4.3.4 Öffentliche Zugänglichkeit von Dokumenten des Stands der Technik
Zur Beurteilung der öffentlichen Zugänglichkeit von Werbeprospekten wenden einige Kammern den weniger strengen Maßstab des "Abwägens der Wahrscheinlichkeit" an (s. z. B. T 743/89 (Broschüre des Patentinhabers) und T 804/05 (Prospekt eines Dritten)). Bezüglich eines Werbeprospekts für ein vom Einsprechenden hergestelltes Erzeugnis erachtete es die Kammer in der Entscheidung T 1748/10 für zweckmäßiger, die öffentliche Zugänglichkeit unter Bezugnahme auf T 743/89 und T 1140/09 durch "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" und nicht, wie vom Patentinhaber vorgebracht, nach dem Maßstab "zweifelsfrei" zu beurteilen, weil der Prospekt vom Einsprechenden stammte. D1 stammte zwar vom Einsprechenden, wurde aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Somit waren beide Beteiligten in der Lage, Beweismittel hinsichtlich der Verfügbarkeit des Dokuments D1 beizubringen. In T 1140/09 vertrat die Kammer die Auffassung, dass das "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" der geeignete Beweismaßstab für die Frage der öffentlichen Zugänglichkeit des Dokuments E3 sei, eines Prospekts, der vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) an Besucher der CeBIT verteilt und der Öffentlichkeit damit vor dem Prioritätstag zugänglich gemacht worden war. In diesem besonderen Fall waren die vom Beschwerdeführer angebotenen Beweise so überzeugend, dass sie auch dem vom Beschwerdegegner vorgeschlagenen strengeren Beweismaßstab genügten. Angesichts der Bedeutung von großen Fachmessen wie der CeBIT zur Anbahnung von Geschäften und des starken Interesses des Beschwerdeführers an einer möglichst weiten Verbreitung seines Prospekts sah die Kammer die öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments E3 als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen an.
In T 184/11 entschied die Kammer zuerst, ob es sich um einen Werbeprospekt oder um ein Produktdatenblatt handelte. Das Dokument enthielt keine detaillierten technischen Daten, sondern lediglich technische Informationen allgemeiner Natur. Mit detailliertem Bezug auf die Rechtsprechung bezüglich des Beweismaßes und bezüglich der öffentlichen Zugänglichkeit eines Werbeprospekts entschied die Kammer, dass es keinen Anhaltspunkt in der Begründung der angefochtenen Entscheidung dafür gab, dass die Einspruchsabteilung beim Abwägen der Wahrscheinlichkeit das ihr vorliegende Beweismaterial nicht kritisch und genau geprüft hat.
In der Entscheidung T 146/13 bestritt der Patentinhaber, dass zweifelsfrei nachgewiesen worden sei, dass die Werbebroschüre vor dem Prioritätstag des Streitpatents verbreitet worden war. Unter Verweis auf T 743/89 und T 804/05 befand die Kammer, dass es sich nach der ständigen Rechtsprechung zur Zugehörigkeit von Werbebroschüren zum Stand der Technik um einen ausreichend langen Zeitraum (zwei Jahre zwischen dem Druck im Jahr 2002 und dem Prioritätstag im Jahr 2004) handelte, sodass die Broschüre tatsächlich der Öffentlichkeit zugänglich war. Da die Kammer überzeugt war, dass eine Werbebroschüre üblicherweise primär der Verteilung an die interessierten Kreise dient, um die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden zu wecken, befand sie, dass die Werbebroschüre zum Stand der Technik im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ gehörte. Vergleiche mit T 738/04, Nr. 4.1.1 der Gründe.
In T 743/89 wurde nachgewiesen, dass ein die Erfindung offenbarender Prospekt sieben Monate vor dem Prioritätsdatum gedruckt worden war. Ungewiss war dagegen, wann er verteilt wurde. Durch Abwägen der Wahrscheinlichkeit gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass der Prospekt vor dem Prioritätstag des Streitpatents öffentlich zugänglich gewesen war und somit zum Stand der Technik gehörte. Obwohl sich das Datum der Verteilung 10 Jahre später nicht mehr feststellen ließ, war es auf jeden Fall vernünftig, davon auszugehen, dass die Verteilung noch innerhalb der sieben Monate und damit lange vor dem Prioritätstag des Streitpatents erfolgt war. Die gegenteilige Annahme, der Prospekt sei vertraulich behandelt worden, war wenig plausibel, da es im Interesse des Patentinhabers lag, für eine weite Verbreitung des Prospekts zu sorgen, um möglichst viele potenzielle Kunden über die neuesten Entwicklungen seiner Firma auf einem von starkem Wettbewerb geprägten Gebiet zu informieren. Für diese Annahme war daher der Patentinhaber beweispflichtig, der als Urheber der Broschüre im Übrigen zugleich im Besitz der notwendigen Informationen sein musste.
