1.3. Fristverlängerungen von Rechts wegen bei Feiertagen oder Störungen bei der Postzustellung (Regel 134 EPÜ)
1.3.2 Allgemeine Störung oder Unterbrechung der Zustellung oder Übermittlung der Post in einem Vertragsstaat (Regel 134 (2) EPÜ)
Regel 134 (2) EPÜ sieht eine Fristverlängerung vor, wenn die Frist an einem Tag abläuft, an dem die Zustellung oder Übermittlung der Post in einem Vertragsstaat oder in dem Vertragsstaat, wo das EPA seinen Sitz hat, allgemein gestört ist. Die Dauer der Störung der Postzustellung oder -übermittlung wird vom EPA bekannt gemacht. Bei der Überarbeitung von R. 85 (2) EPÜ 1973 wurde der Begriff der "allgemeinen Unterbrechung" gestrichen. Ausweislich der vorbereitenden Dokumente erfasst aber der beibehaltene Begriff der "Störung" auch Unterbrechungen (CA/PL 17/06, S. 356). Im Folgenden werden auch die Entscheidungen, die den Begriff der "allgemeinen Unterbrechung" auslegen nach wie vor wiedergegeben, da sie eine Hilfestellung für die Auslegung der "allgemeinen Störung" in R. 134 (2) EPÜ darstellen könnten.
In T 1640/22 stellte die Kammer klar, dass der Begriff "Beteiligte" in R. 134 (2) EPÜ nicht nur Personen einschließt, die bereits an einem anhängigen Verfahren beteiligt sind, sondern auch Personen, die am Verfahren teilzunehmen beabsichtigen, wie z. B. potenzielle Einsprechende. Eine solche (breite) Auslegung steht in Einklang mit dem Zweck der R. 134 (2) EPÜ, der darin besteht, Abhilfe in Ausnahmefällen zu gewähren, in denen die Nutzer des EPA-Systems aufgrund einer allgemeinen Störung ihre Schriftsätze nicht rechtzeitig einreichen können. Diese Feststellung entspricht auch T 702/89, der zufolge R. 85 (2) EPÜ 1973 (die Vorläuferregelung von R. 134 (2) EPÜ) auch auf die Frist nach Art. 99 (1) EPÜ für die Einlegung des Einspruchs anzuwenden ist.
In J 10/20 hielt die Juristische Beschwerdekammer fest, dass R. 134 (2) EPÜ nicht zwischen gesetzlichen Fristen und von einer erstinstanzlichen Abteilung oder einer Beschwerdekammer festgelegten Fristen unterscheidet. Ihr Anwendungsbereich ist daher nicht auf die einen oder die anderen begrenzt. So kann auch die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung nach dieser Vorschrift verlängert werden. Sind die Erfordernisse der R. 134 (2) EPÜ erfüllt, so wird jede Frist, die während der Dauer einer Unterbrechung oder Störung abläuft, von Rechts wegen verlängert (in Bezug auf R. 85 EPÜ 1973 s. J 11/88). Die Mitteilungen des Europäischen Patentamts über Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 (s. z. B. die Mitteilung vom 1. Mai 2020, ABl. 2020, A60) beziehen sich auf "die durch den Ausbruch von COVID-19 bedingten Störungen". R. 134 (2) EPÜ bezieht sich aber nicht auf eine allgemeine Störung als solche, sondern darauf, dass "die Zustellung oder Übermittlung der Post … allgemein gestört war". Die Mitteilungen des EPA gingen nicht darauf ein, ob die Zustellung oder Übermittlung der Post in Deutschland allgemein gestört war. Es ist daher wahrscheinlich, dass diesen Mitteilungen eine Anwendung der R. 134 (2) EPÜ per Analogie zugrunde gelegt wurde. Von Nutzern und Vertretern konnte nicht erwartet werden, dass sie ohne erkennbaren Grund Erklärungen zur Verlängerung von Fristen infrage stellten, die in Veröffentlichungen gemäß R. 134 (4) EPÜ bekannt gemacht wurden. Selbst wenn die Zustellung oder Übermittlung der Post nicht allgemein gestört war, konnten die Nutzer auf derartige Bekanntmachungen vertrauen, ohne dadurch Nachteile zu erleiden.
In T 1338/20 war die angefochtene Entscheidung am 28. Januar 2020 zugestellt worden. Unter normalen Umständen wäre die Zweimonatsfrist nach Art. 108 Satz 1 EPÜ für die Einlegung der Beschwerde also am 7. April 2020 abgelaufen (R. 126 (2) EPÜ in der vom 1. April 2015 bis 31. Oktober 2023 geltenden Fassung). Allerdings griffen in diesem Fall die Mitteilungen des EPA vom 16. April 2020 und vom 1. Mai 2020 über Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 (ABl. 2020, A43 und A60). Darin hatte das EPA mitgeteilt, dass Fristen, die am oder nach dem 15. März 2020 ablaufen, für alle Beteiligten und ihre Vertreter gemäß R. 134 (2) EPÜ bis zum 4. Mai 2020 bzw. dann bis zum 2. Juni 2020 verlängert würden. Die Kammer erklärte, dass sich die Beteiligten, selbst wenn die Zustellung oder Übermittlung der Post nicht im Sinne der R. 134 (2) EPÜ allgemein gestört war, gemäß J 10/20 auf diese Mitteilungen des EPA verlassendurften , ohne dass ihnen Nachteile entstünden.
