8.10. Niederschrift der mündlichen Verhandlung (Regel 124 EPÜ)
8.10.3 Berichtigung der Niederschrift
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist von den Parteien und deren Vertretern zu erwarten, dass der Inhalt einer Niederschrift, insbesondere dessen Vollständigkeit und Korrektheit, direkt nach dem Erhalt sorgfältig geprüft wird und ggf. zeitnah bemängelt wird, weil er die einzige Möglichkeit darstellt, nachzuvollziehen, was sich während der mündlichen Verhandlung vor der ersten Instanz tatsächlich ereignet hat (T 1679/17). Ist ein Beteiligter der Ansicht, die Niederschrift sei unvollständig oder falsch, weil wesentlichen Anträgen in der Akte überhaupt nicht Rechnung getragen sei, so kann er bei der Einspruchsabteilung beantragen, zur Wahrung seiner Rechte die Niederschrift zu berichtigen (T 642/97, T 231/99, T 898/99, T 68/02, T 99/08). Das Gleiche gilt in Verfahren vor der Prüfungsabteilung (T 937/07, T 2434/09). Zum Verfahren vor den Beschwerdekammern s. T 1934/14 vom 8. Oktober 2018 date: 2018-10-08, T 888/17.
In T 162/09 wies die Kammer darauf hin, dass von den Parteien und deren Vertretern erwartet werden kann, dass der Inhalt eines Protokolls, insbesondere dessen Vollständigkeit, direkt nach dem Erhalt sorgfältig geprüft wird und zeitnah bemängelt wird, da das Protokoll die einzige Möglichkeit darstellt, nachzuvollziehen, was sich während der mündlichen Verhandlung ereignet hat. Siehe auch R 6/14.
In T 1891/20 vom 16. Mai 2022 date: 2022-05-16 erinnerte die Kammer daran, dass ein Antrag auf Berichtigung der Niederschrift unverzüglich nach deren Erhalt durch die Parteien gestellt werden muss (s. R 6/14). Die Kammer verstand dies so, dass eine Partei unmittelbar handeln, d. h. in der kürzest möglichen Zeit nach dem Erhalt der Niederschrift einen Antrag auf Berichtigung stellen muss. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Mitglieder des Entscheidungsorgans und gegebenenfalls die andere(n) Partei(en) den relevanten Sachverhalt und das Vorbringen noch frisch im Gedächtnis haben (s. auch R 2/23). Der Inhalt der schriftlichen Entscheidung im Anschluss an die mündliche Verhandlung ist unerheblich dafür, ob die Niederschrift der mündlichen Verhandlung fehlerhaft oder unvollständig ist. Der Beschwerdegegner irrte daher, als er behauptete, es sei "obligatorisch", die schriftliche Entscheidung abzuwarten, bevor ein Antrag auf Berichtigung der Niederschrift gestellt werden könne. Ein solches Verhalten ist unvereinbar mit der Verpflichtung einer Partei, die Berichtigung der Niederschrift so schnell wie möglich nach deren Erhalt zu beantragen.
In T 690/09 hatte der Beschwerdeführer die Richtigkeit der Niederschrift nicht hinterfragt; die Kammer folgerte, dass die Richtigkeit der Niederschrift formal nicht in Zweifel stand und sie daher davon ausgehen musste, dass die Niederschrift die mündliche Verhandlung korrekt wiedergab. Siehe auch T 162/09, T 1138/12, T 1227/14, T 320/15.
In T 1005/08 stellte die Kammer fest, dass nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern grundsätzlich die Stelle, vor welcher die mündliche Verhandlung abgehalten wurde, für die Berichtigung der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zuständig ist (s. auch T 2150/15). Sofern eine Partei meint, die Verhandlungsniederschrift sei unvollständig oder fehlerhaft, da diese wesentliche Ausführungen nicht oder fälschlicherweise enthalte, obliegt es ihr, zur Wahrung ihrer Rechte bei dem zuständigen Organ eine entsprechende Protokollberichtigung zu beantragen (T 1481/19).
In T 231/99 wurde befunden, die Kammer erwerbe mit der Zuständigkeit für die Entscheidung über die Rechtsbeständigkeit des Patents keine Zuständigkeit, über die Richtigkeit der Niederschrift in der ersten Instanz zu entscheiden (s. auch T 1198/97, T 162/09, T 2150/15). In T 508/08 stellte die Kammer fest, dass sie nichts tun könne, wenn die erste Instanz (hier: die Einspruchsabteilung) ihre Verpflichtung (auf einen Antrag auf Berichtigung der Niederschrift zu reagieren) missachte. Die Kammer sei nicht befugt, die Einspruchsabteilung zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen (s. auch T 803/12, T 2150/15).