In T 2451/13 wandte die Beschwerdekammer den Grundsatz des "lückenlosen" Nachweises ("up to the hilt") so an, dass das Veröffentlichungsdatum der Broschüre "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" nachgewiesen werden musste (in dieser Sache waren alle wesentlichen Beweismittel in der Sphäre des Einsprechenden zu finden). Siehe auch T 1262/15 (Bedienungsanleitung).
Die Kammer in T 1710/12 bestätigte, dass der strenge Standard des zweifelsfreien Nachweises in der Regel bei einer Vorbenutzung angewandt wird. Im vorliegenden Fall war der Katalog E1 aber nicht zur Stützung einer angeblichen Vorbenutzung vorgelegt worden, sondern als eigenständiges schriftliches Beweismittel. Daher hielt es die Kammer für zweckmäßig, die öffentliche Zugänglichkeit von E1 durch Abwägen der Wahrscheinlichkeit zu beurteilen. Das Dokument E1 (von einem nicht am Verfahren beteiligten Unternehmen veröffentlichter Katalog) wurde dem Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ zugerechnet.
- T 0733/23
In T 733/23 the opposition division had concluded that there had been insufficient evidence to prove that the data sheets D2, D4, and D7 to D9 had been made available to the public before the filing date. Rather than concluding that, as a result of the data sheets not being considered state of the art under Art. 54 EPC, the subject-matter of the claims was novel, the opposition division decided not to admit them into the opposition proceedings. The board concluded that not admitting these data sheets, filed in due time, constituted a substantial procedural violation (see details as from point 4 of the Reasons including discussion on D19, an affidavit).
The board, in support of its decision, presented some key considerations on public availability of advertising brochures and data sheets, as well as the standard of proof to be applied. The board stated that when a document was clearly intended to be publicly distributed, as was the case with advertising or commercial brochures, the absence of a specific publication or distribution date, a situation quite common in this type of document, was not in itself sufficient to conclude that the document did not constitute prior art. As with any other type of evidence, the key question was not whether the exact date of publication could be determined, but whether it could be established that the relevant subject-matter was made available to the public before the priority or filing date.
Data sheets often represent an intermediate case between internal documents and advertising brochures. Where no publication date is present, the board held it should first be assessed whether the document was intended for public distribution. If so, additional sources must be examined to establish whether the relevant subject-matter was publicly accessible before the patent’s filing or priority date. Here, the opposition division had failed to provide a reasoned decision on public availability, giving no weight to the dates printed on their front pages.
As to the standard of proof, the present board concurred with the position in T 1138/20 that there is only one standard of proof: the deciding body must be convinced, based on the underlying circumstances.
According to the present board, this did not imply that all cases were to be treated identically, as in practice the degree of proof required to establish credibility (i.e. to persuade the board) might vary depending on the specific circumstances. In other words, it was not the standard of proof that adjusted with the circumstances, but rather the credibility of the arguments made by the different parties. For example, when the evidence was exclusively controlled by one party, any gaps in the relevant information might significantly undermine that party's credibility. Conversely, when the information was equally accessible to both parties but only one party submitted evidence, merely raising doubts might not be sufficient to challenge the credibility.
In the present case, the conclusions of the opposition division suggested that the standard of proof "up-to-the-hilt" was applied to determine the public availability of the data sheets. Even if the board agreed that different standards should be applied, this would not be justified in the case in hand, as the relevant information to prove the public availability of the data sheets was not within the exclusive sphere of the appellant (opponent). In this instance, the relevant information would more likely be within the sphere of the patentee. Therefore, there was no basis for applying the strict standard of "up-to-the-hilt" or for questioning the credibility of the appellant (opponent) solely on the grounds that some information was missing.
The patentee argued that, when in doubt, the patent should be upheld. The board disagreed. Fact-finding boiled down to a binary exercise: either something had been proven, or it had not. In addition, there was no presumption of patent validity in proceedings meant to re-assess the validity of this very patent.