In J 4/23 erklärte die Juristische Beschwerdekammer, dass sich die Begründung von J 10/20 darauf stütze, dass von Nutzern und Vertretern nicht erwartet werden könne, dass sie ohne erkennbaren Grund Erklärungen zur Verlängerung von Fristen infrage stellten, die in Veröffentlichungen nach R. 134 (4) EPÜ bekannt gemacht worden waren. Ebenso wenig könne von ihnen erwartet werden, dass sie eigene Nachforschungen anstellten, ob und in welchem genauen Zeitraum eine Störung in einem der Vertragsstaaten aufgetreten sei, der unter Umständen noch nicht einmal ihr eigener ist. Die Erklärungen bestätigten, dass es entscheidend ist, ob von den Nutzern erwartet werden darf, die ihnen gegebenen Informationen infrage zu stellen und, falls ja, ob sie dann zu einem anderen Schluss gekommen wären als dem in den Informationen des EPA.
In T 1678/17 nahm der Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurück und beantragte eine teilweise Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Dies geschah zwar nicht innerhalb eines Monats ab Zustellung der von der Kammer erlassenen Mitteilung, doch im Hinblick auf die Mitteilung des Europäischen Patentamts vom 1. Mai 2020 über Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 (ABl. 2020, A60) und auf R. 134 (2) und (4) EPÜ hielt die Kammer die in R. 103 (4) c) EPÜ festgelegten Voraussetzungen für eine 25%ige Rückzahlung der Beschwerdegebühr für erfüllt.
In J 11/88 (ABl. 1989, 433) stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass sich jede Frist des EPÜ 1973, die innerhalb des Unterbrechungs- oder Störungszeitraums ablaufe, von Rechts wegen verlängere. Wenn also der Präsident des EPA keine Verlautbarung über die Dauer dieses Zeitraums bekannt gebe, weil ihm die erforderlichen Informationen nicht rechtzeitig vorgelegen hätten, so berühre dies nicht die Rechte der durch die Unterbrechung oder Störung beschwerten Personen. Die Frage, ob eine Unterbrechung als "allgemeine Unterbrechung" gilt, sei eine Tatfrage, die anhand aller verfügbaren, glaubwürdigen Informationen geklärt werden müsse; im Zweifelsfall sollte das EPA gemäß Art. 114 (1) EPÜ 1973 den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln.
In J 4/87 (ABl. 1988, 172) hat die Juristische Beschwerdekammer bestätigt, dass im Falle einer unvorhergesehenen Verzögerung bei der Postzustellung, die eine Fristversäumung zur Folge hat, das EPA nicht zu einer Fristverlängerung befugt ist, wenn diese nicht unter R. 85 (2) EPÜ 1973 fällt.
In J 3/90 (ABl. 1991, 550) legte die Juristische Beschwerdekammer den Begriff der allgemeinen Unterbrechung aus. Sie führte aus, dass R. 85 (2) EPÜ 1973 nicht nur bei einer Unterbrechung anwendbar sei, die das gesamte Staatsgebiet betreffe. Im vorliegenden Fall entschied die Juristische Beschwerdekammer, dass eine Unterbrechung durch ihre begrenzte geografische Ausdehnung ihren allgemeinen Charakter nicht verliere. Ob ein Vertreter den Auswirkungen eines Streiks hätte ausweichen können, sei aber für die Anwendung von R. 85 (2) EPÜ 1973 kein Kriterium.
Auch in J 1/93 bestätigte die Juristische Beschwerdekammer, dass gemäß R. 85 (2) EPÜ 1973 ein maßgebliches Kriterium für eine allgemeine Unterbrechung der Postzustellung darin bestehe, dass die breite Öffentlichkeit in einem Gebiet, das eine gewisse Bedeutung habe, auch wenn seine geografische Ausdehnung begrenzt sei, betroffen gewesen sein müsse. Der Verlust eines einzelnen Postsacks treffe zwar möglicherweise eine Reihe einzelner Empfänger, nicht aber die breite Öffentlichkeit.
In J 14/03 bestätigte die Juristische Beschwerdekammer, dass vom Beschwerdeführer vorgelegtes Beweismaterial für eine Unterbrechung der Postzustellung im Sinne von R. 85 (2) EPÜ 1973 im Einzelfall, wie in J 11/88, zu einer rückwirkenden Fristverlängerung führen könne, wenn es, wäre es zum fraglichen Zeitpunkt bekannt gewesen, eine Mitteilung des Präsidenten des EPA nach R. 85 (2) EPÜ 1973 gerechtfertigt hätte. Im Gegensatz zur Beweiskraft der Nachweise in J 11/88 waren die Beweismittel im vorliegenden Fall aber nicht stichhaltig.