4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
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4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
Obwohl sich in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Konzepte zum Beweismaßstab herausgebildet haben, ist diesen gemeinsam, dass die Beurteilung unter Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung erfolgen muss (wie einmal mehr in G 2/21, Nr. 46 der Gründe bestätigt).
In der Sache T 1138/20, die sich hauptsächlich mit Beweisfragen befasste, wurde im ersten Orientierungssatz eindeutig klargestellt, dass es in Verfahren vor dem EPA nur einen Maßstab der Beweiswürdigung gibt, nämlich dass das Entscheidungsorgan unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der ihm vorliegenden einschlägigen Beweismittel davon überzeugt ist, dass eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat. (Vergleiche T 1138/20 Nr. 1.2.3 der Gründe - Begründungspflicht).
In G 2/21 (ABl. 2023, A85) stellte die Große Beschwerdekammer fest: "Der einzig entscheidende Faktor ist, ob der Richter persönlich vom Wahrheitsgehalt der Tatsachenbehauptung überzeugt ist, d. h. für wie glaubhaft er ein Beweismittel einstuft. Dafür muss er alle Argumente für und gegen eine Tatsachenbehauptung im Verhältnis zum geforderten Beweismaß abwägen. (…) Die Gründe, die den Richter von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer angefochtenen Tatsachenbehauptung überzeugt haben, sind in der Entscheidung darzulegen" (s. Nr. 31 der Gründe, sowie, wie oben genannt, Nr. 46 der Gründe). Die Entscheidung T 832/22 analysiert unter anderem G 1/12, G 2/21 (Nrn. 30–31 der Gründe), T 1138/20, die Verbindung zwischen dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung, der Überzeugung des Entscheidungsorgans und dem Beweismaß.
Wird ein Maßstab bei der Beweiswürdigung angewendet, so ist dies im EPA üblicherweise das Abwägen der Wahrscheinlichkeit. Ausnahmsweise – im Wesentlichen im Einspruchsverfahren, wo nur der Einsprechende Zugang zu Informationen (Beweisen) hat, z. B. zu einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung – verschiebt sich der Beweismaßstab vom Abwägen der Wahrscheinlichkeit zum zweifelsfreien Nachweis ("mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit").
In T 1138/20 befand die Kammer, dass beispielsweise die Tatsache, dass nur der Einsprechende Zugang zu den relevanten Beweismitteln hatte, vom Entscheidungsorgan bei seiner Beurteilung, welches Gewicht und welche Bedeutung diesen Beweismitteln beizumessen ist, gebührend berücksichtigt werden muss – was nicht damit gleichzusetzen ist, dass ein anderer Beweismaßstab anzuwenden wäre.
In T 778/21 merkte die Kammer zunächst an, dass die Vorbenutzung unter Wissen und Kontrolle des Einsprechenden erfolgt war und die Benutzung einer bestimmten Maschine betraf. Selbst wenn der Maschinentyp öffentlich zum Verkauf stand, betraf die vorliegend behauptete Vorbenutzung diese eine bestimmte Maschine, zu die der Patentinhaber keinen Zugang gehabt hatte. In solchen Fällen ist es der Kammer zufolge ständige Rechtsprechung, dass der erforderliche Beweismaßstab entweder die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" ist (T 97/94) oder dass das Entscheidungsorgan mit einem hinreichenden Grad an Sicherheit zu überzeugen ist (T 1138/20, T 545/08).
Zu erwähnen sind auch Entscheidungen jüngeren Datums, die lange Ausführungen zum Beweismaßstab enthalten und die bisherige Rechtsprechung aufgreifen: T 2451/13 zur Bedeutung von "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" und T 545/08 zur Bedeutung des "Abwägens der Wahrscheinlichkeit" in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, das dort im allgemeinen Rahmen des Beweisrechts beleuchtet wird und das der Kammer zufolge nicht auf eine Wahrscheinlichkeit von 51 % reduziert werden kann.
