2.4. Überraschende Gründe
2.4.2 Bedeutung von "Gründe"
Unter "Gründe" sind nach Art. 113 (1) EPÜ diejenigen wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe zu verstehen, auf die sich die Entscheidung stützt (R 16/13, R 5/22, T 532/91, T 105/93, T 187/95, T 1154/04, T 305/14). In T 951/92 (ABl. 1996, 53) hat die Kammer entschieden, dass mit "Gründe" nicht der Begriff im engeren Sinne zu verstehen ist. Die Kammer war der Ansicht, dass der Begriff "Gründe" nicht einfach im engen Sinne einer zu erfüllenden Voraussetzung nach dem EPÜ zu verstehen ist, sondern dass er Bezug nimmt auf die sich auf die Tatsachen und die rechtlichen Gründe stützenden Überlegungen, die zur Ablehnung des Antrags geführt haben (s. auch T 1423/15 und T 2276/22).
In T 556/15 wurde die angefochtene Entscheidung der Prüfungsabteilung ausschließlich mit einem Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ begründet. Die Beschwerdekammer verglich die nach Art. 123 (2) EPÜ in den beiden Mitteilungen der Prüfungsabteilung erhobenen Einwände mit der Entscheidungsbegründung. Der Beschwerdeführer hatte keine Möglichkeit, zu den Entscheidungsgründen Stellung zu nehmen. Der Kammer zufolge sollte der Begriff "Gründe" in Art. 113 (1) EPÜ nicht eng ausgelegt werden, sondern im Sinne von T 951/92 (s. auch T 233/18). Der vorliegende Fall unterschied sich jedoch von der Sache T 951/92 insofern, als in T 556/15 die Mitteilungen der Prüfungsabteilung zwar detaillierte Einwände nach Art. 123 (2) EPÜ enthielten, diese Einwände aber keines der Elemente betrafen, auf die sich die Entscheidung abschließend stützte. Der Beschwerdeführer erfuhr somit erst mit Erhalt der Entscheidung von den Merkmalen der strittigen Ansprüche, die gegen Art. 123 (2) EPÜ verstießen, obwohl er vor der Entscheidung mehrmals die Gelegenheit hatte, seine Ansprüche zu ändern.
In T 375/00 war der Beschwerdeführer (Einsprechende) der Auffassung, die von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung genannte technische Aufgabe weiche von der in der vorangegangenen Verhandlung erörterten ab. Die Kammer stellte fest, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden sei, da die Definition der objektiven Aufgabe zu den Argumenten und nicht zu den Gründen im Sinne von Art. 113 (1) EPÜ gehöre.
In T 33/93 stellte die Kammer fest, dass die erstmalige Bezugnahme auf eine Kammerentscheidung in der angefochtenen Entscheidung kein neuer Grund und kein neues Beweismittel im Sinne von Art. 113 (1) EPÜ, sondern lediglich eine Wiederholung von Argumenten sei, da damit nur die dem Beschwerdeführer ordnungsgemäß zur Kenntnis gebrachte Auffassung bestätigt werde.
In T 1634/10 hatte die Prüfungsabteilung eine mit Gründen versehene Mitteilung erlassen, in der sie ihre Einwände angesichts von zwei Dokumenten aus dem Stand der Technik darlegte. Die Kammer urteilte, dass die bloße Tatsache, dass die Prüfungsabteilung dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gefolgt war, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstelle.
In T 2238/11 argumentierte der Beschwerdeführer, die Prüfungsabteilung habe in der angefochtenen Entscheidung unter "Sonstige Bemerkungen" den beanspruchten Gegenstand überraschenderweise für nicht neu befunden. Er brachte vor, dass er in dieser Frage nicht gehört worden sei. Die Anfechtung der Entscheidung war aber auf mangelnde erfinderische Tätigkeit gestützt, nicht auf mangelnde Neuheit. Die Kammer befand, dass der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör nicht verletzt ist, wenn der Beteiligte keine Gelegenheit hatte, sich zu Bemerkungen in einem obiter dictum zu äußern (T 725/05 und T 726/10). Die Rubrik "Sonstige Bemerkungen" in der angefochtenen Entscheidung bildete keinen Teil der eigentlichen Entscheidung. Siehe auch R 5/22. Die Kammer in T 1019/22 stellte fest, dass die Erfordernisse des Art. 113 (1) EPÜ jedoch dann nicht erfüllt sind, wenn die Entscheidung nachträglich auf einen in einem obiter dictum enthaltenen "weggelassenen" Grund gestützt wird. Im vorliegenden Fall umfasste das obiter dictum eine Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf der Grundlage von D11. Es war für die Kammer offensichtlich, dass die Verwendung eines obiter dictum nicht angemessen war, zumindest deshalb, weil es einen Teil der Feststellung enthielt, auf der die Entscheidung beruhte. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass es nicht möglich war, nachzuweisen, dass D11 als nächstliegender Stand der Technik nicht Teil des Einspruchsverfahrens gewesen war. Die Erörterung des Dokuments D11 als nächstliegender Stand der Technik im Einspruchsverfahren schien jedoch nicht vollständig gewesen zu sein, und die Kammer konnte sich nicht vergewissern, dass beide Parteien zu dieser Frage in der Sache gehört worden waren.