In T 212/97 wurde ausgeführt, dass nur Entscheidungen mit der Beschwerde anfechtbar seien. Da die Niederschrift über die mündliche Verhandlung keine Entscheidung und auch kein Bestandteil der Entscheidung sei, könne sie von der Beschwerdekammer nicht "annulliert" werden (s. auch T 838/92, T 68/02). Ein Verfahrensfehler könnte dann vorliegen, wenn das Ermessen, was "wesentlich" bzw. "rechtserheblich" sei, vom Protokollführer überschritten werde, z. B. wenn eindeutige Verzichtserklärungen einer Partei nicht in die Niederschrift aufgenommen werden.
Unter Verweis auf R 7/17, T 212/97, T 642/97, T 468/99 und T 1891/20 erinnerte die Kammer in T 1482/21 daran, dass es im Ermessen des Protokollführers liegt, was er nach R. 124 (1) EPÜ als "wesentlich" oder "rechtserheblich" erachtet. Die Kammer fügte hinzu, dass sie – und nicht die Parteien – entscheidet, was in die Niederschrift aufgenommen werden muss (T 468/99, T 1721/07), und dass eine Zusammenfassung der während der mündlichen Verhandlung von Parteien vorgetragenen Argumente normalerweise nicht in die Niederschrift aufgenommen wird (T 263/05, T 1721/07). Es war daher weder unvollständig noch falsch, in der Niederschrift festzuhalten, dass die Kammer nach der Erörterung der nötigen Anpassungen "den Parteien ihre Schlussfolgerung zu den erforderlichen Anpassungen mitteilte".
In T 1063/02 war die Kammer der Auffassung, dass sie keine Berichtigung der Niederschrift einer mündlichen Verhandlung der Einspruchsabteilung anordnen könne, es sei denn, die Niederschrift stünde in eindeutigem und offenkundigem Widerspruch zum tatsächlichen Ablauf des Verfahrens.
In T 740/00 teilte der Beschwerdeführer der Einspruchsabteilung mit, dass die Niederschrift nach seiner Meinung nicht den tatsächlichen Verlauf der Verhandlung wiedergebe. Statt zu prüfen, ob die Niederschrift tatsächlich die Erfordernisse der R. 76 (1) EPÜ 1973 erfüllt, und dann über eine Berichtigung zu entscheiden, brachte die Einspruchsabteilung im Wesentlichen vor, dass die Niederschrift korrekt sei, weil dies in der Niederschrift so gesagt werde. Nach Auffassung der Kammer dreht sich eine solche Begründung im Kreis und erfüllt damit nicht die Erfordernisse der R. 68 (2) EPÜ 1973, wonach die Entscheidungen des Europäischen Patentamts zu begründen sind. Dies stelle einen Verfahrensmangel dar (s. auch T 819/96).
In T 4/00 führte die Kammer aus, dass eine Berichtigungsentscheidung nicht vom Formalsachbearbeiter getroffen werden kann, weil dies den Erfordernissen von R. 76 (3) EPÜ 1973 (R. 124 (3) EPÜ) widerspricht, wonach eindeutig nur die Mitglieder der Einspruchsabteilung für die Niederschrift zuständig sind.
In T 1721/07 wurde der Antrag abgelehnt, das Protokoll über die mündliche Verhandlung mit einer Zusammenfassung zu ergänzen, die der Beschwerdeführer über die verschiedenen Argumente der Parteien und die Schlussfolgerungen der Kammer erstellt hatte. Die Kammer führte aus, dass die Erstellung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung der Kammer obliegt. Diese Aufgabe kann nicht ganz oder teilweise den Parteien oder gar nur einer der Parteien übertragen oder überlassen werden (s. auch T 433/11).
In T 980/19 vom 27. April 2022 date: 2022-04-27 wies die Kammer den Antrag des Einsprechenden 9 auf Berichtigung der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zurück. Die Kammer war nicht der Ansicht, dass die vom Einsprechenden vorgeschlagenen Texte wesentliche Elemente der mündlichen Verhandlung enthielten, die in der Niederschrift erwähnt werden müssten. Der Kammer zufolge war außerdem ein Satz in einem der vorgeschlagenen Texte irreführend. Zudem gab ein anderer vorgeschlagener Text nicht einmal richtig wider, was in der mündlichen Verhandlung gesagt worden war. Was eine weitere beantragte Berichtigung anbelangt, so war laut den detaillierten Aufzeichnungen der Kammer und ihrer Erinnerung an die Ereignisse in der mündlichen Verhandlung die angeblich falsche Aussage richtig.
Unter Verweis auf T 263/05 erinnerte die Kammer in T 262/17 vom 30. August 2022 date: 2022-08-30 daran, dass in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer die Anträge der Beteiligten aufzuführen sind, über die die Beschwerdekammer zu entscheiden hat. Die Kammer stellte fest, dass keine der beiden beantragten Berichtigungen die Einreichung oder Rücknahme eines Antrags oder den Verzicht auf einen Gegenstand oder dessen Aufgabe betraf. Außerdem gaben einige Passagen der beantragten Berichtigungen den Verlauf der mündlichen Verhandlung nicht korrekt wider (s. auch T 450/20 und T 1494/21). Der Antrag des Patentinhabers auf Berichtigung der Niederschrift der mündlichen Verhandlung war daher zurückzuweisen.