellt, dass die Zeichnungen, falls vorhanden, als integraler Bestandteil der die Erfindung offenbarenden Unterlagen der Anmeldung zu betrachten sind. Die Zeichnungen sind in ihrer Bedeutung den anderen Teilen der Anmeldung gleichzustellen (s. auch Kapitel II.E.1.2.1 "Beschreibung, Patentansprüche und Zeichnungen"). Außerdem schließt die Tatsache, dass Merkmale ausschließlich in den Zeichnungen offenbart sind, nicht aus, dass diese Merkmale im Verlaufe des Verfahrens wesentliche Bedeutung erlangen (T 818/93). Merkmale, die die Fachperson in Bezug auf Aufbau und Funktion den Zeichnungen eindeutig entnehmen kann, dürfen durchaus herangezogen werden, um den Gegenstand des Schutzbegehrens zu definieren (T 372/90).
In T 676/90 betonte die Kammer, dass eine Zeichnung nie losgelöst vom Gesamtinhalt der Anmeldung, sondern nur in diesem Gesamtrahmen interpretiert werden könne. Der Inhalt einer Anmeldung werde nicht nur durch die darin erwähnten oder gezeigten Merkmale, sondern auch durch deren Beziehung zueinander bestimmt. T 676/90 wurde jüngst in T 571/22 untermauert.
In T 191/93 basierten die Änderungen ausschließlich auf den ursprünglichen Zeichnungen und führten nur einige der darin offenbarten Merkmale ein. Die Kammer war hier der Auffassung, dass der Gegenstand des Patents gegenüber der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung erweitert worden sei, weil den Zeichnungen nicht zu entnehmen sei, dass die beiden neu eingeführten Merkmale von den anderen in den Zeichnungen dargestellten Merkmalen isoliert werden könnten. Für weitere Fälle, in denen die Isolierung von Merkmalen aus einer Zeichnung zu einer unzulässigen Zwischenverallgemeinerung führte, s. T 1408/04, T 983/12 und T 324/21.
In T 324/21 erklärte die Kammer, dass die Beschreibung einer Zeichnung untrennbar mit der konkreten Offenbarung dieser Zeichnung verbunden sein kann. Wenn ein in der Beschreibung der Zeichnung enthaltenes Merkmal aus dem sehr konkreten Kontext der Zeichnung herausgegriffen und in einen Anspruch aufgenommen wird, muss die konkrete Offenbarung dieser Zeichnung berücksichtigt werden. Enthält die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung für diese konkrete Offenbarung keine wörtliche Stützung, die das zur Änderung des Anspruchs herangezogene Merkmal ergänzt, kann dies unvermeidbar zu einer unzulässigen Zwischenverallgemeinerung führen. Dies kann insbesondere dann vorkommen, wenn in den Kontext einer schematischen Zeichnung ein Merkmal einer speziellen und detaillierten Ausführungsform aufgenommen wird.
In T 398/92 enthielten die Patentansprüche in der geänderten Fassung Merkmale, die zwar im Textteil der ursprünglichen Anmeldung nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch ihren Abbildungen entnommen worden waren. Die fraglichen Zeichnungen veranschaulichten Kurven in einem kartesischen Koordinatensystem mit genau definierter Skalierung. Diese Kurven waren daher nicht mit der schematisierten Darstellung einer Erfindung vergleichbar, die grafisch wiedergegeben wurde. Die Kammer erkannte an, dass die Punkte dieser Kurven keine rein intellektuellen grafischen Gebilde waren, sondern tatsächlichen Versuchswerten entsprachen. Auch wenn die Prozentangaben über den freigesetzten Wirkstoff nicht ausdrücklich im ursprünglichen Dokument erwähnt seien, hätte sie die Fachperson dank der Skalierung auf der Ordinatenachse klar und eindeutig ableiten können, da die Präzision der Zeichnungen ein genaues Ablesen der Ordinatenwerte und damit ein Ableiten derselben numerischen Merkmale ermögliche, wie sie in die Ansprüche aufgenommen worden seien. Demnach verstoße es nicht gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973, die den Kurven entnommenen numerischen Merkmale in den Text der Ansprüche einzufügen (über die Kurvendarstellung einer mathematischen Gleichung s. T 145/87).
In T 1544/08 befand die Kammer, dass der technische Inhalt der ursprünglichen Farbzeichnungen zu bestimmen ist, wenn am Anmeldetag ursprünglich farbige Zeichnungen eingereicht worden sind und der Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung ermittelt werden muss, um festzustellen, ob Änderungen Art. 123 (2) EPÜ genügen.