- R 0011/23
In R 11/23 the petition was based on Art. 112a(2)(c) EPC, i.e. the fundamental violation of Art. 113(1) EPC. It was alleged that the clarity objection against auxiliary request 8, which had led to the board's finding that said request had been unallowable, had never been discussed, neither in the written nor in the oral proceedings, but had been brought forward only in the board's written decision..
Specifically, the petitioner argued that there had been two distinct clarity objections against claim 1 of auxiliary request 8: the alleged lack of clarity regarding what "maintaining currents in an allowable range" meant (the "allowable current range objection") and the alleged lack of information on which components were to be protected by the protective circuit (the "unspecified components objection"). The petitioner acknowledged that it had been heard in the context of the "allowable current range objection" but it asserted that it had been confronted with the "unspecified components objection" only when reading the written decision.
The Enlarged Board held that it did not see any clear indication that the "unspecified components objection" had been raised implicitly, for example as an aspect of an overarching clarity objection..
The Enlarged Board agreed with the petitioner in that it was not sufficient for a relevant specific aspect such as the "unspecified components" to be covered or encompassed by a broader clarity objection that had been discussed if the parties had not been aware of the specific aspect during the discussion. In this context, opponent 2 had referred to paragraph [0018] of the patent which had been mentioned in point 7.4 of the decision under review. The Enlarged Board could not see that such a reference implied that the "unspecified components objection" had been discussed. Furthermore, it did not regard the wording of point 7.5 of said decision as evidence that the "unspecified components objection" had been discussed, because it was not clear whether the phrase "as the appellants and the infringer [sic] correctly argue" was linked to the "unspecified components objection".
According to the Enlarged Board, since it had no power or ability to investigate further whether other facts or indications might suggest that the petitioner could be aware that the board had had doubts about the specific aspect of clarity (namely, the "unspecified component" issue), it had to rely on the parties' submissions in this respect. In the absence of any such indication, it was not for the party alleging a breach of its right to be heard to prove that there had been no such facts or indications (see R 15/11). Any doubts remaining on whether a decision under review was based upon facts and considerations on which the parties had had an opportunity to comment must be solved to the affected party's benefit (see R 2/14).
For these reasons, the Enlarged Board concluded that the "unspecified components objection" had not been discussed during appeal proceedings and its use in the written decision had therefore come as a surprise to the petitioner.
As in the appeal case underlying R 2/14, a broader objection had been discussed during appeal proceedings in the present case but not the specific aspect encompassed by the broader objection that turned out to be decisive for the case. In such cases, the "grounds" as referred to in Art. 113(1) EPC may have a more specific meaning than a broader objection like "lack of clarity" or "insufficiency of disclosure". In the present case, it was irrelevant that the broader clarity objection had been discussed. The critical aspect, namely the question of which components needed to be protected, had not been discussed during the appeal proceedings and the board's conclusion on this aspect had come as a surprise to the petitioner.
The "unspecified components objection" which had not been discussed during the appeal proceedings eventually was the reason for the board's finding that the patent was invalid. The Enlarged Board concluded that a fundamental violation of Art. 113(1) EPC had occurred. The decision under review was thus set aside and the proceedings before a board reopened..
On the latter, the Enlarged Board, referring to Art. 112a(5) and R. 108(3) EPC, explained that the board responsible for the reopened proceedings was not automatically the board which had issued the decision underlying the review proceedings. Rather, the allocation of the reopened proceedings had to be determined in accordance with the business distribution scheme as applicable when the proceedings were reopened.