In der oben bereits erwähnten Entscheidung T 1138/20 ging die Kammer sehr ausführlich auf den vor dem EPA anzuwendenden Beweismaßstab ein und verwies auf Entscheidungen (T 545/08, T 768/20, T 660/16, T 1634/17), in denen eine ausdrückliche Behandlung der Frage des anzuwendenden Beweismaßstabs nicht für notwendig erachtet, sondern im Gegenteil betont wurde, dass die Überzeugung der Kammer maßgeblich ist. Die Kammer befand, dass eine Unterscheidung zwischen den vorgenannten Maßstäben weder notwendig noch durch die Rechtsprechung gerechtfertigt ist.
In der Tat wurde in mehreren Entscheidungen für den jeweiligen Einzelfall keine Notwendigkeit gesehen, ausdrücklich auf den anzuwendenden Beweismaßstab einzugehen (vgl. T 2466/13 zur fehlenden Notwendigkeit in diesem Fall, die Frage des erforderlichen Beweismaßes zu klären, sowie T 768/20 und T 660/16 mit Verweis auf T 545/08, Nrn. 8 und 11 der Gründe). In T 464/20 hatte der Beschwerdeführer den von der ersten Instanz bei der Beurteilung der behaupteten Vorbenutzung angewandten Beweismaßstab (Abwägung der Wahrscheinlichkeit) angefochten. Die Kammer stellte jedoch fest, dass die Einspruchsabteilung die Anwendung des Beweismaßes an ihre Überzeugung der Richtigkeit des behaupteten Sachverhalts geknüpft hatte. Die Kammer war daher von der Unrichtigkeit der Anwendung des Grundsatzes des Abwägens der Wahrscheinlichkeit nicht überzeugt (in Anlehnung an T 768/20), zumal die Einspruchsabteilung von der Richtigkeit des behaupteten Sachverhalts überzeugt war. Auch die Kammer in T 34/08 erklärte ihre Überzeugung ohne Bezugnahme auf einen bestimmten Beweismaßstab. In T 1634/17 (Nr. 19 der Gründe) sah die Kammer keine Notwendigkeit, Stellung zu nehmen; entscheidend in Bezug auf die Beweismittel, die der erstinstanzlichen Abteilung oder einer Kammer in einem konkreten Einzelfall vorliegen, ist, dass das Entscheidungsorgan davon überzeugt ist, ob eine bestimmte mündliche Offenbarung stattgefunden hat und eine bestimmte Information einem Hörerkreis mitgeteilt worden ist oder nicht.
Die Kammer in T 1311/21 folgte den Entscheidungen T 1634/17 und T 1138/20 und befand, dass die beiden Beweisstandards in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern – die "Abwägung der Wahrscheinlichkeit" und die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" – in einfach gelagerten Fällen durchaus als Maßstab herangezogen werden können. Diese binäre Herangehensweise an die Beweisführung könne sich jedoch als übermäßig formalistisch und vereinfacht erweisen. Wenn sich Beweismittel, deren öffentliche Zugänglichmachung vor dem Prioritätstag des Patents zur Diskussion stand, weder im Einflussbereich des Einsprechenden noch in neutralem Einflussbereich, zu dem beide Beteiligte Zugang hatten, befinden, ist kein Beweisstandard exklusiv anwendbar. Entscheidend ist vielmehr, dass das Entscheidungsorgan unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der ihm vorliegenden einschlägigen Beweismittel davon überzeugt ist, dass eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat.
