4.2.3 Tests und Versuche
In T 702/99 machte die Kammer ausführliche Bemerkungen zur Beweiskraft von Versuchen als Beweismittel. Sie hielt es für wesentlich, dass Vergleichstests, die von einer Reihe von Personen als Beweis für oder gegen Eigenschaften wie das verbesserte "Anfühlen" eines Produkts (z. B. Kosmetikum) durchgeführt würden, unter Bedingungen stattfänden, die eine maximale Objektivität der Personen gewährleisten, die die Tests durchführen. Verfahrensbeteiligte sollten bei der Vorbereitung solcher Versuche als Beweismittel die gleichen Standards anwenden wie bei der Vorbereitung von Versuchsdaten. Obwohl dem Einsatz unabhängiger Personen natürlich mehr Gewicht beigemessen werden könnte, kann gegen den Einsatz von Angestellten nicht per se etwas eingewendet werden, solange die Testbedingungen so gestaltet seien, dass die Angestellten nicht durch die vorherige Kenntnis des getesteten Produkts oder die Erwartungen ihres Arbeitgebers in Bezug auf die Ergebnisse des Tests beeinflusst seien. Die Darlegung von testbezogenen Beweisen muss auch genau sein, wobei das Format der Darlegung zweitrangig ist; ein sorgfältig vorbereiteter Bericht und/oder eine sorgfältig vorbereitete Tabelle können ebenso viele Informationen vermitteln wie eine große Zahl von Feststellungen der Tester.
In T 275/11 betraf die Erfindung einen Stoff zum Bleichen/Strähnen von Haaren. Zum Nachweis, dass die Aufgabe erfolgreich gelöst wurde, verwies der Beschwerdeführer (Patentinhaber) auf zwei Vergleichsbeispiele. Die Kammer führte T 702/99 an und verwies darauf, dass die Tests unter den Bedingungen einer Blindstudie durchgeführt worden waren, um jeden Verdacht der Befangenheit zu vermeiden. Die Kammer erklärte, dass keine Angaben zu den Versuchsbedingungen vorgelegt wurden, sodass die vom Beschwerdeführer genannten Wirkungen nicht berücksichtigt werden konnten.
In T 103/15 betreffend Versuchsberichte (rapports d'essai), die vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) vorgelegt worden waren, erklärte die Kammer unter Berufung auf T 702/99, dass im Zusammenhang mit der Beweiskraft von Versuchen als Beweismittel nicht nur die Angabe der Bedingungen wichtig ist, unter denen die Versuche durchgeführt wurden, sondern auch die Angabe der Namen und der Arbeitgeber der Personen, die die Versuche durchgeführt haben, damit erforderlichenfalls deren Beziehung zum Verfahrensbeteiligten bestimmt werden kann. Das gilt auch, wenn der Einsprechende als Strohmann für ein Unternehmen handelt, weil in diesem Fall die Beziehung zwischen dem Unternehmen und den die Versuche durchführenden Personen möglicherweise die Entscheidung über die Beweiskraft der vom Strohmann vorgelegten Versuchsergebnisse beeinflusst. Mit den Versuchen hätte ein neutrales Institut beauftragt werden können. Dem Beschwerdeführer war in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben worden, die betreffenden Angaben zu den Verfassern des Versuchsberichts D9 zu liefern, die er jedoch nicht ergriff (s. Niederschrift). Somit trafen die Gründe für die Nichtberücksichtigung von D9 im Einspruchsverfahren auch im Beschwerdeverfahren noch zu. In Anbetracht seiner begrenzten Beweiskraft ließ die Kammer den Versuchsbericht bei ihrer Überprüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung außer Acht.
