2.4. Überraschende Gründe
2.4.3 Möglichkeit, sich zu Beweismitteln zu äußern
In J 20/85 (ABl. 1987, 102) wurde darauf hingewiesen, dass eine Tatfrage vom EPA erst dann entschieden werden darf, wenn alle Beweismittel, auf die sich die Entscheidung stützt, genannt und dem betreffenden Beteiligten mitgeteilt worden sind. In T 820/10 hatte die Prüfungsabteilung die Anmeldung wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber Dokumenten zurückgewiesen, die in der angefochtenen Entscheidung selbst zum ersten Mal angeführt waren. Die Kammer befand, dass der Entscheidung somit Beweismittel zugrunde lagen, zu denen sich der Anmelder nicht äußern konnte. In J 3/90 (ABl. 1991, 550) vertrat die Juristische Beschwerdekammer ferner die Auffassung, dass das EPA gegen Art. 113 (1) EPÜ verstoße, wenn es bei Ermittlung des Sachverhalts die Beteiligten nicht ausführlich über die angestellten Ermittlungen und ihre Ergebnisse unterrichte und ihnen nicht anschließend – vor Ergehen der Entscheidung – ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gebe (s. auch J 16/04).
In T 1677/21 war die Kammer der Auffassung, dass der Argumentation der Einspruchsabteilung nur dann gefolgt werden könne, wenn die Tabelle auf Seite 8 von D7 auch tatsächlich berücksichtigt werde. Diese Tabelle lag jedoch nicht in englischer Sprache vor und wurde in der mündlichen Verhandlung erstmalig erwähnt. Die Kammer stellte fest, dass die Entscheidung somit auf Tatsachen und Beweismitteln beruhte, zu denen sich der Patentinhaber nicht äußern konnte; vom Patentinhaber konnte nicht erwartet werden, dass er sich vor der mündlichen Verhandlung äußert, und die relevanten Tatsachen waren nicht in einer Amtssprache des EPA vorgelegt worden. Dies stellte eine Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör dar (s. auch Kapitel III.I.8 "Einspruchsverfahren").
In T 1401/16 hatte die Prüfungsabteilung ihre Schlussfolgerungen zu kritischen Fragen zumindest teilweise auf zwei in der Entscheidung angeführte Wikipedia-Einträge gestützt. Allerdings war im Prüfungsverfahren nie auf diese Beweismittel Bezug genommen worden, und beide Einträge wurden zum allerersten Mal in der angefochtenen Entscheidung erwähnt. Folglich hatte der Beschwerdeführer keine Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. Dies stellt einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ dar.
S. auch Kapitel III.G.3.3. "Rechtliches Gehör".