Die Kammer in T 832/22 betonte unter Verweis auf die Rechtsprechung und den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (G 1/12; G 2/21, Nrn. 30–31 der Gründe), dass der Beweismaßstab sich auf die Art bzw. Maß persönlicher Überzeugung der Mitglieder des Entscheidungsorgans bezieht, die erforderlich ist, um eine behauptete Tatsache als tatsächlich vorgefallen anzusehen. Wenn als Beweismaßstab die sogenannte "Abwägung der Wahrscheinlichkeit" anzuwenden ist, gilt eine behauptete Tatsache als bewiesen, sobald die Mitglieder des Entscheidungsorgans davon überzeugt sind, dass es wahrscheinlicher als unwahrscheinlich ist, dass sie sich so zugetragen hat. Ist hingegen als Beweismaßstab die sogenannte "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" anzuwenden, ist ein größeres Maß an persönlicher Überzeugung der Mitglieder des Entscheidungsorgans erforderlich. Der Kammer zufolge ist es schwierig, den Unterschied zwischen dem erforderlichen Maß an Überzeugung zwischen den Maßstäben der "Abwägung der Wahrscheinlichkeit" und der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" zu quantifizieren. So könnte es sogar irreführend sein, diesen Unterschied in Form numerischer Grenzwerte, etwa mit einem bestimmten Prozentsatz für die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine behauptete Tatsache zugetragen hat, beziffern zu wollen. Der Standard der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" erfordert keine absolute Sicherheit; es ist ausreichend, wenn die (Mehrheit der) Mitglieder des Entscheidungsorgans keine begründeten Zweifel daran hegen, dass sich eine behauptete Tatsache zugetragen hat. Anders ausgedrückt, kann der Beweisstandard der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" erfüllt sein, selbst wenn Restzweifel bleiben, solange der Restzweifel nicht begründet ist. In jedem Fall kann der Kammer zufolge offengelassen werden, welches Beweismaß bei der Würdigung des betreffenden Beweismittels anzulegen ist, wenn der höhere der beiden streitigen Beweisstandards erfüllt ist.
T 1808/21 betraf die Frage, ob der Beschwerdeführer 1 das Gesetz umgangen und, wie behauptet, durch seine Rolle als "Strohmann" den geforderten Beweismaßstab für die öffentliche Zugänglichkeit von D5 gesenkt hatte. Die Kammer gelangte zu der Überzeugung, dass im vorliegenden Fall die Unterscheidung zwischen dem Maßstab der "Abwägung der Wahrscheinlichkeit" und dem Maßstab der "mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" nicht ausschlaggebend war. Für maßgeblich erachtete sie vielmehr in Anlehnung an T 768/20 und T 660/16, ob das Entscheidungsorgan angesichts aller vorliegenden Tatsachen letztlich davon überzeugt ist, dass das entscheidende, vom Beschwerdeführer 1 mit seinem Einspruch ordnungsgemäß vorgelegte Beweismittel tatsächlich öffentlich zugänglich war.
- T 0733/23
In T 733/23 the opposition division had concluded that there had been insufficient evidence to prove that the data sheets D2, D4, and D7 to D9 had been made available to the public before the filing date. Rather than concluding that, as a result of the data sheets not being considered state of the art under Art. 54 EPC, the subject-matter of the claims was novel, the opposition division decided not to admit them into the opposition proceedings. The board concluded that not admitting these data sheets, filed in due time, constituted a substantial procedural violation (see details as from point 4 of the Reasons including discussion on D19, an affidavit).
The board, in support of its decision, presented some key considerations on public availability of advertising brochures and data sheets, as well as the standard of proof to be applied. The board stated that when a document was clearly intended to be publicly distributed, as was the case with advertising or commercial brochures, the absence of a specific publication or distribution date, a situation quite common in this type of document, was not in itself sufficient to conclude that the document did not constitute prior art. As with any other type of evidence, the key question was not whether the exact date of publication could be determined, but whether it could be established that the relevant subject-matter was made available to the public before the priority or filing date.
Data sheets often represent an intermediate case between internal documents and advertising brochures. Where no publication date is present, the board held it should first be assessed whether the document was intended for public distribution. If so, additional sources must be examined to establish whether the relevant subject-matter was publicly accessible before the patent’s filing or priority date. Here, the opposition division had failed to provide a reasoned decision on public availability, giving no weight to the dates printed on their front pages.
As to the standard of proof, the present board concurred with the position in T 1138/20 that there is only one standard of proof: the deciding body must be convinced, based on the underlying circumstances.
According to the present board, this did not imply that all cases were to be treated identically, as in practice the degree of proof required to establish credibility (i.e. to persuade the board) might vary depending on the specific circumstances. In other words, it was not the standard of proof that adjusted with the circumstances, but rather the credibility of the arguments made by the different parties. For example, when the evidence was exclusively controlled by one party, any gaps in the relevant information might significantly undermine that party's credibility. Conversely, when the information was equally accessible to both parties but only one party submitted evidence, merely raising doubts might not be sufficient to challenge the credibility.