In T 301/94 erklärte die Kammer zum Thema Neuheit, dass – wie die vom Einsprechenden (Saint-Gobain Emballage) vorgelegten Analysen zeigten – die Ergebnisse von zwei Laboren (nämlich des Institut National du Verre in Belgien und von Saint-Gobain Recherche) für die Zusammensetzungen und die optischen Eigenschaften der Glasflaschen allesamt in die in Anspruch 1 des Streitpatents definierten Bereiche fielen und die Ergebnisse der Analysen soweit übereinstimmten, dass sie als zuverlässig gelten konnten.
Im Fall T 1863/21 behauptete der Beschwerdeführer (Einsprechende) betreffend einen Einwand gemäß Art. 100 b) EPÜ (s. Zusammenfassung in Kapitel II.C.9.3.), dass das Ergebnis nicht über den gesamten Bereich der Ansprüche 1 und 2 erzielbar war. Die einzige Argumentationslinie des Einsprechenden basierte dabei auf einer statistischen Analyse der Ergebnisse aus der Abbildung der vom Patentinhaber eingereichten Druckschrift D15. Die Kammer merkte an, dass die statistische Signifikanz nicht das einzige Kriterium sei und sein dürfe, wenn es um die Berücksichtigung experimenteller Ergebnisse oder gar ihre Nichtberücksichtigung geht (nach Analyse der Feststellungen von T 884/06 und T 299/18). Ihr zufolge muss ein Patent nicht denselben Standards genügen wie eine wissenschaftliche Veröffentlichung mit Peer-Review. Mit Verweis auf T 2036/21 erklärte die Kammer zudem, dass das Entscheidungsorgan im Lichte seiner eigenen Überzeugung unter Berücksichtigung der im Verfahren verfügbaren Beweismittel entscheidet. In Verfahren vor dem EPA sind eine statistische Analyse der Ergebnisse und die Bestimmung eines spezifischen Konfidenzintervalls demnach – anders als meist in der biomedizinischen Forschung und bei der Erteilung von Marktzulassungen für Medizinprodukte durch Gesundheitsbehörden – keine Voraussetzung, um ein bestimmtes Beweismittel als überzeugend zu bewerten. Statistische Signifikanz quantifiziert die Wahrscheinlichkeit, dass eine beobachtete Diskrepanz in Daten kein Zufallsprodukt ist. Daher beweist ein behaupteter Mangel an statistischer Signifikanz an sich nicht die Hypothese, dass kein Unterschied zwischen bestimmten Gruppen vorliege oder eine Behandlung keine Wirkung erziele (detailliert dargelegt im Dokument D21 ("Retire statistical significance", Nature, 567, 2019), das sich mit der Relevanz statistischer Signifikanz bei der Beschreibung wesentlicher Wirkungen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschäftigt).
Im Fall T 956/21 bestritt der Beschwerdeführer (Patentinhaber) an mehreren Stellen die Beweiskraft der in D7 beschriebenen Experimente aufgrund der Bedingungen, unter denen Letztere erfolgt waren. Die Kammer teilte diese Auffassung nicht und befand, dass die geringfügigen Abweichungen von den sehr spezifischen Beispielen des Streitpatents hinsichtlich optionaler, nichtwesentlicher Merkmale nicht als eine kritische Abweichung angesehen werden konnten, durch die die Experimente aus D7 irrelevant oder unglaubhaft würden. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers sei es nicht erforderlich, die Beispiele des Patents bis ins kleinste Detail nachzuarbeiten, um die ausreichende Offenbarung infrage zu stellen (T 226/85, T 2242/16). Darüber hinaus stellte die Kammer fest, dass das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung impliziert, dass die Fachperson die Erfindung über den gesamten beanspruchten Bereich und nicht nur einer sehr spezifischen und detaillierten Ausführungsform folgend nacharbeiten können muss. Daher gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass zwar die Experimente aus D7 leicht von dem sehr spezifischen Beispiel des Streitpatents abwichen, sie jedoch nichtsdestoweniger die Lehre des Patents widerspiegelten und eine geeignete Nacharbeitung der Lehre des Patents darstellten, die bei der Beurteilung der Ausführbarkeit zu berücksichtigen war.