4. Unterbrechung des Verfahrens (Regel 142 EPÜ)
4.3. Begriff der fehlenden Geschäftsfähigkeit (Regel 142 (1) a) und c) EPÜ)
Das EPÜ enthält keine Definition des Begriffs der fehlenden Geschäftsfähigkeit; diese wird unterschiedlich beurteilt, je nachdem, ob es sich um den Anmelder bzw. Patentinhaber oder um einen Patentvertreter handelt: In J 900/85 (ABl. 1985, 159) und J 903/87 (ABl. 1988, 177) vertrat die Juristische Beschwerdekammer die Auffassung, dass die Fähigkeit des Anmelders oder Patentinhabers, Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit seiner Anmeldung oder seinem Patent vorzunehmen, anhand der nationalen Rechtsordnung festgestellt werden müsse, da sein Interesse an der Anmeldung bzw. an dem Patent vermögensrechtlicher Art sei (s. Art. 74 EPÜ und Art. 2 (2) EPÜ; s. auch J 49/92). In J 900/85 (ABl. 1985, 159) wird hingegen davon ausgegangen, dass es zur Feststellung der Geschäftsunfähigkeit von Patentvertretern eine einheitliche Norm geben müsse, um eine nach Staatsangehörigkeit oder Sitz des Vertreters unterschiedliche Anwendung der R. 90 (1) c) EPÜ 1973 (R. 142 (1) c) EPÜ) zu vermeiden.
Wie die Juristische Beschwerdekammer in J 2/22 erläuterte, bedeutet Verlust der Geschäftsfähigkeit, dass eine Person unter einer Störung der Geistestätigkeit leidet, die eine freie Willensbestimmung ausschließt, wie sie für die Vornahme von diese Person bindenden Rechtshandlungen erforderlich wäre. Im Kontext des EPÜ-Verfahrenssystems, das nicht zwischen zivilrechtlicher und verfahrensrechtlicher Geschäftsfähigkeit unterscheidet, bedeutet dies auch, dass die Person in Verfahren vor dem EPA nicht selbst handeln kann. Nach einer eingehenden Analyse der Rechtsprechung zur Frage der Geschäftsfähigkeit kam die Juristische Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass das EPA innerhalb des durch das EPA geschaffenen Rechtssystems einen Maßstab setzen und anwenden muss. Sie verwies auf G 1/22 und G 2/22, in denen – wenn auch in unterschiedlichen Kontexten – der allgemeine Ansatz bekräftigt wurde, das autonome Recht des EPÜ, das durch das nationale Recht der EPÜ-Vertragsstaaten inspiriert ist und durch dieses ergänzt wird, so anzuwenden ist, dass sich für alle Beteiligten an Verfahren vor dem EPA einheitliche Maßstäbe ergeben. Insbesondere erklärte die Juristische Beschwerdekammer, dass die Maßstäbe für die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit natürlicher Personen dieselben sein sollten wie für zugelassene Vertreter, denn nur einheitliche Maßstäbe nach dem autonomen Recht des EPÜ können die Gleichbehandlung aller Beteiligten garantieren, was eine wichtige Voraussetzung für ein faires Verfahren ist.