In the present case, the conclusions of the opposition division suggested that the standard of proof "up-to-the-hilt" was applied to determine the public availability of the data sheets. Even if the board agreed that different standards should be applied, this would not be justified in the case in hand, as the relevant information to prove the public availability of the data sheets was not within the exclusive sphere of the appellant (opponent). In this instance, the relevant information would more likely be within the sphere of the patentee. Therefore, there was no basis for applying the strict standard of "up-to-the-hilt" or for questioning the credibility of the appellant (opponent) solely on the grounds that some information was missing.
The patentee argued that, when in doubt, the patent should be upheld. The board disagreed. Fact-finding boiled down to a binary exercise: either something had been proven, or it had not. In addition, there was no presumption of patent validity in proceedings meant to re-assess the validity of this very patent.
- T 2463/22
In T 2463/22 the opposition division had held that the prior uses had not been proven beyond reasonable doubt (up to the hilt), in particular with regard to whether the products of the prior uses had actually been delivered. The parties before the board focused on which standard of proof had to be applied in view of G 2/21 and T 1138/20 and whether the applicable standard had been met. In the respondent-proprietor’s view, T 1138/20 was an isolated decision, not compatible with G 2/21.
On the required standard of proof, the present board observed that G 2/21 recognised that different concepts as to the standard of proof had been developed in the case law. According to T 1138/20 only one standard should be applied, namely "the deciding body must be convinced, taking into account the circumstances of the case and the relevant evidence before it, that the alleged fact occurred".
In the present board's view, under the principle of free evaluation of evidence, it was always decisive in the evaluation of evidence that the members of the deciding body were personally "convinced". Moreover, they had to always be convinced of whether, as stated in T 1138/20, "the alleged fact has occurred". The board stated this was true regardless of which standard of proof was applied. The standard of proof refers to the nature or degree of conviction that the members of the deciding body must have to be satisfied that an alleged fact occurred (see T 832/22).
According to the board, and with reference to a UK House of Lords decision, two important aspects had to be stressed. Firstly, that the standard of proof is related to the required degree of conviction of the members of the deciding body. Secondly, that it is not related to what is evaluated by the deciding body. Hence, also when a lower standard of proof such as the balance of probabilities is applied, the deciding body must assess whether or not the alleged fact indeed occurred. In other words, also when such a standard of proof is applied, the question is not whether the alleged fact might have occurred with some probability. The board considered G 2/21 (points 31 and 45 of the Reasons) consistent with this understanding.
The more specific question as to whether there was only a single standard of proof or more than one could be left unanswered according to the board. The board held that if the deciding body was convinced beyond reasonable doubt that an alleged fact had occurred, there was no need to decide how many standards of proof there were and which one was applicable (see T 832/22).
The board then gave some consideration to the assessment of factual allegations using the beyond reasonable doubt standard of proof. The European Patent Organisation being an independent international organisation, the board stated the standard had an autonomous meaning within this autonomous legal order. Secondly the board agreed with T 832/22 that it seemed expedient to focus on the term "reasonable".
The board then considered the prior uses, focusing especially on prior use relating to the sale of product 5 (sample of a powder mix from a specific lot number), the content of the sample and whether it was available to the public. In view of all the information (including invoices, affidavit, emails, test report, excerpt from database), which also involved evidence provided by a third party (the buyer), the board was convinced beyond reasonable doubt that product 5, with a specific lot number, was sold prior to the effective date of the patent. Since it had also been shown that product 5 disclosed all features of claim 1, lack of novelty prejudiced the maintenance of the patent as granted. Concerning the third auxiliary request, product 5 was suitable for use as closest prior art. The board referred to the reluctance sometimes in the case law to treat an object of a prior use as the closest prior art. Often, there was neither information on what the object did and what properties it had in the technical environment in which it was applied nor on how the process for its manufacture could be modified. These considerations indeed spoke against regarding a prior use as a suitable starting point for assessing inventive step. In the case in hand however, the skilled person was faced with a different situation. The board concluded that the third auxiliary request did not involve an inventive step. The decision of the opposition division was set aside and the patent revoked.